Plötzlicher Buchtod oder wie positioniert man sich?

Heute lag in meinem Briefkasten die Notiz einer Kollegin, bei der mir erst einmal die Ohren klingelten: Es sei leider KEINE gute Nachricht. Anbei lag ein Zeitungsartikel über ein neues Buch eines Herrn, das bei oberflächlicher Betrachtung genau dem entspricht, was ich als nächstes mit meinen russischen Spaziergängen plane. Fachlich absolut keine Konkurrenz. Aber wie reagiert man, wenn es eine Buchidee auf engem Raum nun schon zum dritten Mal gibt? Wie platziert man sich, wenn die Presse schon bei Büchern, die es nicht einmal im Buchhandelssortiment gibt, in halbseitigen Jubel ausbricht? Und hat das alles wirklich einen Sinn: sich um eine Übersetzung kümmern, um einen völlig fremden Markt und dann auch noch den eigenen Verlag auf solche Bücher auszurichten, sogar die eigene Arbeit? Vielleicht war ich heute wegen einiger Termine zu sehr in Hektik, um klar zu denken: Ich war mir jedenfalls sicher, mein Russenprojekt sei gestorben. Plötzlichen Kindstod gibt es bekanntlich bei Büchern manchmal schon vor der Geburt, vor allem bei Sachbüchern. Ich war nicht einmal allzu traurig, weil sich für den Winter ein deutsch-französisches Projekt anbahnen könnte.

Zum Glück hat mir meine Übersetzerin dann die Hammelbeine langgezogen. Und ich habe mich an den Programmleiter eines renommierten Sachbuchverlags erinnert, der mir einmal Folgendes sagte: "Und wenn es schon 1000 Bücher über Drachen gibt und du der Meinung bist, dein Buch über Drachen ist etwas Besonderes, dann schreibe das 1001. Buch. Und für die Bewerbung schau in die 1000 anderen Bücher und untersuche: Was kannst du besser, wo liegen deine ganz anderen Stärken, was haben alle anderen nicht, was machst du völlig anders, was war noch nie da - warum braucht die Welt dieses 1001. Drachenbuch?" In der Geschäftswelt nennt man das USP, Unique Selling Point.

Zugegeben, ich war ein bißchen ratlos. Und ein bißchen verwirrt. Ich merke dann nicht immer, "auf welcher Sprache" ich gerade "laufe". Und so habe ich zwecks Inspiration für meinen USP aus Versehen französisch gegoogelt. Hoppla aber auch! Irgendwo in den Suchergebnissen hakte sich mein Auge an der heiligen Odilia fest. Über die hatte ich meinen Erstling geschrieben, den ausgerechnet jener Programmchef verlegt hatte, der Jahre später mit mir über Drachen redete. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch und glaube nicht an Zeichen, ich doch nicht! Aber ich hangle mich beim Surfen an Assoziationen entlang. Das ist fast so ein bißchen wie das Glauben an Zeichen. Die Russische Kirche in Strasbourg hatte also eine Ikone der heiligen Odilia empfangen und die katholischen Nonnen vom elsässischen Kloster haben dafür sogar ein winziges Stückchen Reliquie gespendet. So viele Jahre habe ich mit den Recherchen um Odilia gelebt, lebe mit ihrem Berg immer noch und immer wieder. In so einem Moment fängt es bei mir im Kopf an zu ticken.

Wenn es eine Kirche gibt, gibt es eine genügend große Gemeinde. Und hat Strasbourg nicht auch eine russische Botschaft? Dann haben die aber nicht erst seit gestern Kontakte. Und weil die Franzosen ja auch in Baden-Baden waren und man von dort nach Strasbourg reiste, lohnte sich vielleicht weiteres Suchen auf der hiesigen Rheinseite?

Der Mensch ist deppert, was die eigene nächste Umgebung betrifft. Man reist heutzutage zuviel in die Ferne und sieht die Schätze vor der eigenen Nase nicht mehr. Da sitze ich 40 Autominuten von einem renommierten slawistischen Institut entfernt! Und auf dessen Website stolpere ich ausgerechnet über eine Veröffentlichung über einen berühmten Schriftsteller, der Freund des Schriftstellers war, mit dem mein Buch beginnt.

Es heißt, Odilia könne nicht nur Blinde wieder sehend machen, sondern einem noch ganz andere Augen öffnen. In meinem Falle müssen es die Hühneraugen gewesen sein? Oder sie hat mir die Leberwurst von der Brille gewischt. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Odilia wird traditionell mit DREI Augen dargestellt. Trinationale Arbeit!!! Von wegen plötzlicher Buchtod! Jetzt geht's erst richtig los. Frankreich - Deutschland - Russland. (Da ist sie wieder, meine Achse Paris - Petersburg aus dem Nijinsky-Buch!) Darüber reden kann ich nicht, über ungelegte Eier zu reden bringt ohnehin Unglück - und ich bin ja gar nicht abergläubisch. Vor mir liegt jetzt erst einmal die Arbeit, das Profil für eine mögliche Buchreihe in meinem zu gründenden Verlag zu schärfen und mich rasant um das deutsch-französische Projekt zu bewerben. Und eben noch ein bißchen mehr und anders zu recherchieren.

Bis dahin liegt schon wieder Arbeit vor mir, die mich eigentlich nie und nimmer hätte zweifeln lassen dürfen. Ende September führe ich die Leserinnen einer österreichischen Zeitschrift auf den Spuren meines künftigen Buchs durch Baden-Baden - die sich vorher das Elsass angeschaut haben. Und Mitte Oktober werde ich nicht bei der Buchmesse sein, weil ich zu einem sehr wichtigen deutsch-russischen Festakt eine Rede halten darf. Vertreter der russischen Botschaft und des Generalkonsulats sind geladen, noch weiß ich nicht, wer kommen wird. Nur, dass die Ansprüche an meine Rede groß sein werden - der Dichter, um den es geht, ist einer der berühmtesten Russlands. Es sollte die Generalprobe für mein Buch werden, denn mit diesem Dichter fängt es an. Nein. Falsch. Noch einmal von vorn: Es wird die Generalprobe werden.

Seit meiner Liebe zu Odilia und meinem Projekt um die Ballets Russes bin ich nun schon so weit gekommen. Wie habe ich auch nur eine Minute daran zweifeln können? Was so ein dummdreister USP so alles anrichten kann. Wieder etwas gelernt, was ich mir mit Rotstift ins Merkbuch schreiben muss: Lasse nie den Markt oder den USP über ein Projekt entscheiden, sondern leite aus dem Projekt selbst den USP ab. Verkaufen kann man alles, wenn man es richtig macht. Aber nicht alles, was sich verkaufen lässt, wird auch zu Literatur.
Liebe Kollegin - du siehst - deine Notiz war doch eine gute Nachricht. Ohne deinen Brief hätte ich nie auf Französisch nach meinem Thema gegoogelt. Da hast du nun eine Flasche Odilienwasser gut bei mir. Habe ich nämlich auch immer im Haus. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Aber im Elsass gehört das einfach dazu.

6 Kommentare:

  1. Kollegin liest, lächelt, ist erleichtert und freut sich über diesen Enthusiasmus! Und auch auf einen guten Schluck Odilienwasser natürlich... Wie ich schon schrieb! Dein Werk wird tausendmal besser! Kopf hoch!

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  2. Jetzt hat sie sich sogar geoutet ;-) Da gibt's das Odilienwasser aber nicht als H2O aus der berühmten Quelle, sondern mit 12 Prozent von der klostereigenen Hanglage! Odilia hat mir sogar mein Verlagslogo beschert, seit 1998 auf der Festplatte ...

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  3. Petra, wie wär`s mit eine kalifornischen Weisheit? Hilft mir sein sechzig Jahren aufs Pferd und hat sich größtenteils bewahrheitet? Also: egal, was kommt: es hilft dir immer weiter, wenn du es von allen Seiten betrachtest.
    Ende, Gratuliere und Gruss,
    Peter

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  4. Super, den Spruch kannst du dir international patentieren lassen, Peter. In Frankreich sage ich sinngemäß: Auch Merde will dir etwas sagen. ;-)
    Ich bin bei der Sache richtig froh, dass sie mir den Blick so geweitet hat. Ich frage mich nämlich seit Wochen, wie ich das Thema auf eine "höhere" Ebene als die regionale bekomme (obwohl das ja wirklich die "Sommerhauptstadt Europas" war) ... und dann muss man bloß mal die falsche Sprache bei Google erwischen - das tut schon weh an der eigenen Berufsblindheit!
    Grüße ins Nachbarland hinter dem Teich,
    Petra

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  5. Liebe Petra,
    lieber Peter J. Kraus,

    Ihre Weisheiten und Erkenntnisse über geweitete Blicke und Betrachtungen aller Seiten kann ich sehr gut nachvollziehen.
    Nur brauche ich oft sehr lange, alle Seiten zu betrachten und den Schock, der mir tief in die Glieder gefahren ist, in ein Gefühl der Zuversicht zu verwandeln.

    Ich hätte nichts dagegen, wenn sich ein Ungleichgewicht in der Form entwickelt, dass geweitete Blicke und Rundumbetrachtungen sich nur noch um positive Ereignisse drehen und das Erschrecken und die Angst aus dem realen Leben verschwinden.

    Angst und Schrecken gehören in die Krimis. ;)
    Übrigens, nicht nur Dan Rocco ist ausgesprochen unterhaltsam, auch Peter J. Kraus, auf den ich hier aufmerksam geworden bin, beschreibt seine Protagonisten so anschaulich, dass wir so zwar nicht leben möchten, aber sie bewundern, wie sie ihre "Schwierigkeiten" meistern. Bravo!

    Gruß Heinrich

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  6. Lieber Heinrich,
    so manche Katastrophe wäre wahrlich nicht nötig, um mit dem Nachdenken zu beginnen. Aber die beschriebene Situation ist ja nur ein kleiner Witz der Zeit am Rande, der einem im Moment erheblich erscheinen mag, über den man Stunden später schon lacht (das besagte Konkurrenzwerk ist weder bei Google noch im VLB vorrätig). Aber ohne diesen kleinen, unnötigen und unbedeutenden Schrecken wäre ich betriebsblind geblieben, hätte weiter nach einer Lösung für eine längst schwelende Frage gesucht und nicht in *neue* Richtungen gedacht.

    Wo fängt für jeden ganz persönlich ein wirklicher Schrecken an? Und wie lange bleibt ein Schrecken heilsam, wann macht er krank? Kann es anhaltendes Glück geben und denkt der Mensch wirklich so umfassend nach, wenn er NUR mit positiven Ereignissen konfrontiert wäre? (Nein, nein ich habe keine Antworten).

    Die ganz großen Literaten dieser Welt jedenfalls hatten immer eine Gabe: Angst und Schrecken auszuhalten und ganz genau hinzuschauen, auch in Abgründe. Sind moderne Krimis dagegen nicht auch nur wieder der Versuch, Ordnung ins Chaos zu bringen, zu beruhigen?

    Nur mal so ins Unreine herumgedacht ;-)
    Schöne Grüße,
    Petra

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