Darf ich mich bitte freuen?!
Gestern hat sich kurz mein Kreislauf ins Bett verabschiedet. Als der Hund und ich vom Waldgang heimkamen, konnten wir am Hügel die Wettergrenze spüren wie eine Linie. Ich hatte mich nach einer Stunde endlich warmgelaufen und mich an den schneidenden und eisigen Wind gewöhnt, der mir in die Nase zwickte. Keine Frage, der Himmel war strahlend blau, aber diese "Brise" war so steif, dass sie einem ins Gebein zu fahren schien. Auf halber Höhe des Hügels dann dieses eigenartige Gefühl: als würde ich in einen geheizten Swimmingpool steigen. Der Eiswind war plötzlich verstummt, die Sonne lachte. Und ich lachte auch. Schlief mir zwei Stündchen lang den Kreislauf wieder hoch und grinste die Sonne an, weil ich ihre Energie so wohltuend auf meiner Haut spürte. Halt!!! Stop! Alles rückspulen auf Anfang. - Ich darf mich ja gar nicht freuen. Freuen ist verboten. Jedenfalls heutzutage.
Hat mir kürzlich eine gesagt, die ich Sandrine nennen will. Sandrine ist eine engagierte junge Frau, die sich aktiv im Klimaschutz engagiert und Zero-Waste-Konzepte ausprobiert. Im Garten beherbergt sie drei Bienenstöcke, die ein Imker dort absetzt, und auf Facebook teilt sie sämtliche Katastrophenmeldungen zum Klimawandel, die sie finden kann. Das sind dann täglich schon mal fünf Stück und mehr. Und weil ich heute grinse und recht leicht bekleidet mit dem Hund in die Natur laufen werde, schmollt Sandrine mit mir. Ich sei zu leichtfertig, nicht empathisch genug, würde mir einen schönen Lenz auf künftigen Leichen ... Halt!!! Stop! Alles rückspulen auf Anfang. Nicht so, Sandrine!
Nicht, dass es Missverständnisse gibt - das Thema ist ein sensibles und im Netz wird dazu sofort nur polarisiert anstatt zugehört. Darum muss ich erst einmal deutlich feststellen: Sandrine und ich sind uns eigentlich sehr ähnlich. Wir wissen beide, dass wir uns bereits mitten im Klimawandel befinden, mit all seinen Folgen und Herausforderungen.
Zugegeben, ich laufe selten bei Demos mit, weil ich ein Problem mit aufgeheizten Menschenmassen habe. Dafür habe ich 2018 ganze 6 kg Restmüll gehabt - im gesamten Jahr. Ich würde gern Bienen züchten, wenn ich den Platz hätte, und ich lese die gleichen wissenschaftlichen Artikel über den Klimawandel wie Sandrine. Vielleicht sogar ein paar mehr. Ich teile sie nur nicht alle. Ich wähle aus, weil ich denke, wenn ich Menschen mit immer den gleichen Inhalten bombardiere, entstehen Überdruss und Gewöhnung. Damit erreiche ich gar nichts.
Da unterscheide ich mich also von Sandrine. Trotzdem blutet mir das Herz im Wald, wenn ich die Trockenschäden vom vergangenen Jahr sehe und wie darum im Winter die Schädlinge und Pilze in den geschwächten Bäumen gewütetet haben. Ich sehe an jedem einzelnen Baum, ob er weniger und schwächer Knospen gebildet hat - und welche aufgehen werden, wenn der Frühling dann wirklich kommt. Ich weiß um die im Elsass nicht genügend aufgefüllten Grundwasserspeicher, um den viel zu trockenen Winter, der sich doch für die meisten feucht anfühlte. Und ich dürste genauso nach dem Regen, der angesagt ist, wie der Winterroggen, der viel zu klein ist, viel zu viele bereits vertrocknende Blättchen hat. Ich bin Realistin genug, um zu erkennen, dass wir längst mittendrin in Umwälzungen sind, die für viele Lebensbereiche katastrophal sein können.
Trotzdem freue ich mich. Juble. Tanze und raufe mit dem Hund. Der explodiert nämlich auch fast vor Lebensfreude. Früh morgens verlässt er mich, um draußen auf der Sonnenbank zu liegen und sich die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen.
Sein Ritual hilft ihm, den Winterpelz zu einer Zeit abzuwerfen, wo Vögel mit Frühlingsgefühlen nach den Haaren gieren. Kein Nest im Umkreis, das nicht irgendwie dank Bilbo weich gepolstert ist. Selbst die Türkentaube oben in Nachbars Baum gurrt und lugt neugierig auf ihn herunter. Sie, die so einsam war im Winter, hat offenbar jemanden gefunden - es gurrt im Duo.
Im Wald tönt und riecht es überwältigend nach einem Fest aller Wesen, nach einer Vorfreude auf den Frühling, einem Feiern des Vorfrühlings, nach Wachsen und Vermehren. Die ersten winzigen, grünen Blättchen schieben sich vorwitzig durchs tote Laub, die Frischlinge sind schon tüchtig gewachsen. Tieren und Pflanzen ist es egal, was ein menschengemachter Kalender sagt, sie reagieren auf Lichtverhältnisse und Temperaturen. Kommt im März noch einmal Schnee, ist das bitter, aber auch das ist Natur: das Vergehen und Sterben. Vögel brüten danach noch einmal, Pflanzen treiben nach. Tiere leben im Hier und Jetzt. Außer den Schatten- und Nachtgestalten dürsten sie nach Sonne. Die neugeborenen Ziegen unten auf der Wiese liegen im Knäuel direkt an der Holzwand des Stalls, um jedes Fitzelchen Wärme auszunutzen, das die Vorfrühlingssonne spenden kann. Dazwischen vollführen sie Bocksprünge, spielen mit sichtlichem Spaß.
Aber Sandrine ist böse mit mir. Sie sagt, ich dürfe mich nicht freuen. Weil der Mensch einen Verstand habe und weil es heutzutage, mit all diesen Bedrohungen, unmoralisch sei. Weil Menschen wie ich ein Hohn seien all denjenigen gegenüber, die ein Bewusstsein entwickelt hätten.
Mein Bewusstsein entwickelt sich bei solchen Worten nicht, es schweift ab. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als wir mit dem Fasching den Winter austreiben wollten, nach Sonnenlicht dürstend. Was für eine Lust war das, wenn die Erwachsenen um Mitternacht zum Aschermittwoch den Fasching als Strohpuppe anzündeten und in den Fluss warfen! Der archaische Fruchtbarkeitszauber, der die Nacht erhellte und das Wasser fürs Wachstum und genügend Regen segnen sollte, wirkte auch im 20. Jahrhundert. Selbst die Pfarrer machten mit. Es gab Jahre, wo der allzu frühe Fasching noch eine lange Warterei nach sich zog, und andere, wo der Frühling der Strohpuppe bereits eine Nase drehte. Die Osterriten mit den Weidekätzchen funktionierten dagegen nur in Ostpolen - in Frankreich mussten wir sie lange vorher trocknen, um an Ostern noch welche zu haben.
Vollsaftig und vollmundig - ohne es ellenlang zu belegen - möchte ich behaupten, dass es eins der archaischsten Gefühle von Menschen ist, das sich verstärkende Licht und die Wärme nach einer dunkleren Phase zu feiern. Auch wenn der Mensch keine Fotosynthese betreibt, ist er nicht so wirklich für Kälte gemacht. Während der Eiszeiten rotteten sich kleine, überlebende Stämme in Höhlen zusammen, zogen mit dem Rand der Gletscher weiter. Den ersten enormen Zivilisationsschub gab es mit der Entdeckung des Feuers, das man nicht umsonst als vom Himmel gefallen verehrte. Die ersten Entdecker beobachteten wahrscheinlich, wie ein Blitz in einen Baum fuhr und ihn sonnenhell lodern ließ. Unsere Zellen brauchen Licht, rein biologisch gesehen. Menschen, die am Polarkreis leben, wissen das.
Ich lebe in einer absolut bäuerlichen Gegend. Obwohl der Kalender in immerwährende Jahreskreisfeste eingeteilt war, standen die wirklichen Übergangsrituale nicht darin. Es sind Naturerscheinungen, nicht feste Zeiten, die den Bauern zeigten, wann zu säen und zu ernten war. Diejenigen, die sich sklavisch an den Kalender halten, sind meist auch diejenigen, bei denen nichts so recht wachsen will.
Hasen- oder Kaninchenwolle an Grashalmen auf der Wiese zu finden, ist so ein früher Vorfrühlingsbote. Jäger sagen Rammelwolle dazu, die Büschel verlieren die Männchen, wenn sie sich um ein paarungsbereites Weibchen streiten. Ein anderes, typisch französisches Ritual habe ich früher im Wettstreit mit meinen Huskies gemacht. Wenn die Tage noch im Winter länger und sonniger wurden, begannen sie systematisch mit dem Ausbuddeln von Löwenzahnwurzeln, die sie als Frühjahrskur fraßen. Ob der Mensch sich das mal von den Wölfen abgeschaut hat? Jedenfalls gab es früher einen Wettstreit auf den Dörfern, wer zuerst im Jahr frischen Löwenzahn stechen konnte. Sobald es für einen Salat reichte, lud man dazu Freunde ein, schnippelte frische Zwiebelchen und Knoblauch dazu, ließ Speck aus und röstete Croutons. Heute kaufen die Leute gebleichten, überlangen Löwenzahn aus dem Treibhaus und manche fragen sich dämlich, was da so gelb und "störend" im Rasen blüht.
In meinen alten Kalendern sind weitere Feiertage vermerkt: "Ameisentag" - das ist der erste Sonntag im Jahr, an dem plötzlich gefühlt Unmassen von Menschen auf dem Feldsträßchen spazierengehen, die man seit Monaten nicht gesehen hat. Wie Ameisen krabbeln sie aus ihrem Bau. Am Ameisentag erklingen plötzlich Kinderlachen und Hundegebell; Gequatsche und Quieken liegen in der Luft. Es gibt auch "Im Märzen der Bauer": wie er nicht die Rösslein, aber den Trecker einspannt. Schlagartig wird es irre laut auf dem Land, aus allen Richtungen kommen sie gescheppert, gebrummt, getuckert und arbeiten manchmal sogar die Nacht durch. Erst mit der Maismonokultur kommen sie viel, viel später, wenn man schon schier verzweifelt, wie lange der Boden brach liegt und leer. Früher, als sie noch Sonnenblumen und Korn anbauten, waren sie wie die Bienen. Sie arbeiteten, wenn es warm genug war, und legten dann auch mal eine Zwangspause ein, wenn der Schnee sich wieder meldete.
Ich frage Sandrine, ob sie bemerkt hat, dass bald der erste Löwenzahn gestochen werden könne, zumindest an geschützten Südhanglagen. Warum sie das tun solle, fragt sie mich. Als ich ihr meinen selbstgemachten Löwenzahnlikör zeige, der aus Blüten entsteht, verzieht sie das Gesicht. Sauferei sei nicht ihr Ding, meint sie moralinsauer. Ich erkläre ihr, dass man den kostbaren Likör teelöffelweise nimmt, als Medizin, zur Frühjahrskur als Durchputzer, zur Anregung des Stoffwechsels und für alles Mögliche in Sachen Innereien. Aber der würde ja auch immer früher blühen, das könne doch nicht gesund sein, sagt sie! Was, um Himmels Willen soll daran nicht gesund sein - das ist die Natur? Steht irgendwo geschrieben, wann ich mit einer Frühjahrskur beginnen muss?
Und dann ertappe ich Sandrine, wie sie ihr Haus putzt und riesige Haufen in allen Zimmern auftürmt. Sie wolle mal so richtig aufräumen "nach Kondo". Mir rutscht ein Kichern heraus. Was für ein Stress, viel zu verfrüht für so einen Körper noch halb im Winterschlaf, witzle ich. Aber sie versteht auch hier keinen Spaß. Also erzähle ich ihr vom "Oschderputz", der in unseren Breiten noch heute ein festes Ritual ist. Der liegt in der Fastenzeit nicht unpraktisch, weil sich die innere und äußere Reinigung ergänzten und man sich dann mit dem Osterbraten endlich schadlos halten konnte für all die verbrannten Kalorien. Früher reichten zwei Reinigungszeiten: vor Ostern und Weihnachten, unabhängig von Instagram.
Heute feiere ich den Tag des ersten Zitronenfalters. Sandrine meint griesgrämig, der flattere viel zu früh, Klimawandel, ganz übel, dass jetzt schon die Zitronenfalter im Februar flögen! Fast böse schaut sie mich an, weil ich wie ein kleines Kind juchze.
Ob sie wirklich schon so der Natur entfremdet ist, dass sie nicht weiß, dass Zitronenfalter durchaus an ein paar warmen Wintertagen flattern können? Sie überwintern frei in der Vegetation, in trockenem Laub oder an Zweigen. Mit körpereigenem Glyzerin, Sorbit und Eiweißen können sie ihre Eigentemperatur so senken, dass sie bis minus 20 Grad aushalten, sogar unter Schnee. Kommt die Sonne für ein paar besonders warme Tage heraus, flattern sie herum und tanken Licht. Genauso schnell können sie wieder in Winterstarre fallen. Egal, wann man sie zum ersten Mal sieht - die Eier legen sie erst im April und sterben dann. Das ist der Moment, den Sandrine feiert, weil sie glaubt, dann sei es "normal", dass Zitronenfalter herumflattern.
Langer Rede kurzer Sinn, was ich eigentlich sagen will: Ja, ich darf mich freuen. Wir alle dürfen uns freuen!
Es ist absolut nichts Verwerfliches daran, jedes kleine bißchen Lumen von Sonnenlicht auf der nackten Haut zu spüren und sich die Winterjacken vom Leib zu reißen. Es ist zutiefst menschlich, nach Dunkelheit Licht zu tanken, nach Kälte Wärme. Und wie wollen wir uns für die Natur einsetzen, wenn wir uns nicht mit ihr vertraut machen? Wenn wir diese Lebenslust verneinen, die im Moment die Luft erfüllt: mit Zwitschern und Singen, Brummen und Gesumm, mit aufgeregten Dorfhunden und kleinen Kindern, die vor Freude quietschen? Es düfteln die Kreuzungen an den Wildwechseln, es stinkt seit Januar der Fuchs herum, während die Felsen in der Sonne zum ersten Mal diesen ganz besonderen Duft aus heißem Quarz und feuchter Erde haben. Auch das ist so ein Feiertag: Wenn ganz früh morgens die Erde diesen Duft annimmt, den sie nur hat, wenn der Winter keine Kraft mehr bekommt.
Könnte nicht jeder Tag ein Fest sein? Unsere Lebenszeit ist derart endlich. Um uns herum sterben Menschen, sterben ganze Galaxien. Ich frage mich, ob vielleicht hier Sandrines Problem liegt, das sie mit mir hat: Sie scheint mit einer Seite des Lebens genug zu haben. Mit den Katastrophen, den negativen Entwicklungen. Machmal frage ich mich, ob ihr Weg nicht der einfachere sein könnte. Denn mich zerreisst es manchmal schier, wenn ich die Ambivalenz auszuhalten versuche, die Leben ist: Es gibt kein Licht ohne Dunkel und keinen Tod ohne Leben.
Das wünsche ich mir mehr in Social Media und im "Kohlenstoffleben": Wir müssen nicht alles auf Teufel komm raus polarisieren und uns bei den kleinsten Themen in gegnerische Schubladen stecken. Der reine Dualismus wird fast zelebriert wie eine Ersatzreligion und hat doch noch nie durchweg funktioniert. Wir müssen lernen, die Ambivalenz des Menschen, des Lebens auszuhalten. Und die besteht aus unwahrscheinlich vielen Facetten und Farben!
Ich kann mir absolut bewusst sein, dass sich die Klimaextreme häufen, wir eine unsägliche Dürre hatten, es schon wieder zu trocken ist - und trotzdem kann ich gleichzeitig die Natur mit allen Poren genießen - und feiern, dass die Sonne so wunderschön scheint. Die Tiere machen das auch. Würden sie es nicht tun, würde es draußen nicht kälter werden. Würde ich es nicht tun, hätte ich keine Kraft, an die Zukunft zu glauben und mich zu engagieren.
Anmerkung: Sandrine ist ein schriftstellerischer Kunstgriff, eine Kunstfigur. Ich habe zwei echte Frauen und einen Mann verhackstückt, durch den Mixer gedreht und so benannt, um in einem kurzen Text schneller zur Essenz zu kommen. Im echten Leben brauchen solche Zitate Monate. Muss man leider auch heutzutage extra erklären. Aber umso schlimmer, dass es gleich drei von der Sorte sind ...
Hat mir kürzlich eine gesagt, die ich Sandrine nennen will. Sandrine ist eine engagierte junge Frau, die sich aktiv im Klimaschutz engagiert und Zero-Waste-Konzepte ausprobiert. Im Garten beherbergt sie drei Bienenstöcke, die ein Imker dort absetzt, und auf Facebook teilt sie sämtliche Katastrophenmeldungen zum Klimawandel, die sie finden kann. Das sind dann täglich schon mal fünf Stück und mehr. Und weil ich heute grinse und recht leicht bekleidet mit dem Hund in die Natur laufen werde, schmollt Sandrine mit mir. Ich sei zu leichtfertig, nicht empathisch genug, würde mir einen schönen Lenz auf künftigen Leichen ... Halt!!! Stop! Alles rückspulen auf Anfang. Nicht so, Sandrine!
Nicht, dass es Missverständnisse gibt - das Thema ist ein sensibles und im Netz wird dazu sofort nur polarisiert anstatt zugehört. Darum muss ich erst einmal deutlich feststellen: Sandrine und ich sind uns eigentlich sehr ähnlich. Wir wissen beide, dass wir uns bereits mitten im Klimawandel befinden, mit all seinen Folgen und Herausforderungen.
Zugegeben, ich laufe selten bei Demos mit, weil ich ein Problem mit aufgeheizten Menschenmassen habe. Dafür habe ich 2018 ganze 6 kg Restmüll gehabt - im gesamten Jahr. Ich würde gern Bienen züchten, wenn ich den Platz hätte, und ich lese die gleichen wissenschaftlichen Artikel über den Klimawandel wie Sandrine. Vielleicht sogar ein paar mehr. Ich teile sie nur nicht alle. Ich wähle aus, weil ich denke, wenn ich Menschen mit immer den gleichen Inhalten bombardiere, entstehen Überdruss und Gewöhnung. Damit erreiche ich gar nichts.
Da unterscheide ich mich also von Sandrine. Trotzdem blutet mir das Herz im Wald, wenn ich die Trockenschäden vom vergangenen Jahr sehe und wie darum im Winter die Schädlinge und Pilze in den geschwächten Bäumen gewütetet haben. Ich sehe an jedem einzelnen Baum, ob er weniger und schwächer Knospen gebildet hat - und welche aufgehen werden, wenn der Frühling dann wirklich kommt. Ich weiß um die im Elsass nicht genügend aufgefüllten Grundwasserspeicher, um den viel zu trockenen Winter, der sich doch für die meisten feucht anfühlte. Und ich dürste genauso nach dem Regen, der angesagt ist, wie der Winterroggen, der viel zu klein ist, viel zu viele bereits vertrocknende Blättchen hat. Ich bin Realistin genug, um zu erkennen, dass wir längst mittendrin in Umwälzungen sind, die für viele Lebensbereiche katastrophal sein können.
Trotzdem freue ich mich. Juble. Tanze und raufe mit dem Hund. Der explodiert nämlich auch fast vor Lebensfreude. Früh morgens verlässt er mich, um draußen auf der Sonnenbank zu liegen und sich die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen.
Sein Ritual hilft ihm, den Winterpelz zu einer Zeit abzuwerfen, wo Vögel mit Frühlingsgefühlen nach den Haaren gieren. Kein Nest im Umkreis, das nicht irgendwie dank Bilbo weich gepolstert ist. Selbst die Türkentaube oben in Nachbars Baum gurrt und lugt neugierig auf ihn herunter. Sie, die so einsam war im Winter, hat offenbar jemanden gefunden - es gurrt im Duo.
Im Wald tönt und riecht es überwältigend nach einem Fest aller Wesen, nach einer Vorfreude auf den Frühling, einem Feiern des Vorfrühlings, nach Wachsen und Vermehren. Die ersten winzigen, grünen Blättchen schieben sich vorwitzig durchs tote Laub, die Frischlinge sind schon tüchtig gewachsen. Tieren und Pflanzen ist es egal, was ein menschengemachter Kalender sagt, sie reagieren auf Lichtverhältnisse und Temperaturen. Kommt im März noch einmal Schnee, ist das bitter, aber auch das ist Natur: das Vergehen und Sterben. Vögel brüten danach noch einmal, Pflanzen treiben nach. Tiere leben im Hier und Jetzt. Außer den Schatten- und Nachtgestalten dürsten sie nach Sonne. Die neugeborenen Ziegen unten auf der Wiese liegen im Knäuel direkt an der Holzwand des Stalls, um jedes Fitzelchen Wärme auszunutzen, das die Vorfrühlingssonne spenden kann. Dazwischen vollführen sie Bocksprünge, spielen mit sichtlichem Spaß.
Aber Sandrine ist böse mit mir. Sie sagt, ich dürfe mich nicht freuen. Weil der Mensch einen Verstand habe und weil es heutzutage, mit all diesen Bedrohungen, unmoralisch sei. Weil Menschen wie ich ein Hohn seien all denjenigen gegenüber, die ein Bewusstsein entwickelt hätten.
Mein Bewusstsein entwickelt sich bei solchen Worten nicht, es schweift ab. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als wir mit dem Fasching den Winter austreiben wollten, nach Sonnenlicht dürstend. Was für eine Lust war das, wenn die Erwachsenen um Mitternacht zum Aschermittwoch den Fasching als Strohpuppe anzündeten und in den Fluss warfen! Der archaische Fruchtbarkeitszauber, der die Nacht erhellte und das Wasser fürs Wachstum und genügend Regen segnen sollte, wirkte auch im 20. Jahrhundert. Selbst die Pfarrer machten mit. Es gab Jahre, wo der allzu frühe Fasching noch eine lange Warterei nach sich zog, und andere, wo der Frühling der Strohpuppe bereits eine Nase drehte. Die Osterriten mit den Weidekätzchen funktionierten dagegen nur in Ostpolen - in Frankreich mussten wir sie lange vorher trocknen, um an Ostern noch welche zu haben.
Vollsaftig und vollmundig - ohne es ellenlang zu belegen - möchte ich behaupten, dass es eins der archaischsten Gefühle von Menschen ist, das sich verstärkende Licht und die Wärme nach einer dunkleren Phase zu feiern. Auch wenn der Mensch keine Fotosynthese betreibt, ist er nicht so wirklich für Kälte gemacht. Während der Eiszeiten rotteten sich kleine, überlebende Stämme in Höhlen zusammen, zogen mit dem Rand der Gletscher weiter. Den ersten enormen Zivilisationsschub gab es mit der Entdeckung des Feuers, das man nicht umsonst als vom Himmel gefallen verehrte. Die ersten Entdecker beobachteten wahrscheinlich, wie ein Blitz in einen Baum fuhr und ihn sonnenhell lodern ließ. Unsere Zellen brauchen Licht, rein biologisch gesehen. Menschen, die am Polarkreis leben, wissen das.
Ich lebe in einer absolut bäuerlichen Gegend. Obwohl der Kalender in immerwährende Jahreskreisfeste eingeteilt war, standen die wirklichen Übergangsrituale nicht darin. Es sind Naturerscheinungen, nicht feste Zeiten, die den Bauern zeigten, wann zu säen und zu ernten war. Diejenigen, die sich sklavisch an den Kalender halten, sind meist auch diejenigen, bei denen nichts so recht wachsen will.
Hasen- oder Kaninchenwolle an Grashalmen auf der Wiese zu finden, ist so ein früher Vorfrühlingsbote. Jäger sagen Rammelwolle dazu, die Büschel verlieren die Männchen, wenn sie sich um ein paarungsbereites Weibchen streiten. Ein anderes, typisch französisches Ritual habe ich früher im Wettstreit mit meinen Huskies gemacht. Wenn die Tage noch im Winter länger und sonniger wurden, begannen sie systematisch mit dem Ausbuddeln von Löwenzahnwurzeln, die sie als Frühjahrskur fraßen. Ob der Mensch sich das mal von den Wölfen abgeschaut hat? Jedenfalls gab es früher einen Wettstreit auf den Dörfern, wer zuerst im Jahr frischen Löwenzahn stechen konnte. Sobald es für einen Salat reichte, lud man dazu Freunde ein, schnippelte frische Zwiebelchen und Knoblauch dazu, ließ Speck aus und röstete Croutons. Heute kaufen die Leute gebleichten, überlangen Löwenzahn aus dem Treibhaus und manche fragen sich dämlich, was da so gelb und "störend" im Rasen blüht.
In meinen alten Kalendern sind weitere Feiertage vermerkt: "Ameisentag" - das ist der erste Sonntag im Jahr, an dem plötzlich gefühlt Unmassen von Menschen auf dem Feldsträßchen spazierengehen, die man seit Monaten nicht gesehen hat. Wie Ameisen krabbeln sie aus ihrem Bau. Am Ameisentag erklingen plötzlich Kinderlachen und Hundegebell; Gequatsche und Quieken liegen in der Luft. Es gibt auch "Im Märzen der Bauer": wie er nicht die Rösslein, aber den Trecker einspannt. Schlagartig wird es irre laut auf dem Land, aus allen Richtungen kommen sie gescheppert, gebrummt, getuckert und arbeiten manchmal sogar die Nacht durch. Erst mit der Maismonokultur kommen sie viel, viel später, wenn man schon schier verzweifelt, wie lange der Boden brach liegt und leer. Früher, als sie noch Sonnenblumen und Korn anbauten, waren sie wie die Bienen. Sie arbeiteten, wenn es warm genug war, und legten dann auch mal eine Zwangspause ein, wenn der Schnee sich wieder meldete.
Ich frage Sandrine, ob sie bemerkt hat, dass bald der erste Löwenzahn gestochen werden könne, zumindest an geschützten Südhanglagen. Warum sie das tun solle, fragt sie mich. Als ich ihr meinen selbstgemachten Löwenzahnlikör zeige, der aus Blüten entsteht, verzieht sie das Gesicht. Sauferei sei nicht ihr Ding, meint sie moralinsauer. Ich erkläre ihr, dass man den kostbaren Likör teelöffelweise nimmt, als Medizin, zur Frühjahrskur als Durchputzer, zur Anregung des Stoffwechsels und für alles Mögliche in Sachen Innereien. Aber der würde ja auch immer früher blühen, das könne doch nicht gesund sein, sagt sie! Was, um Himmels Willen soll daran nicht gesund sein - das ist die Natur? Steht irgendwo geschrieben, wann ich mit einer Frühjahrskur beginnen muss?
Und dann ertappe ich Sandrine, wie sie ihr Haus putzt und riesige Haufen in allen Zimmern auftürmt. Sie wolle mal so richtig aufräumen "nach Kondo". Mir rutscht ein Kichern heraus. Was für ein Stress, viel zu verfrüht für so einen Körper noch halb im Winterschlaf, witzle ich. Aber sie versteht auch hier keinen Spaß. Also erzähle ich ihr vom "Oschderputz", der in unseren Breiten noch heute ein festes Ritual ist. Der liegt in der Fastenzeit nicht unpraktisch, weil sich die innere und äußere Reinigung ergänzten und man sich dann mit dem Osterbraten endlich schadlos halten konnte für all die verbrannten Kalorien. Früher reichten zwei Reinigungszeiten: vor Ostern und Weihnachten, unabhängig von Instagram.
Heute feiere ich den Tag des ersten Zitronenfalters. Sandrine meint griesgrämig, der flattere viel zu früh, Klimawandel, ganz übel, dass jetzt schon die Zitronenfalter im Februar flögen! Fast böse schaut sie mich an, weil ich wie ein kleines Kind juchze.
Ob sie wirklich schon so der Natur entfremdet ist, dass sie nicht weiß, dass Zitronenfalter durchaus an ein paar warmen Wintertagen flattern können? Sie überwintern frei in der Vegetation, in trockenem Laub oder an Zweigen. Mit körpereigenem Glyzerin, Sorbit und Eiweißen können sie ihre Eigentemperatur so senken, dass sie bis minus 20 Grad aushalten, sogar unter Schnee. Kommt die Sonne für ein paar besonders warme Tage heraus, flattern sie herum und tanken Licht. Genauso schnell können sie wieder in Winterstarre fallen. Egal, wann man sie zum ersten Mal sieht - die Eier legen sie erst im April und sterben dann. Das ist der Moment, den Sandrine feiert, weil sie glaubt, dann sei es "normal", dass Zitronenfalter herumflattern.
Langer Rede kurzer Sinn, was ich eigentlich sagen will: Ja, ich darf mich freuen. Wir alle dürfen uns freuen!
Es ist absolut nichts Verwerfliches daran, jedes kleine bißchen Lumen von Sonnenlicht auf der nackten Haut zu spüren und sich die Winterjacken vom Leib zu reißen. Es ist zutiefst menschlich, nach Dunkelheit Licht zu tanken, nach Kälte Wärme. Und wie wollen wir uns für die Natur einsetzen, wenn wir uns nicht mit ihr vertraut machen? Wenn wir diese Lebenslust verneinen, die im Moment die Luft erfüllt: mit Zwitschern und Singen, Brummen und Gesumm, mit aufgeregten Dorfhunden und kleinen Kindern, die vor Freude quietschen? Es düfteln die Kreuzungen an den Wildwechseln, es stinkt seit Januar der Fuchs herum, während die Felsen in der Sonne zum ersten Mal diesen ganz besonderen Duft aus heißem Quarz und feuchter Erde haben. Auch das ist so ein Feiertag: Wenn ganz früh morgens die Erde diesen Duft annimmt, den sie nur hat, wenn der Winter keine Kraft mehr bekommt.
Könnte nicht jeder Tag ein Fest sein? Unsere Lebenszeit ist derart endlich. Um uns herum sterben Menschen, sterben ganze Galaxien. Ich frage mich, ob vielleicht hier Sandrines Problem liegt, das sie mit mir hat: Sie scheint mit einer Seite des Lebens genug zu haben. Mit den Katastrophen, den negativen Entwicklungen. Machmal frage ich mich, ob ihr Weg nicht der einfachere sein könnte. Denn mich zerreisst es manchmal schier, wenn ich die Ambivalenz auszuhalten versuche, die Leben ist: Es gibt kein Licht ohne Dunkel und keinen Tod ohne Leben.
Das wünsche ich mir mehr in Social Media und im "Kohlenstoffleben": Wir müssen nicht alles auf Teufel komm raus polarisieren und uns bei den kleinsten Themen in gegnerische Schubladen stecken. Der reine Dualismus wird fast zelebriert wie eine Ersatzreligion und hat doch noch nie durchweg funktioniert. Wir müssen lernen, die Ambivalenz des Menschen, des Lebens auszuhalten. Und die besteht aus unwahrscheinlich vielen Facetten und Farben!
Ich kann mir absolut bewusst sein, dass sich die Klimaextreme häufen, wir eine unsägliche Dürre hatten, es schon wieder zu trocken ist - und trotzdem kann ich gleichzeitig die Natur mit allen Poren genießen - und feiern, dass die Sonne so wunderschön scheint. Die Tiere machen das auch. Würden sie es nicht tun, würde es draußen nicht kälter werden. Würde ich es nicht tun, hätte ich keine Kraft, an die Zukunft zu glauben und mich zu engagieren.
Anmerkung: Sandrine ist ein schriftstellerischer Kunstgriff, eine Kunstfigur. Ich habe zwei echte Frauen und einen Mann verhackstückt, durch den Mixer gedreht und so benannt, um in einem kurzen Text schneller zur Essenz zu kommen. Im echten Leben brauchen solche Zitate Monate. Muss man leider auch heutzutage extra erklären. Aber umso schlimmer, dass es gleich drei von der Sorte sind ...
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