Die Nähmaschine meiner Mutter

Bis zu meinem dritten Lebensjahr bin ich außerhalb der Stadt mit Tieren aufgewachsen. Der eine Nachbar war Schweinehirt, ein inzwischen ausgestorbener Beruf in unseren Breiten, der andere war Pferdemetzger und hielt sein Schlachtvieh auf einer Koppel hinterm Haus. Überall muss es außerdem gekräht, miaut und gebellt haben. Es gibt viele Fotos, auf denen ich im Kinderwagen zwischen Hühnern sitze, und es muss wundervoll gewesen sein, denn bei deren Lauten fühle ich mich noch heute völlig entspannt. Als wir in die Stadt zogen, kam ein Haustier mit uns mit, das einzigartig war, weil es sonst niemand hatte. Es versteckte sich manchmal in einem Möbel, ähnlich wie das Radioviech mit dem glühenden Magischen Auge. Und es war absolut tabu. Keiner außer meiner Mutter durfte es berühren und streicheln und zum Schnurren bringen.

Vor diesem Tier hatte ich den größten Respekt. Es fraß Elektrizität - noch so ein Wunder, das mir bei Strafe verboten war. Es hörte auf meine Mutter und tat brav, was sie wollte. Manchmal griff sie tief in seinen Hals und steckte blind und nach Gefühl eine Spule darin fest. Die fraß das Tier offensichtlich, denn meine Mutter musste unzählige Spulen mit Fäden in allen Regenbogenfarben umwickeln. Manchmal setzte ich mich mucksmäuschenstill unter den Bauch des Tiers, nur, um es atmen zu hören. In seinem Maul, hinter der untersten Lippe, verbrag es den größten Schatz. Wenn ich brav war, ließ mich meine Mutter darin spielen - in der Knopfschachtel. Nie mehr vergesse ich das Atemgeräusch des Tiers, das von meinem Bravsein sichtlich besänftigt wurde: Bsssbüggg, öffnete es seine Lippen, gab die Schatzkiste frei und schloss wieder seinen Mund, sssssnnkalóck! Und natürlich versuchte ich alles, wenn meine Mutter nicht da war, um es zur Herausgabe zu überreden: Snkalock bssssbügg! Vergebens. Irgendetwas stimmte mit meiner Aussprache wohl nicht.


 Irgendwann war ich groß genug, um zu begreifen, dass das Tier eine schnöde Nähmschine war und die Schatzkiste vor allem die typischen Plastikknöpfe der frühen 1960er beinhaltete. Irgendwann habe ich die Nähmaschine zu mir gerettet, obwohl ich nie lernen durfte, auf ihr zu nähen. Sie blieb ewig tabu. Meine Mutter war Schneiderin gewesen und behauptete, wenn ein fremder Mensch auf ihrer Maschine arbeitete, würde sie das fühlen - sie laufe dann anders. Noch habe ich die Maschine in der Tat nicht benutzt, weil sie gründlich zu überholen wäre. Aber kürzlich habe ich die unterste Schublade geöffnet, weil ich etwas suchte. Bsssbüggg, schnurrte das Tier. Ich verschloss sein Maul: sssssnnkalóck!

Es sind diese Momente, in denen nicht nur frühkindliche Erinnerung und Vertrautheit wieder lebendig sind, in denen all die Bilder, Geräusche und Emotionen hochtauchen. Ich habe diese Schublade immer wieder langsam und vorsichtig geöffnet und geschlossen, bemüht, nichts zu verändern, damit es immer wieder zu mir sprach:  Bsssbüggg sssssnnkalóck. Die zwei wichtigsten Wörter, die ich wahrscheinlich noch vor vielen anderen Wörtern meiner eigenen Sprache sprechen lernte.

Und da war noch etwas plötzlich da. So eine Art Erkenntnis. Dieses Tier im Hause zu haben, das meine Mutter wie eine alte Zauberin hütete, hatte im Nachinein etwas wie ein animistischer Kult. Ich weiß heute, dass es schlicht eine damals schon wertvolle Pfaff-Nähmaschine war. Und trotzdem sind da auch die Emotionen, die Geschichten, die mir zeigen, da lebt etwas. Aus diesem "Tier" sind meine ersten Geschichten gekommen. Ich habe in seinen Rhythmen und Klängen gelebt, die für mich nicht weniger reich waren als die eines Klaviers. Das Tier konnte wütend rasen, verträumt singen und frech schnarren. Manchmal biss es meine Mutter in den Finger und auf seinem Rücken wuchsen Kleider für mich.

Ist das der Ursprung von Literatur? Wenn man tief in sich hineinhört auf jene frühesten Gesänge und sie hervorholt? Mein Scheiben ist ein musikalisches - ich muss Sätze tanzen können, die Klangfarben müssen stimmen, die Rhythmen exakt sein. Es muss schnarren, rasen, singen, bsssbüggg sssssnnkalóck ...

Irgendwie hat es müch überrascht und ist mir doch so vertraut: Wenn ich in mich versinke und eine Geschichte schreibe, wenn ich ganz weit weg bin in jener anderen Welt der Literatur, dann fühle ich all das, was ich damals gefühlt habe, bevor ich eine Sprache hatte. Literatur hat etwas Vorsprachliches für mich, auch wenn das ein Widerspruch zu sein scheint. Da ist in den Texten wieder jener ungeheure Reichtum an Farben von Garnrollen, da spult sich der rote Faden in Windeseile auf - und selbst billigste Plastikknöpfe erzählen ihre Geschichte. Das hat sich nie verloren, auch wenn die Erinnerung eine rein emotionale ist, jenseits aller Wörter. Ich kenne den Mantel von den großen Knöpfen links oben noch genau, fühle den Stoff, rieche seinen Geruch und weiß doch, dass ich zu jener Zeit, als es den Mantel noch gab, nicht einmal allein habe stehen können. Ich erinnere mich an die scheußliche Schürze mit den hellblauen Knöpfen schräg darunter, die nach Putztag roch und nach Unbehagen und einer Mutter, die viel zu beschäftigt war für mich. Der winzige grellgrüne Knopf ganz unten gehörte zu einem ebenso grellgrünen Minikleid, das nur an Festtagen aus dem Schrank kam. Ein Weihnachtsknopf. Aus Zeiten, als ich noch an Weihnachtsmann und Christkind geglaubt habe, vor allem ans Christkind, das ein grellgrünes Minikleid trug.

Wer erzählt, wer schreibt, schreibt vordergründig über Recherchiertes oder Erfundenes. Wir plotten unsere Bücher und verbinden die Szenen mit der richtigen Dramaturgie. Aber in jener magischen Zwischenwelt, aus der man den Kitt dafür holt, geht es ans Gebein, an die eigenen Innereien, in die Tiefe der kindlichen Schatzkisten und in die Untiefen magischer Tiermäuler, die Elektrizität fressen und Hände verschlingen können - wenn man ihnen zu nahe kommt. Man stellt sich den großen beigen Emotionen, den grellgrünen und hellblauen. Und auch denen, die so unsagbar tief verborgen sind, dass man sich manchal scheut, hinabzusteigen, weil einem alle Worte fehlen, um all das zu fassen.

Bücher, die einen berühren, können das umgekehrt auch. Sie führen ihre Leser in andere Welten, die doch irgendwie vertraut erscheinen. Sie zeigen die Schätze zwischen Leben und Tod. Und manchmal ist da ein Satz, eine Szene - und wir erinnern uns wieder. An das eigene Wort vor jeder Sprache. An jenes geheimnisvolle Bsssbüggg sssssnnkalóck, das bei jedem Menschen anders klingt und anders heißt und doch immer das Gleiche bedeutet.

Eines hat mich die Nähmaschine beim letzten Öffnen der Schublade gelehrt: Jene Schubladen wollen langsam und behutsam bewegt werden. Wer nicht achtsam ist, hört einfach nur eine schnöde Schublade. Es gibt so viele Bücher, in denen alle möglichen Schubladen klappern und krachen, lieblos, nach Mustern, und "weil man's so macht." Es gibt immer mehr davon im lauten Getümmel. Literatur jedoch hat dieses unsagbare Etwas mehr. Wohl deshalb wird sie aus einer Stille heraus geboren, aus einem Dazwischen und aus dem Innehalten. Sie ist so geheimnisvoll wie ein animistischer Kult, wie das Erleben eines Ureinwohners, eines kleinen Kindes. Man kann sie fühlen, aber kann man sie "lernen"?
Froh bin ich nur, dass ich nie Nähen gelernt habe. Wer weiß, was mir fehlen würde, wenn ich frühzeitig begriffen hätte, dass mein "magisches Wesen" nur eine seelenlose Maschine zum Arbeiten war.

5 Kommentare:

  1. Magie der Kindheit ...

    ... den Sachen und Sächelchen Atem einhauchen, können dies die Kinder heute?

    Sehr, sehr schön zu lesen ... und Ja auch ich hatte eine solche Maschine - einen symbolischen Gegenstand der mich beflügelte.

    Liebe Grüssle aus Augsburg

    Heidrun

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  2. Wunderschön hast Du das geschrieben, leibe Petra. Da kann ich bei fast jedem Satz jaaa rufen. Mit einer Einschränkung:
    Das Nähmaschinentier wäre seelenlos, wenn du selbst nähen könntest? Was hast Du denn für schmutzige Phantasien! Meine Mutter bekam 1960 auch eine Pfaff Nähmaschine (die heute noch läuft und auf der meine Schwester kleine Meisterwerke zaubert), und ich durfte damals gleich mit ihr in den Nähkurs. Damals war ich 10. Es war Winter, und im Hof des Gebäudes, in dem der Kurs stattfand, war ein Plumpsklo. Also, ich könnter Dir da jetzt eine lange Geschichte darum herum und um Nähen und alle meine Nähmaschinen herum erzählen. Ich habe damals tatsächlich Nähen gelernt, mein erstes Werk war eine Bluse mit Revers. Meine Mutter nähte in dem Kurs u.a. ein Deckchen mit Kordel- Verzierungen,nach heutigem Geschmack unsagbar hässlich in Farben und Design. Aber ich liiiiebe dieses Deckchen, es erzählt mir eine lange Geschichte voller Erinnerungen an meine Mutter. Und ich habe zwei Koffer voller Kleider, die ich mit 15, 16 nähte und in die nicht mehr reinpasse.Sie erzählen von Tanzstunden, erstem Kuss, ersten Diätversuchen, Baucheinziehen, Twiggy-Allüren,Duskussionen mit den Eltern über Rocklängen. Und ich habe einen alten Apothekerschrank mit unzähligen Schubladen voller Knöpfe,Bänder, Nähgarnspulen in allen Farben,andere Nähzutaten und und und ... also, liebe Petra, der Zauber verschwindet nicht, wenn man das Tier selbst zum Schnuren bringt! Ich kann mir ein Leben ohne Nähmaschine nicht vorstellen. Es bekommt nicht weniger, sondern noch mehr Dimensionen.
    Falls wir uns mal persönlich treffen, zeige ich Dir nicht meine Briefmarkensammlung, sondern meine Knopfsammlung ;-)

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  3. Da nehm ich dich beim Wort, solange ich nicht die Geschichten vom Plumpsklo hören muss ;-) Danke fürs Teilen deiner Erinnerungen. Übrigens "nähe" ich, zumindest geradeaus und um leichte Kurven, auf einer polnischen Lowicz. Leider hat der Anlasser eine Macke und schaltet nicht mehr ab und nun finde mal einen polnischen Anlasser ...

    Das mit der persönlichen Magie ist so eine Sache, wenn's in Arbeit ausartet. Ich schwärme wie wohl viele Schriftsteller für alte Schreibmaschinen. Denke immer, ich sollte doch mal in einem gewissen An- und Verkauf endlich mal so ein Urgetüm für rund 20 Euro kaufen, die sind so malerisch! Und verkneif es mir, weil ich nicht der Typ bin, der das ausstellt und das Herrichten?

    Auf dem Speicher habe ich eine riesige alte elektrische Schreibmaschine, eine der ersten. Die hat Museumswert, denn das war die Schreibmaschine der Sekretärin eines der Chefankläger der Nürnberger Prozesse. Ich bekam sie zum Volontariat geschenkt und sie mahnte mich drum immer als angehende Journalistin.

    Und irgendwann hatte ich so viele Schreibmaschinen und Tastaturen hinter mir und so viele Tastaturen gesehen, auf denen der letzte Dreck entstand, wo für Profit und Quote alles getippt wurde, dass Tastaturen für mich auch nur noch Plastikmüll sind. Nach spätestens anderthalb Jahren sind sie durch, ex und hopp, nix mehr mit Magie.
    Und ich ertappe mich dabei, dass auch die alten Maschinen diese Magie nicht mehr haben. Beruf stumpft ab. Was nicht heißt, dass andere nicht diese Ehrfurcht empfinden. Bei mir muss es dann aber schon das Keilschriftstäbchen sei oder das altägyptische Werkzeug für die Hieroglyphen ;-)

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  4. Plumpsklo- da fürchtet sich wohl die Synästhetin ;-)
    Das mit den Schreibmaschinen geht mir genauso: optisch reizvoll, aber doch mit miesen Erinnerungen verbunden- an unzählige Seminararbeiten mit Durchschlägen und mit schmerzenden Handgelenken,Tipp-Ex-Flüchen, Diplomarbeit mit immer wieder neu angefangen Seiten wg.Fehlerlosigkeit (auch mechanische Maschine). Die erste elektrische - welch ein Luxus. Die stand dann viele Jahre bei mir auf einem alten Singer-Nähmaschinentisch. Das fand ich passend: Text und Textil. Meine letzte elektrische hatte ein Interface für den Commodore 64 und war sauteuer. Dafür bekommt man heute drei Computer. Mehrere austauschbare Schrifträder! Ab da hatte mich der Computervirus gepackt.
    Oh, mit polnischen Anlassern kann ich so gar nicht dienen.
    Altägyptisches Werkzeug - tut´s nicht auch ein schöner europäischer Füller? Bei aller Liebe zur Technik: schöne Schreibgeräte und Papiere und Notizbücher erfreuen mein Herz immer noch wie zu allerersten Tagebuch-Zeiten. Das geht Dir ja auch so (http://cronenburg.blogspot.de/2012/08/das-menschenbuch.html)
    Und jetzt will blogspot, dass ich beweise , dass ich kein Robot sind. Nun denn.

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  5. kein Robot bin, wohl!E.M.

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