Wie hältst du das nur aus?
Speziell nach meinem letzten Beitrag, den manche fälschlicherweise für reine Fiktion hielten, wurde ich gefragt: "Wie hältst du das nur aus?" Ein Gefühl, das in den letzten paar Jahren sehr viele Menschen teilen: Da ist so viel Angst und Misstrauen einer Welt gegenüber, die man nicht mehr zu verstehen scheint. Wie soll man das nur aushalten? All die Katastrophen, Kriege, die Gewalt und die Gefahren? Die Unsicherheit vor der Zukunft?
Kopf in den Sand?
In meinem Bekanntenkreis ist es teilweise schick geworden, Vogel Strauß zu spielen: Kopf in den Sand, Cocooning in den eigenen vier Wänden. Nur nicht hinschauen und darüber nachdenken, dann geht das von selbst wieder weg. Nicht mehr zur Wahl gehen und Unliebsames wegschieben, dann geht das sicher irgendwann wieder weg. Manche schauen sich nur noch heitere Vorabendserien an oder lesen Romanzen. "Was anderes halte ich nicht mehr aus", sagen sie. Und ich kann sie verstehen. Manchmal muss man einfach abtauchen, um etwas aushalten zu können. Aber irgendwann muss man wieder nach oben und Luft holen in der Realität. Sonst sitzt der Schock nachher noch tiefer, wenn die sich stark verändert hat und man selbst auf Tauchstation war. Aber wir leben doch in solch katastrophalen Zeiten!?!?
Was hilft?
Nicht, dass ich manchmal keine Angst vor der Zukunft hätte. Ich will einmal ganz praktisch eine Liste machen, was mir persönlich hilft - vielleicht inspiriert ja so einiges?
1. Die Geschichte. Ich bin jetzt über ein halbes Jahrhundert auf dieser Erde, da hat man Zeitenwenden erlebt. In meinem Fall vom Aufbruch der Hippiezeit über längst vergessene Katastrophen zwischen Kaltem Krieg und einer lange nicht mehr dagewesenen Friedenszeit, verbunden mit Wohlstand in unserer kleinen westlichen Welt. Ja, all die Pulverfässer wie z.B. die Ukraine machen Angst. Aber allein zwischen 1956 und 1995 gab es mindestens 20 dokumentierte Krisensituationen, die beinahe zu einem Atomkrieg hätten führen können. Legendär ist die Kubakrise (1962). Manche jener "Unfälle" erfuhr man später aus den Medien, manche erschienen wie Actionplots für einen Film und wurden von Hollywood auch wirklich in Szene gesetzt - viele wurden verschwiegen. Als der Dritte Weltkrieg beinahe wirklich ausgebrochen wäre, bekam ich das gar nicht mit. Erst viele Jahre später kam die Wahrheit über das Jahr 1983 heraus: Wie der Russe Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow durch Befehlsverweigerung einen Nuklearschlag aufgrund eines Systemfehlers verhindert hatte. Das ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt, eine winzige Facette aus meiner Lebenszeit. Aber die Angst der Menschen vor dem Dritten Weltkrieg, der ein Atomkrieg sein würde, mündete in der Friedensbewegung und weltweiter Abrüstung, in internationalen Abkommen und Verträgen.
Der Pessimist mag daraus lernen, dass die Menschheit blöde oder irre ist und die Welt trotz allem untergehen könnte. Ich habe anderes daraus gelernt:
a.) Weil "die Menschheit" kein eingeschworener Club ist, dauert es manchmal verdammt lange, bis sich alle im Sandkasten geeinigt haben. Aber Bewusstseinszuwachs ist möglich! Aus der Angst wurde Trotz und ein Kampf für den Frieden, der schließlich auch die Politik erreichte. Und wenn wir heute Errungenschaften feiern wie Ökobewusstsein und den Einsatz für "grüne" Energien, dann haben vorher Menschen Angst gehabt vor Waldsterben und Ölkrise - beides medial veranstaltete Szenarien. Ich bin mit autofreien Sonntagen groß geworden, wo die Leute mit Fahrrädern auf der Autobahn fuhren und so viele glaubten an den baldigen Untergang der modernen Welt. Wer hätte sich damals ernsthaft Windkraft und Solarstrom vorstellen können oder Verpackungen, die man aufessen kann?
b.) Angst lähmt. Man kann Angst aber dazu nutzen, trotzig den Hintern hochzukriegen und im Kleinen etwas besser machen. Und wenn viele Kleine ... ich muss nicht das abgedroschene Beispiel von den Schneeflocken und der Lawine bringen? Nur - wenn ich alles sofort haben möchte, Weltverbesserung auf Mausklick, dann lähme ich mich zusätzlich. Im Sandkasten sitzen nämlich noch andere Kinder und die haben auch eine Sicht auf die Welt, die ich mir anhören sollte. Es braucht Zeit, um nachhaltig zu Einigungen und Kompromissen zu gelangen. Nicht immer bin ich es, die recht hat!
2. Mediale Realität oder echte Zusammenhänge? Da sind wir wieder beim Jahr 1983, das damals nicht stattgefunden hat. Offiziell nicht. Während des gesamten Kalten Krieges nicht. Man hätte ja sonst einen Vertreter der Sowjetunion gefeiert, ein Unding damals im Westen. Dabei war die Gefahr eines Atomkriegs wahrscheinlich genauso groß wie während der medial ausgeschlachteten Kubakrise. Ich habe 1983 als sehr positiv erlebt, war optimistisch gestimmt. Wir StudentInnen waren doch gerade dabei, unsere Welt zu verbessern! Friedensbewegung, das Aufkommen einer grünen Bewegung, Hausbesetzungen, sichtbare Veränderungen - es tat sich doch genug Positives - dachten wir.
Wovor also haben wir wirklich Angst? Doch zunächst nur davor, was als Information täglich auf uns eindrischt? Erfahren wir nichts von einer Sache, juckt uns das nicht weiter. So einfach gestrickt ist der Mensch. Wir erfahren heute von Dingen, die uns früher medial gar nicht zugänglich gewesen wären. Aber können wir tatsächlich die gesamte globale Realität wahrnehmen? Kennen wir die geopolitischen, historischen und sonstigen Zusammenhänge einer Situation? Oder lassen wir andere unsere Angst schüren? Wie werden wir in 30 Jahren unsere Zeit sehen?
Ein Grund, warum ich nicht den Kopf in den Sand stecke, sondern hinschaue, genau hinschaue. Und nicht nur Medien aus einem Land konsumiere, sondern auch gegensätzliche miteinander vergleiche. Man kann das heutzutage bequem in internationalen Presseschauen. So manche Angst relativiert sich, wenn man die Zusammenhänge abschätzen kann und erfährt, wer Propaganda macht, wer nur um der Quote willen Katastrophen "aufbläst" und wer seriös recherchiert. Und manchmal bekommt man vor etwas ganz anderem Angst als vor dem, was beabsichtigt wäre. Mir persönlich macht eher Angst, dass Quotenkatastrophen oft gar keine sind und die wirklichen gleichgültig übersehen werden. Aufklärung aber führt zu Verstehen und das wiederum kann dazu führen, dass man sich engagiert und nicht mehr so hilflos fühlt. Eine kleine, nicht komplette Liste von Medien, die den Blick über den eigenen Tellerrand weiten:
Eurotopics - die europäische Presseschau der Bundeszentrale für politische Bildung, kann als Feed auch nach Themen abonniert werden.
Radio Free Europe / Radio Liberty - die seriöse Quelle für Nachrichten vor allem aus Osteuropa, Zentralasien und Mittlerem Osten mit unabhängigen JournalistInnen vor Ort, spezialisiert vor allem auf Länder, in denen Pressezensur herrscht oder Medien nicht offen berichten können.
Sicherheitspolitische Presseschau der BpB
Onlinenewspapers - das Portal, um weltweit Zeitungen zu finden.
3. Die Dosis macht's. Ich allein kann die Welt nicht retten und die Welt will vielleicht auch gar nicht von mir gerettet werden. Um die Welt auszuhalten und mich vielleicht zu engagieren, muss ich zuerst einmal mich selbst erhalten, meine Kraft und Energie:
Öfter mal den Ausschaltknopf betätigen! Eine Situation wird weder besser noch schlechter, wenn ich mir über Stunden alle Tweets dazu reinziehe oder tagelang bei FB über Meldungen brüte. Spätestens, wenn mich etwas nur noch herunterzieht und lähmt, hilft Kontrastprogramm, das mich wieder mit dem realen Leben verbindet. Was der Einzelne unternimmt, um sich zu "erden", kann individuell völlig verschieden sein: Rasenmähen, Holzhacken, faul herumliegen, einen dämlichen zuckersüßen Film schauen, das Leben mit Freunden oder der Familie genießen ... Wir haben ein Recht daruf, denn das Leben ist nicht nur dunkel, es ist auch schön. Jeder braucht solche Auszeiten!
Fokussieren! Heute ist es hipp, sich am besten global, rund um die Uhr und in allen Themenbereichen zu "engagieren". Kein Wunder, dass dann oft nur noch die Zeit für einen nachlässigen Klick auf die 1001ste Petition bleibt oder man schnell mal etwas für den Tierschutz teilt, bevor man erschöpft über dem Essen grübelt, ob nun wirklich alles moralisch vertretbar ist, was man da isst. Wir sind keine Übermenschen. Weltenrettung kann so schnell zur Selbstbefriedigung oder Hybris geraten. Wollen wir oberflächlich alles abklicken? Oder lieber in die Tiefe gehen, Verantwortung im eigenen Umfeld übernehmen?
Suchen wir uns ein Thema aus, das uns besonders angeht. Wo uns Engagement auch Freude macht. Es muss nicht immer politisch sein. Jemand, der seine Angehörige pflegt oder einsame Menschen im Krankenhaus besucht, verbessert die Welt. Und vielleicht tut das Mädchen, das im Tierheim in der Freizeit Hunde ausführt, mehr als so mancher Klicktivist, der den ganzen lieben Tag Bilder von gemarterten Hunden teilt? Fangen wir klein an, bei uns selbst. Und gehen wir dann Schritt für Schritt in eine zu uns passende Richtung, immer so weit, dass wir nicht ausbrennen.
4. Schutzrituale. Klingt nach esoterischem Schnickschnack, wird aber auch von Ärzten, Psychotherapeuten und vielen Kulturen dieser Welt praktiziert. Der Mensch braucht zum Erhalt seiner Seele Schutzräume, Ruhepunkte. Bei Dauerbeschallung und Dauerbewurf mit Informationen geht er drauf. Suchen wir uns einen Weg, mit dem wir wieder zu uns selbst kommen, abschalten können. Manche finden solche Räume in alten Kirchen, andere in der Diskothek, manche in der Meditation, andere im Workout. Das Zauberwort heißt Resilienz - das, was uns stark macht.
Wem das schwerfällt, dem können dann Rituale helfen, wie der Regenschirmspaziergang. Oder die Meditation mit dem Ei: Ich setze mich bequem in Stille hin und stelle mir vor, ich säße in einem hohlen Ei. Rundum bin ich geschützt durch eine Eierschale, die ganz schön was aushält und wunderschön und perfekt gebaut ist. Alles Negative bleibt draußen und ich fühle mich in diesen Raum der Geborgenheit ein. Wenn dann die Kräfte zurückkehren, sende ich sie nach außen. Die Eierschale reflektiert sie - und ich lade mich auf, meine inneren Akkus erstarken. Wenn ich mich dann ruhig und stark genug fühle, kann ich langsam die Eierschale von innen aufpicken und wieder in die Welt schlüpfen - in meinem Tempo, nicht in dem der anderen. Eine einfache Meditation, die ich einmal im Yoga gelernt habe und die man auch mit einer Perle machen kann, die zunehmend mehr schimmert. Praktisch: So ein "inneres Ei" hat man immer und überall bei sich!
5. Mut zur Ambivalenz! Social Media fördern verschärft Schwarz-Weiß-Muster. Was schnell läuft, kann auf Komplexität keine Rücksicht mehr nehmen. Wer lustig hin und her likt, sieht oft die anderen Seiten nicht mehr. Und doch ist unsere Welt eher ein Kaleidoskop. Ich selbst provoziere oft durch eine steile These zum Nachdenken bei Facebook (andere werden gar nicht mehr wahrgenommen). Viele Menschen identifizieren mich gedankenlos mit dieser These und können sich gar nicht mehr vorstellen, dass ich im gleichen Augenblick selbst vielleicht völlig anders denke! Man nimmt sich keine Zeit mehr fürs Differenzieren. Aber ich nehme mir die Zeit und den Luxus, ambivalent zu sein!
Aktuelles Beispiel: Lokführerstreik. Nein, man muss auf keiner extremen Position dazu verharren. Ich kann den Streik harsch kritisieren und verabscheuen - ich kann aber gleichzeitig den Streik an sich als Grundrecht und wichtiges Mittel verteidigen. Ich kann mich im Tierschutz engagieren und gegen Massentierhaltung sein und trotzdem ein Lammkotelett mit höchstem Genuss verspeisen. Keines der beiden möglichen Extreme verändert die Welt sofort, aber meine Ambivalenz kann auch etwas ausrichten: Wenn ich nämlich wegen des Genusses mein Kaufverhalten ändere und ganz andere Quellen suche. Ich muss nicht den ganzen Tag entscheiden, ob ich hasse oder liebe. Like oder Hate - ein fataler Irreg der Extreme! Ich kann Dinge und Menschen einfach erst mal "dasein" lassen. Ich kann sie erst einmal annehmen, wie sie sind, ohne zu werten. Und vielleicht nehme ich in meiner Ambivalenz dann ganz anders wahr, als wenn ich halb blind wäre vor Euphorie oder Zorn? Ambivalenz führt dazu, dass wir uns leichter in unterschiedliche Positionen hineindenken und unseren eigenen Standpunkt verschieben lernen. Dieses Oszillierende hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, sondern mit dem Prozess, alle Seiten abzuklopfen. Ich kann dann immer noch wütend werden oder eine Extremposition einnehmen. Aber dann weiß ich auch warum.
6. Leben. Klingt irre einfach. Aber leider müssen viele erst den Tod oder schwere Krankheit erleben, um zu wissen, was für ein Schatz das ist: das Leben, jetzt im Augenblick. Falls es nicht in tiefster Qual verläuft - in unseren Breiten verhungert man jedoch z.B. nicht so leicht. Wenn es die Gesundheit einigermaßen zulässt. Wenn man geliebt wird und lieben kann - und das nicht nur im herkömmlichen Sinn einer Partnerschaft.
Ich habe mir einmal, als mein heißgeliebter Hund nur noch wenige Wochen zu leben hatte, vorgenommen, jeden verbleibenden Tag mit ihm so zu genießen, als sei es der letzte. So vieles geht einem da durch den Kopf und ich möchte diese intensive Zeit nicht missen. Aber ich habe etwas gelernt: Das ist ein Selbstzerstörungsprogramm. Man hält diese Extremfokussierung auf das Leben im Sterben, auf das gemeinsame Glück nicht aus. "Dauerglück" ist Seelenstress wie Unglück auch. Die Dosis macht's. Und deshalb wäre es viel vernünftiger, man erfreut sich an den kleinen Dingen und den Glücksmomenten während eines ganzen Lebens - nicht nur während der "Endzeit". Zwischendurch muss schnöder, langweiliger, routinehafter Alltag herrschen. Der gibt einem die Fähigkeit, die Glücksmomente, diesen plötzlichen Ausbruch, überhaupt erst wahrzunehmen. Vergisst man zu leicht? Dann kann man sich eine Schatzkiste anlegen. Glücksmomente auf keine Zettelchen notieren und rein damit. Oder Komplimente, schöne Szenen sammeln. Wenn man dann mal wieder zu vergessen droht, dass das Leben schön ist: in den Schätzen kramen!
7. Genießen. Darüber könnte man Bücher schreiben. Manche können nicht genießen und man kann es wieder lernen. Auch darüber könnte man Bücher schreiben. Ich kenne eine Frau, die ist regelrecht auf einem Selbstzerstörungstrip: Sie kann nicht genießen. Weil ihr jeder noch so kleine Genuss ein schlechtes Gewissen einbringt. Sie bekommt Schuldgefühle. Aber das Leben ist kurz. Ich bin ganz allein für mein Leben verantwortlich. Wie soll ich anderen helfen können, wenn ich mir selbst nicht helfen kann? Ein Moment von Genuss ist ein Moment der Kraft. Und genau die brauche ich in der heutigen Welt - nur wenn ich den Moment genießen kann, kann ich aushalten, dass Zukunft auch nur eine Ansammlung von mehr oder weniger schönen Momenten ist.
So ... und jetzt komme ich mir vor, als hätte ich ein Wort zum Sonntag geschrieben, salbadernd und mit einem Hauch tüterich nickender Psychotante. Ich hätte es viel kürzer machen können: Wer das Leben und die Menschen liebt, hält auch aus, dass beides nicht perfekt ist. Wieder so ein verdammt einfach klingendes Statement, so schwer zu erreichen ... Ach ja, jetzt könnt ihr lachen oder widersprechen. Denn man kann die Welt natürlich auch ganz anders sehen!
Lektüre zur Feier des Lebens
Lektüre zum Genießen
Das Leben ist schön - auch heute |
Kopf in den Sand?
In meinem Bekanntenkreis ist es teilweise schick geworden, Vogel Strauß zu spielen: Kopf in den Sand, Cocooning in den eigenen vier Wänden. Nur nicht hinschauen und darüber nachdenken, dann geht das von selbst wieder weg. Nicht mehr zur Wahl gehen und Unliebsames wegschieben, dann geht das sicher irgendwann wieder weg. Manche schauen sich nur noch heitere Vorabendserien an oder lesen Romanzen. "Was anderes halte ich nicht mehr aus", sagen sie. Und ich kann sie verstehen. Manchmal muss man einfach abtauchen, um etwas aushalten zu können. Aber irgendwann muss man wieder nach oben und Luft holen in der Realität. Sonst sitzt der Schock nachher noch tiefer, wenn die sich stark verändert hat und man selbst auf Tauchstation war. Aber wir leben doch in solch katastrophalen Zeiten!?!?
Was hilft?
Nicht, dass ich manchmal keine Angst vor der Zukunft hätte. Ich will einmal ganz praktisch eine Liste machen, was mir persönlich hilft - vielleicht inspiriert ja so einiges?
1. Die Geschichte. Ich bin jetzt über ein halbes Jahrhundert auf dieser Erde, da hat man Zeitenwenden erlebt. In meinem Fall vom Aufbruch der Hippiezeit über längst vergessene Katastrophen zwischen Kaltem Krieg und einer lange nicht mehr dagewesenen Friedenszeit, verbunden mit Wohlstand in unserer kleinen westlichen Welt. Ja, all die Pulverfässer wie z.B. die Ukraine machen Angst. Aber allein zwischen 1956 und 1995 gab es mindestens 20 dokumentierte Krisensituationen, die beinahe zu einem Atomkrieg hätten führen können. Legendär ist die Kubakrise (1962). Manche jener "Unfälle" erfuhr man später aus den Medien, manche erschienen wie Actionplots für einen Film und wurden von Hollywood auch wirklich in Szene gesetzt - viele wurden verschwiegen. Als der Dritte Weltkrieg beinahe wirklich ausgebrochen wäre, bekam ich das gar nicht mit. Erst viele Jahre später kam die Wahrheit über das Jahr 1983 heraus: Wie der Russe Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow durch Befehlsverweigerung einen Nuklearschlag aufgrund eines Systemfehlers verhindert hatte. Das ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt, eine winzige Facette aus meiner Lebenszeit. Aber die Angst der Menschen vor dem Dritten Weltkrieg, der ein Atomkrieg sein würde, mündete in der Friedensbewegung und weltweiter Abrüstung, in internationalen Abkommen und Verträgen.
Der Pessimist mag daraus lernen, dass die Menschheit blöde oder irre ist und die Welt trotz allem untergehen könnte. Ich habe anderes daraus gelernt:
a.) Weil "die Menschheit" kein eingeschworener Club ist, dauert es manchmal verdammt lange, bis sich alle im Sandkasten geeinigt haben. Aber Bewusstseinszuwachs ist möglich! Aus der Angst wurde Trotz und ein Kampf für den Frieden, der schließlich auch die Politik erreichte. Und wenn wir heute Errungenschaften feiern wie Ökobewusstsein und den Einsatz für "grüne" Energien, dann haben vorher Menschen Angst gehabt vor Waldsterben und Ölkrise - beides medial veranstaltete Szenarien. Ich bin mit autofreien Sonntagen groß geworden, wo die Leute mit Fahrrädern auf der Autobahn fuhren und so viele glaubten an den baldigen Untergang der modernen Welt. Wer hätte sich damals ernsthaft Windkraft und Solarstrom vorstellen können oder Verpackungen, die man aufessen kann?
b.) Angst lähmt. Man kann Angst aber dazu nutzen, trotzig den Hintern hochzukriegen und im Kleinen etwas besser machen. Und wenn viele Kleine ... ich muss nicht das abgedroschene Beispiel von den Schneeflocken und der Lawine bringen? Nur - wenn ich alles sofort haben möchte, Weltverbesserung auf Mausklick, dann lähme ich mich zusätzlich. Im Sandkasten sitzen nämlich noch andere Kinder und die haben auch eine Sicht auf die Welt, die ich mir anhören sollte. Es braucht Zeit, um nachhaltig zu Einigungen und Kompromissen zu gelangen. Nicht immer bin ich es, die recht hat!
2. Mediale Realität oder echte Zusammenhänge? Da sind wir wieder beim Jahr 1983, das damals nicht stattgefunden hat. Offiziell nicht. Während des gesamten Kalten Krieges nicht. Man hätte ja sonst einen Vertreter der Sowjetunion gefeiert, ein Unding damals im Westen. Dabei war die Gefahr eines Atomkriegs wahrscheinlich genauso groß wie während der medial ausgeschlachteten Kubakrise. Ich habe 1983 als sehr positiv erlebt, war optimistisch gestimmt. Wir StudentInnen waren doch gerade dabei, unsere Welt zu verbessern! Friedensbewegung, das Aufkommen einer grünen Bewegung, Hausbesetzungen, sichtbare Veränderungen - es tat sich doch genug Positives - dachten wir.
Wovor also haben wir wirklich Angst? Doch zunächst nur davor, was als Information täglich auf uns eindrischt? Erfahren wir nichts von einer Sache, juckt uns das nicht weiter. So einfach gestrickt ist der Mensch. Wir erfahren heute von Dingen, die uns früher medial gar nicht zugänglich gewesen wären. Aber können wir tatsächlich die gesamte globale Realität wahrnehmen? Kennen wir die geopolitischen, historischen und sonstigen Zusammenhänge einer Situation? Oder lassen wir andere unsere Angst schüren? Wie werden wir in 30 Jahren unsere Zeit sehen?
Ein Grund, warum ich nicht den Kopf in den Sand stecke, sondern hinschaue, genau hinschaue. Und nicht nur Medien aus einem Land konsumiere, sondern auch gegensätzliche miteinander vergleiche. Man kann das heutzutage bequem in internationalen Presseschauen. So manche Angst relativiert sich, wenn man die Zusammenhänge abschätzen kann und erfährt, wer Propaganda macht, wer nur um der Quote willen Katastrophen "aufbläst" und wer seriös recherchiert. Und manchmal bekommt man vor etwas ganz anderem Angst als vor dem, was beabsichtigt wäre. Mir persönlich macht eher Angst, dass Quotenkatastrophen oft gar keine sind und die wirklichen gleichgültig übersehen werden. Aufklärung aber führt zu Verstehen und das wiederum kann dazu führen, dass man sich engagiert und nicht mehr so hilflos fühlt. Eine kleine, nicht komplette Liste von Medien, die den Blick über den eigenen Tellerrand weiten:
Eurotopics - die europäische Presseschau der Bundeszentrale für politische Bildung, kann als Feed auch nach Themen abonniert werden.
Radio Free Europe / Radio Liberty - die seriöse Quelle für Nachrichten vor allem aus Osteuropa, Zentralasien und Mittlerem Osten mit unabhängigen JournalistInnen vor Ort, spezialisiert vor allem auf Länder, in denen Pressezensur herrscht oder Medien nicht offen berichten können.
Sicherheitspolitische Presseschau der BpB
Onlinenewspapers - das Portal, um weltweit Zeitungen zu finden.
3. Die Dosis macht's. Ich allein kann die Welt nicht retten und die Welt will vielleicht auch gar nicht von mir gerettet werden. Um die Welt auszuhalten und mich vielleicht zu engagieren, muss ich zuerst einmal mich selbst erhalten, meine Kraft und Energie:
Öfter mal den Ausschaltknopf betätigen! Eine Situation wird weder besser noch schlechter, wenn ich mir über Stunden alle Tweets dazu reinziehe oder tagelang bei FB über Meldungen brüte. Spätestens, wenn mich etwas nur noch herunterzieht und lähmt, hilft Kontrastprogramm, das mich wieder mit dem realen Leben verbindet. Was der Einzelne unternimmt, um sich zu "erden", kann individuell völlig verschieden sein: Rasenmähen, Holzhacken, faul herumliegen, einen dämlichen zuckersüßen Film schauen, das Leben mit Freunden oder der Familie genießen ... Wir haben ein Recht daruf, denn das Leben ist nicht nur dunkel, es ist auch schön. Jeder braucht solche Auszeiten!
Fokussieren! Heute ist es hipp, sich am besten global, rund um die Uhr und in allen Themenbereichen zu "engagieren". Kein Wunder, dass dann oft nur noch die Zeit für einen nachlässigen Klick auf die 1001ste Petition bleibt oder man schnell mal etwas für den Tierschutz teilt, bevor man erschöpft über dem Essen grübelt, ob nun wirklich alles moralisch vertretbar ist, was man da isst. Wir sind keine Übermenschen. Weltenrettung kann so schnell zur Selbstbefriedigung oder Hybris geraten. Wollen wir oberflächlich alles abklicken? Oder lieber in die Tiefe gehen, Verantwortung im eigenen Umfeld übernehmen?
Suchen wir uns ein Thema aus, das uns besonders angeht. Wo uns Engagement auch Freude macht. Es muss nicht immer politisch sein. Jemand, der seine Angehörige pflegt oder einsame Menschen im Krankenhaus besucht, verbessert die Welt. Und vielleicht tut das Mädchen, das im Tierheim in der Freizeit Hunde ausführt, mehr als so mancher Klicktivist, der den ganzen lieben Tag Bilder von gemarterten Hunden teilt? Fangen wir klein an, bei uns selbst. Und gehen wir dann Schritt für Schritt in eine zu uns passende Richtung, immer so weit, dass wir nicht ausbrennen.
4. Schutzrituale. Klingt nach esoterischem Schnickschnack, wird aber auch von Ärzten, Psychotherapeuten und vielen Kulturen dieser Welt praktiziert. Der Mensch braucht zum Erhalt seiner Seele Schutzräume, Ruhepunkte. Bei Dauerbeschallung und Dauerbewurf mit Informationen geht er drauf. Suchen wir uns einen Weg, mit dem wir wieder zu uns selbst kommen, abschalten können. Manche finden solche Räume in alten Kirchen, andere in der Diskothek, manche in der Meditation, andere im Workout. Das Zauberwort heißt Resilienz - das, was uns stark macht.
Wem das schwerfällt, dem können dann Rituale helfen, wie der Regenschirmspaziergang. Oder die Meditation mit dem Ei: Ich setze mich bequem in Stille hin und stelle mir vor, ich säße in einem hohlen Ei. Rundum bin ich geschützt durch eine Eierschale, die ganz schön was aushält und wunderschön und perfekt gebaut ist. Alles Negative bleibt draußen und ich fühle mich in diesen Raum der Geborgenheit ein. Wenn dann die Kräfte zurückkehren, sende ich sie nach außen. Die Eierschale reflektiert sie - und ich lade mich auf, meine inneren Akkus erstarken. Wenn ich mich dann ruhig und stark genug fühle, kann ich langsam die Eierschale von innen aufpicken und wieder in die Welt schlüpfen - in meinem Tempo, nicht in dem der anderen. Eine einfache Meditation, die ich einmal im Yoga gelernt habe und die man auch mit einer Perle machen kann, die zunehmend mehr schimmert. Praktisch: So ein "inneres Ei" hat man immer und überall bei sich!
5. Mut zur Ambivalenz! Social Media fördern verschärft Schwarz-Weiß-Muster. Was schnell läuft, kann auf Komplexität keine Rücksicht mehr nehmen. Wer lustig hin und her likt, sieht oft die anderen Seiten nicht mehr. Und doch ist unsere Welt eher ein Kaleidoskop. Ich selbst provoziere oft durch eine steile These zum Nachdenken bei Facebook (andere werden gar nicht mehr wahrgenommen). Viele Menschen identifizieren mich gedankenlos mit dieser These und können sich gar nicht mehr vorstellen, dass ich im gleichen Augenblick selbst vielleicht völlig anders denke! Man nimmt sich keine Zeit mehr fürs Differenzieren. Aber ich nehme mir die Zeit und den Luxus, ambivalent zu sein!
Aktuelles Beispiel: Lokführerstreik. Nein, man muss auf keiner extremen Position dazu verharren. Ich kann den Streik harsch kritisieren und verabscheuen - ich kann aber gleichzeitig den Streik an sich als Grundrecht und wichtiges Mittel verteidigen. Ich kann mich im Tierschutz engagieren und gegen Massentierhaltung sein und trotzdem ein Lammkotelett mit höchstem Genuss verspeisen. Keines der beiden möglichen Extreme verändert die Welt sofort, aber meine Ambivalenz kann auch etwas ausrichten: Wenn ich nämlich wegen des Genusses mein Kaufverhalten ändere und ganz andere Quellen suche. Ich muss nicht den ganzen Tag entscheiden, ob ich hasse oder liebe. Like oder Hate - ein fataler Irreg der Extreme! Ich kann Dinge und Menschen einfach erst mal "dasein" lassen. Ich kann sie erst einmal annehmen, wie sie sind, ohne zu werten. Und vielleicht nehme ich in meiner Ambivalenz dann ganz anders wahr, als wenn ich halb blind wäre vor Euphorie oder Zorn? Ambivalenz führt dazu, dass wir uns leichter in unterschiedliche Positionen hineindenken und unseren eigenen Standpunkt verschieben lernen. Dieses Oszillierende hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, sondern mit dem Prozess, alle Seiten abzuklopfen. Ich kann dann immer noch wütend werden oder eine Extremposition einnehmen. Aber dann weiß ich auch warum.
6. Leben. Klingt irre einfach. Aber leider müssen viele erst den Tod oder schwere Krankheit erleben, um zu wissen, was für ein Schatz das ist: das Leben, jetzt im Augenblick. Falls es nicht in tiefster Qual verläuft - in unseren Breiten verhungert man jedoch z.B. nicht so leicht. Wenn es die Gesundheit einigermaßen zulässt. Wenn man geliebt wird und lieben kann - und das nicht nur im herkömmlichen Sinn einer Partnerschaft.
Ich habe mir einmal, als mein heißgeliebter Hund nur noch wenige Wochen zu leben hatte, vorgenommen, jeden verbleibenden Tag mit ihm so zu genießen, als sei es der letzte. So vieles geht einem da durch den Kopf und ich möchte diese intensive Zeit nicht missen. Aber ich habe etwas gelernt: Das ist ein Selbstzerstörungsprogramm. Man hält diese Extremfokussierung auf das Leben im Sterben, auf das gemeinsame Glück nicht aus. "Dauerglück" ist Seelenstress wie Unglück auch. Die Dosis macht's. Und deshalb wäre es viel vernünftiger, man erfreut sich an den kleinen Dingen und den Glücksmomenten während eines ganzen Lebens - nicht nur während der "Endzeit". Zwischendurch muss schnöder, langweiliger, routinehafter Alltag herrschen. Der gibt einem die Fähigkeit, die Glücksmomente, diesen plötzlichen Ausbruch, überhaupt erst wahrzunehmen. Vergisst man zu leicht? Dann kann man sich eine Schatzkiste anlegen. Glücksmomente auf keine Zettelchen notieren und rein damit. Oder Komplimente, schöne Szenen sammeln. Wenn man dann mal wieder zu vergessen droht, dass das Leben schön ist: in den Schätzen kramen!
7. Genießen. Darüber könnte man Bücher schreiben. Manche können nicht genießen und man kann es wieder lernen. Auch darüber könnte man Bücher schreiben. Ich kenne eine Frau, die ist regelrecht auf einem Selbstzerstörungstrip: Sie kann nicht genießen. Weil ihr jeder noch so kleine Genuss ein schlechtes Gewissen einbringt. Sie bekommt Schuldgefühle. Aber das Leben ist kurz. Ich bin ganz allein für mein Leben verantwortlich. Wie soll ich anderen helfen können, wenn ich mir selbst nicht helfen kann? Ein Moment von Genuss ist ein Moment der Kraft. Und genau die brauche ich in der heutigen Welt - nur wenn ich den Moment genießen kann, kann ich aushalten, dass Zukunft auch nur eine Ansammlung von mehr oder weniger schönen Momenten ist.
So ... und jetzt komme ich mir vor, als hätte ich ein Wort zum Sonntag geschrieben, salbadernd und mit einem Hauch tüterich nickender Psychotante. Ich hätte es viel kürzer machen können: Wer das Leben und die Menschen liebt, hält auch aus, dass beides nicht perfekt ist. Wieder so ein verdammt einfach klingendes Statement, so schwer zu erreichen ... Ach ja, jetzt könnt ihr lachen oder widersprechen. Denn man kann die Welt natürlich auch ganz anders sehen!
Lektüre zur Feier des Lebens
Lektüre zum Genießen
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