Kairos gepackt!

Die alten Griechen kannten zwei Götter: Chronos für die verfließende Zeit und Kairos (καιρός) für den "rechten Zeitpunkt". Daraus leitete sich dann auch das Gefühl für das "rechte Maß" ab, diesen goldenen Mittelweg, der als Ideal galt. Kunst und Kreativität haben extrem viel mit Kairos zu tun, mit der Fähigkeit, die richtige Gelegenheit zur richtigen Zeit beim Schopfe zu packen. Und wie das mit flüchtigen Göttern so ist, die vielbeschäftigt zwischen Olymp und Menschenwelten herumhuschen: Oft sieht man dem daraus erwachsenden Glücksfall nachher nicht an, wie viel Arbeit und Geduld wirklich dahintersteckte, um so einen nackten Kerl beim Schopf packen zu können.

Francesco Salviati: Kairos (auch "Engel der Justitia" genannt), 16. Jhdt. (Wikipedia, public domain). Hier wird Kairos als derjenige dargestellt, der sozusagen Justitias Waage kalibriert. Oft trägt er geflügelte Schuhe und immer einen kahlen Schädel mit einem langen Haarstrang vorn. Daher kommt übrigens das Sprichwort "die Gelegenheit beim Schopf packen".

Oft muss man einfach sehr lange warten können und darauf vertrauen, dass einen das eigenen Gefühl nicht trügt, mögen andere noch so sehr unken. Nicht selten wird man zum Hasardeur und spielt mit Situationen, weil einem vielleicht anderes gar nicht übrig bleibt. Kairos ist leider ein Meister der Verkleidungskünste und offenbar kann er sich auch unsichtbar machen - ihn zu erkennen, rechtzeitig zu erkennen, ist nicht leicht.

Bei mir ist heute so ein Tag, wo Kairos und Heureka miteinander bechern. Alles läuft völlig anders, als ich es geplant hätte, Überraschungen passieren, Katastrophen wie die Zahngeschichte ziehen Tröstliches nach sich. Und so kommt es, dass ich erst einmal etwas völlig Verqueres mache, was scheinbar gegen jede Vernunft spricht: Mitten im Weihnachtsgeschäft pausiere ich bis Ende des Jahres mit meinem Etsyshop. Da ich inzwischen zu 95% Maßanfertigungen mache, bin ich schlicht ausgebucht (aber trotzdem ansprechbar über die üblichen Kanäle).

Und dann hat sich ein anderer Glücksfall ergeben, den ich dringend brauchte, um Heizungsmonteur und Zahnarzt zu bezahlen - ein Job als "Feuerwehr", den ich auf Zeit einschiebe. Und einer, auf den ich selbst riesig gespannt bin, denn es geht um eine neue App über Wildbienen, für die ich Daten digital aufbereite. Ich werde also selbst wieder jede Menge Neues lernen über eins meiner Lieblingsthemen, Insekten! So schließen sich Kreise.

Gleichzeitig hat mich mein Projekt zu den "Borderlands" zwischen Naturparkidyll und Erdölbrachen gepackt, richtig gepackt wie vor Jahren schon einmal. Und diesmal weiß ich sehr genau, dass der Kairos, der richtige Zeitpunkt dafür, gekommen ist! Das merke ich nicht nur am Feedback zum Blog. Ich habe durch Zufall erfahren, dass das betreffende französische Erdölmuseum in diesem Jahr die Genehmigung bekam, in den nächsten Jahren nicht nur endlich das Museum zu vergrößern, sondern auf einem der "lost places" eine "Cité des Energies" zu errichten (Fernsehbeitrag auf Elsässisch). Als ich sah, dass daran Leute mitarbeiten, die ich aus der ehrenamtlichen Arbeit im anderen Museum kenne, habe ich erst einmal gejuchzt.

Es fühlt sich alles völlig stimmig an, auch in jenem Projekt will man das Thema Erdöl und Erdölgeschichte aus modernerem Blickwinkel betrachten - und mit nachhaltigen Energien verknüpfen wie Geothermie oder Biogas. Ein Ökohaus steht schon da und soll zum Empfangszentrum werden - und natürlich wird das alles wegen der Finanzen nun von höherer Stelle mitgetragen, u.a. dem Naturpark. Wenn ich über die Planungen lese, rufe ich zwischendurch laut "yeah", so sehr trifft sich das alles mit meinem eigenen neuen Blickpunkt in Sachen Anthropozän und Klimakrise. Manchmal muss man nur einfach arg lang warten können, wenn man seiner Zeit voraus war.

Den Stinkefinger habe ich in Gedanken auch gezeigt - und zwar in Richtung eines sehr renommierten deutschen Sachbuchverlags. Als damals meine Agentur das Ölprojekt anbot, wollte der Programmchef einen aktuellen Aufhänger haben, warum Erdöl jetzt das Thema sein könnte. Immerhin hat er sich da mehr Arbeit gemacht als die anderen, wo Lektorinnen wortwörtlich meinten: "Ach Erdöl ist jetzt so teuer geworden, das fühlt sich nicht gut an, das macht nur schlechte Emotionen, da wollen die Leute nicht noch drüber lesen." Dabei sprach man schon zu jener Zeit vom Oil Peak und der Notwendigkeit, nachhaltigere Energien finden zu müssen!

Ich war während der Anfrage gerade daran, ein TV-Team zu beraten, das eine Doku über Pechelbronn drehte und sich ebenfalls für die Gegenwart interessierte. Damit konnten wir aufwarten: Demnächst sollte der Präsident (es wurde dann, glaube ich, sein Minister) kommen, um eine der modernsten Geothermie-Forschungsstätten der Welt einzuweihen, ein internationales Projekt, dem man seine Bedeutung nicht ansieht, denn es klebt unauffällig an einer kleinen Landstraße außerhalb von Soultz-sous-Forets. Die Forschungen sind heute abgeschlossen, man fördert die Erdwärme aus bis zu 5000 m Tiefe. Damals war das wissenschaftlich wie geologisch sozusagen der heißeste Sch...ei... und es beruht ja auf den Erfindungen der Gebrüder Schlumberger, die ich dann im Elsassbuch beschrieben habe. Das TV-Team war begeistert und auch bei der Eröffnung dabei.

Der Herr Programmchef jedoch rümpfte nur die Nase. Erdöl sei ja schon ein schräges Thema, aber Geothermie ... das interessiere doch keinen. Was, Tiefengeothermie ... ob ich denn wenigstens einen Doktor in so einem Zeug hätte, dass ich wüsste, wovon ich spräche. Er hat sich gebildeter ausgedrückt, was seine Aussagen nicht heller machte.
War übrigens der gleiche Mann, der mein Rosenbuch nicht verlegen wollte, weil ich für eine Frau viel zu intelligent und nicht sanft genug schriebe. Aber das schnappte sich ja ein anderer Verlag.

Mit tiefer Befriedigung, soviel herrliche Schadenfreude muss sein, habe ich dem also jetzt in Gedanken den Stinkefinger gezeigt. Was da in der Cité des Energies auch in Zusammenarbeit mit dem Geothermieprojekt aufgebaut werden soll, wird ein richtig großes Ding. Und wen sehe ich als einen der Partner des Museums? Schlumberger. Ganz genau die. Nicht mehr die Klitsche der beiden Gebrüder, sondern eine der größten Firmen der Welt, die mir vor Jahren schon jedes historische Fotomaterial beschaffen wollten. Stinkefinger, jawollja! Oder um es gesitteter auszudrücken: Kairos klopft laut an die Scheibe. Ihn jetzt nicht hereinzulassen, wäre sträflich. Das Thema IST heiß.

Kurzum, ich bin auf dem richtigen Weg, habe bis Weihnachten fürchterlich viel zu arbeiten und bin glücklich, weil sich so viele Kreise schließen, weil auch das Abwegigste nicht umsonst war und ich jetzt endlich erwachsen genug bin, um nicht mehr auf Besserwisser zu hören.

Ich bin mir jetzt schon sicher: Auch die Pause im Atelier wird mir gut tun, nach all den neuen Experimenten wird sich viel setzen. Und dann melden sich auch da neue Entwicklungen, das spüre ich im kleinen Finger! Den Kairos habe ich nämlich erst mal für heute an seiner Haarsträhne festgebunden. Vielleicht zeigt er mir Wildbienen aus Papier?

Fotos aus dem Erdölland gibt es übrigens immer mal wieder auf Instagram.

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