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18. Dezember 2020

Kann bei Nebel passieren

Im Winter mit dem Auto über die Bergstraßen hier zu kurbeln, ist zwar durch die Klimaerwärmung leichter geworden, aber trotzdem nicht ohne. Vor allem, wenn man ein Auto mit Mucken fährt, was in den Vogesen häufig vorkommt. Und so sind mir einzelne, scheinbar völlig nebensächliche Fahrten ins Gedächtnis eingebrannt. Diese typischen Ereignisse, von denen man gern am offenen Kamin bei einem Glas heißen Punschs erzählt, mit der Eröffnung: "Weißt du noch, damals?"

 



Da war diese Fahrt in den Hochvogesen mit "Madame", die in schwindelerregenden Höhen auf Waldarbeiter-Zufahrts"straßen" wie eine Berserkerin preschte. Als damals noch Kind der Rheinebene starb ich tausend Tode, weil auf diesen Straßen genau ein einzelnes Auto Platz hatte und derjenige, der abwärts fuhr, rechtzeitig eine Ausweichbucht ansteuern musste. Madame kümmerte es nicht, ob sie sich aufwärts oder abwärts bewegte, sie hatte es verdammt eilig, denn sie brachte den Holzfällern das Mittagessen. Was die Fahrt unvergesslich machte: Sie hatte keinen Führerschein. Hatte nie einen besessen. "Aber irgendwer, der nüchtern ist, muss doch den Männern ihren warmen Eintopf bringen!", pflegte sie zu sagen.


Da waren Arbeitsfahrten für ein berufliches Projekt, als unser Team seinerzeit den Rundwanderweg zwischen dem elsässischen Wingen und dem pfälzischen Nothweiler konzipierte und installierte, der heute ein Premiumwanderweg ist. Ausgerechnet in dem Jahr fiel natürlich der Schnee früh. Ich ließ mich meist mitnehmen von Ortskundigen, denn es ging quer durch den Bergwald. Erlebte, dass bei Baumfällarbeiten, wenn man über verbotene Waldwege vom Pass aus fuhr (wir durften das wie die Waldarbeiter mit Genehmigung), keine Warnschilder mehr dastehen wie an Straßeneinmündungen. Die riesigen Bäume fallen einfach. Ich bewunderte das intuitive Wissen meiner Chauffeusen und Chauffeure, wann und wo sie - wie von der Tarantel gestochen - auf die Bremse traten und warteten. "Das hört man doch, wenn der Baum schreit! Wenn du erst bremst, wenn er ächzt, ist es zu spät." Schnee und Glatteis an starken Steigungen sind dagegen ein Kinderspiel.


Gestern hatte ich eine abendliche Fahrt, die Alltag hätte sein können, eine Nebensächlichkeit und Routine. Ich fuhr selbst, in ein Dorf mit einer unscheinbaren Höhe von 500 m, auf einer Straße, die ich früher auswendig kannte von vielen Hundeausflügen in den Naturpark. Diesmal war alles ganz anders: Nach zwei richtig echten Lockdowns (die sich nicht nur so nennen) eine "lebensnotwendige" Fahrt mit dem üblichen Brimborium vorneweg: Statt Proviant für einen Ausflug Masken und Desinfektionsmittel und einen Passierschein zur Vorsicht. Ich wusste nicht, wie lange der Termin dauern würde und käme womöglich in die nächtliche Ausgangssperre ab 20 Uhr hinein. In Frankreich werden Verstöße gegen die Coronabestimmungen wirklich kontrolliert und auch saftiger als in Deutschland bestraft.


Ich kannte den Weg, aber ich sah ihn nicht wie gewohnt. Ständig beschlug die Scheibe von innen. War sie gewischt, sah ich nicht mehr: Im Wald waberte der Nebel. Dauerzustand im Moment hier - er lichtet sich selten, und weil es wärmer geworden ist, wölkt er sich abends dichter zusammen. Also fuhr ich extrem langsam, auf Schatten und womöglich leuchtende Tieraugen achtend. Im Nebel verschiebt sich die Wahrnehmung, die Welt scheint sich seltsam zu dehnen. Eine Kehre der Bergstraße kommt eher als erwartet, eine andere braucht viel zu lange, um aufzutauchen. Auch Zeit dehnt sich oder wird zusammengeknautscht. In der Dunkelheit sowieso. Hundertfach, womöglich tausendfach erlebt!


Aber diesmal hatte ich andere Gedanken im Kopf, die ich nur 2020 haben kann und an die ich mich womöglich darum Jahre später am Kaminfeuer erinnern könnte. Ich hatte dieses Gefühl von Maskensicht, das mich dann im Dorf real befiel, weil ich die Maske schon draußen aufsetzte: Meine Brille beschlug völlig. Ich muss das niemandem erklären. Es hilft auch nichts, mir zu sagen, dass sie eigentlich wegen des Temperaturunterschieds beschlug, denn auf dem Hügel herrschte Frost.


Es ist dieses Gefühl aus einer realen Erfahrung heraus, ständig in einen Nebel zu tappen; Angst zu haben, die Kehrtwendungen nicht rechtzeitig mitzubekommen. Scheinbare Gefahren lauern im Dunkel, die wir tagsüber wahrscheinlich als niedlich ansehen würden. Wege, Lebenswege landen scheinbar im Nichts, wo man früher klar sah, in welche Richtung es weiterging, wo das Ziel lag. Und irgendwie nutzte auch der Führerschein nicht viel, wenn doch die verdammte Türdichtung zu viel Feuchtigkeit hereinließ. Selbst das Dorf verwandelt sich in Dunkelheit und Nebel und obendrein beschlagener Brille. Zweimal bin ich im Kreis gefahren. Einmal in die falsche Richtung gelaufen. Menschenleere, wo man früher nach dem Weg hätte fragen können. Was wie eine erleuchtete Bäckerei wirkte, entpuppte sich als Ausstellungsraum der Feuerwehr. Hetzende Wägen von Handwerkern, die vor der Ausgangssperre zu Hause sein wollen. Maskennebel. Aerosole. Wie Dunst deckt das Denken an die Pandemie alles zu.


Und dann muss ich laut lachen. Weil ich an superdichten Wasserdampf denken muss. Superdichter Wasserdampf hilft nämlich immer - vor allem gegen die Unholde des Winters, gegen Schneemänner und aufdringliche Eis-Gouvernanten. (Dr.-Who-Fans werden wissen, wovon ich rede: Video). Ich lachte noch, während ich mit Maske und beschlagener Brille etwas unsicher eine steile alte Steintreppe nach oben stieg, die vom echten Nachtnebel umwabert wurde. Mein Ziel: eine alte Holztür. Die Pandemie hatte ich fast vergessen, wenigstens für eine kleine Weile, denn ich stieg durch superdichten Wasserdampf zu einer Holztür nach oben.

 

Muss ich noch sagen, dass es innen größer war als außen? Ich schwöre! Allerdings fehlte ein gewisses Geräusch und auch die Einrichtung sah eher konventionell aus, als der Doktor öffnete ... also der Landarzt ...

9. Dezember 2020

Von lebenden Computern und K.I. mit Magie

 "Wir haben das Privileg, die Welt zum Guten verändern zu können." Irgendwo hörte ich kürzlich diesen Satz und empfand ihn spontan als unverschämt. Wieso sollte ich es als Privileg empfinden, dass der Karren so tief im Dreck steckt? Doch dann fiel mir auf: Ein Privileg ist etwas Tolles, Erstrebenswertes. Das will doch eigentlich jeder gern haben. Und mit Freude anwenden. Schwupps, war die Perspektive verändert, wenn auch durch Provokation: Ich müsste nicht mehr kostbare Zeit damit verschwenden, über den Dreck zu jammern und mich zu empören, weil der um 9 Uhr 28 genau 2,58 cm tiefer sei als gedacht - ich könnte mich ganz auf die möglichen Lösungen konzentrieren. Und wenn das möglichst viele machen, würden wir auch den Karren da rauskriegen, garantiert! Mit vereinten Kräften ist alles möglich. Aber kann man in diese Veränderungen irgendwie reinschauen, um zu verstehen, wie viele Menschen an den Lösungen herumbosseln?


Makroaufnahme von Chlorociboria aeruginascens, dem Kleinsporigen Grünspanbecherling, einem Schlauchpilz, der am Boden liegendes morsches Laubholz besiedelt. Sein Myzel (Mitte leicht rechts als weiße Fäden zu sehen) durchdringt das Holz komplett. Wie die Fruchtkörper enthält es das sehr stabile Pigment Xylindein, das auch nach dem Absterben des Pilzes im Holz verbleibt und dieses blaugrün färbt. Schon in der Renaissance war das Holz mit dem Pilz begehrt für Intarsienarbeiten. Pilze, die lange Zeit fälschlicherweise für Pflanzen gehalten wurden, bilden heute ein eigenes Reich unter den Lebewesen mit erstaunlichen Parallelen zur Tierwelt. Die Forschung, was sie wirklich können, steht eigentlich erst am Anfang. Hier geht es um wahre Wunderwelten, die noch zu entdecken sind!



Von einem solchen Einblick ein ganzes Wochenende lang will ich erzählen. Muss aber etwas ausholen, um es begreifbar zu machen. Es ist auf den ersten Blick zu schräg, es ist mindblowing, bläst einen beim Nachdenken schier um.

 

Muss das sein? In diesen mühseligen Monaten auch noch Kompliziertes denken? Müssen wir nicht einfach nur auf 2021 warten und dann ist alles wieder gut und wir können weiterwurschteln wie bisher? Und was heißt "mit vereinten Kräften verändern"? Sind wir nicht gerade verdammt allein, sofern wir uns vernünftig verhalten, in einem tatsächlich echten Lockdown sitzen oder keine mehrköpfige Familie um uns haben? Sind wir nicht vielleicht auch ganz schön allein, während wir mit den immer gleichen Menschen im eigenen Denksaft braten? Perspektiven verändern in einer Welt, in der Sauerteig und Klopapier zu einer ikonischen Einheit verschmolzen sind - wie soll das funktionieren? Is there anybody out there? (Link: Video)

 

Es geht darum, scheinbar nicht Zusammenhängendes zusammen zu denken: Klopapier und Sauerteig, das mag ja noch angehen. Beides ist über die Verdauung recht logisch verbunden. Aber künstliche Intelligenz, die von "Technohexen" mit Pflanzenwissen gefüttert wird, um Ethik zu lernen? Wie verrückt ist das denn? Kann man so etwas ernst nehmen? Und wie würde sich K. I. verändern, wenn es längst passierte? Wer füttert eigentlich K. I. und womit und warum?

 

Was im Moment in vielen Bereichen des Lebens passiert, nennt man Disruption von lat. disrumpere = zerreißen, zerschlagen, zerplatzen. Etwas passiert oder wird entwickelt, das völlig neu und absolut ungewohnt ist. Und das entwickelt sich dann plötzlich so schnell oder stark, dass etwas Altes dafür wegfällt, überflüssig wird, zerplatzt. Geht es dabei nicht mehr nur um eine Technologie, zerreißt uns also einiges mehr im gesellschaftlichen Leben, dann kann das bis zu einer Zeitenwende führen. Solche Umbruchzeiten sind einerseits spannend und anregend. Sie machen jedoch auch besonders deutlich und sichtbar, wo alte Privilegien verloren gehen oder abgeschafft werden - und wo dazugelernt werden muss, wo sich Menschen weiter entwickeln müssen. Das ist besonders mühsam, weil man noch nicht das Endergebnis sehen kann, nicht weiß, ob sich die Mühen lohnen werden.

 

Disruptionen kann man im Alltag bemerken, wenn die "Realität" in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abzulaufen scheint. In einem Haus lebt der Jean mit seiner Familie, der den gleichen scheußlichen Discoglitzerkram wie jedes Jahr an der Garage befestigt hat und sich darüber aufregt, dass sein Konsumverhalten zum Weihnachtsfest komplizierter geworden ist. Im Haus daneben lebt Paul, der sich insgeheim freut, dass die unleidliche Tante sich der Technik verweigern wird und er endlich mal Weihnachten ohne Stress in Ruhe verschlafen kann. Jean schimpft wie ein Rohrspatz, weil er die riesige Feuerwerkssause nicht machen kann. Paul ist hin und weg, dass Paris aufs Feuerwerk ganz verzichtet und stattdessen eine Neuerung online überträgt: Kultmusiker Jean Michel Jarre wird live ein Konzert in Notre-Dame geben. Moment ... war die Kathedrale nicht kaputt, geschlossen? Jarre wird als Avatar in der Kathedrale sitzen - sie wird komplett digitalisiert sein. 2020 ist nichts und doch alles möglich. (Übertragung weltweit z.B. auf youtube live).

 

Jean und Paul leben keine 100 Meter voneinander entfernt in der gleichen Welt. Aber ein einziger Mausklick fühlt sich an wie eine Zeitmaschine. Die Disruption sitzt sozusagen digitalisiert in einer virtuellen Kathedrale. Sie beeindruckt aber nicht nur den interessierten Paul, sondern verändert - viel unauffälliger, weil alltagstauglich - auch Jeans Leben: Der trifft seine Oma virtuell und über Video. Sowohl das Innere eines halb abgebrannten Kulturerbes wie das Lächeln von Jeans Oma sind plötzlich weltweit abrufbar, erlebbar. Fast wie in einer Parallelwelt dazu existieren jedoch uns nahestehende Menschen, die an der neuen Technologie nicht teilnehmen können oder wollen. Genauso, wie Kulturerbe in Archiven vergessen wird oder durch die Schließung von Einrichtungen nicht erlebbar ist. Wir schreiben 2020 und sind gefordert, all diese parallelen Erlebniswelten unter einem Hut integrieren zu müssen. Was wünschen wir uns für 2021, für 2120? Wieviel verrückte Parallelwelt darf's denn sein?


Am Wochenende habe ich sozusagen Paul besucht. Ich habe mir nämlich vorgenommen, all den anliegenden Unmus des Jahres so positiv wie möglich zu nutzen und nachzuschauen, ob da draußen noch andere Leute den Status Quo gar nicht mehr zurückhaben wollen, sondern längst über Neues nachdenken. So geriet ich - via Twitter übrigens - an ein digitales Festival mit dem verrückten Titel "The Shape of A Circle In The Mind Of A Fish - The Understory of The Understory." Das heißt ungefähr "Die Form eines Kreises im Verstand eines Fisches" - und dann wird es doppeldeutig: understory ist das Unterholz, kann aber im übertragenen Sinne auch eine Zwischenschicht einer Geschichte sein. ... Fische, die denken?


Das Ding mit dem Fisch ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung der Serpentine Galleries in den Londoner Kensington Gardens, die ein ungemein spannendes Programm in Sachen zeitgenössischer Kunst und grenzüberschreitenden Denkens anbieten. Was ich bisher nicht wusste, weil ich nie in London war. Aber das ist eben auch 2020: Plötzlich steht einem die Welt offen, werden Reisen überflüssig. Und man kann sich so vieles leisten - das Festival war für TeilnehmerInnen kostenlos, es wurde getragen von Mäzenen und Sponsoren. Es hat übrigens tatsächlich mit denkenden nichtmenschlichen Wesen zu tun: Es geht nämlich um die Frage nach Bewusstsein und Intelligenz bei nichtmenschlichen Lebensformen, in Kunst und Wissenschaft gleichermaßen gespiegelt. Und damit steht natürlich die Frage im Raum, ob wir Menschen nicht endlich vom anthropozentrischen Weltbild Abschied nehmen müssen - und wie das funktionieren könnte. Soviel sei verraten: Perspektivverschiebung hilft dabei. Die irgendwann vielleicht in einem Paradigmenwechsel münden wird.


Als wissenschaftliche LaiInnen bekommen wir das Thema am Rande öfter mal in TV-Dokus mit. Plötzlich finden ForscherInnen Faszinierendes über die Kommunikation unter Delphinen, die vor Jahren so schlicht noch nicht messbar war. Sind Menschen vielleicht einfach noch zu doof oder messtechnisch noch nicht weit genug, um nichtmenschliche Sprachen zu erfassen? Was ist Sprache? Einst wurde in der Schule gelehrt, es handle sich dabei um ein Privileg von Homo sapiens. Heute schreiben WissenschaftlerInnen auch anderen "Urmenschen" eine Art Sprache zu. Sprache muss nicht einmal zwingend über Laute laufen. Auch Gebärdensprache ist eine. Warum soll die komplexe Grammatik von Bäumen, sich mit chemischen Absonderungen zu verständigen, nicht fächerübergreifend linguistisch betrachtet werden?


Auch ein Subjekt der Intelligenzforschung: Tintenfische begeistern uns nicht nur, wenn sie 3-D-Filme anschauen. Heute wissen wir, dass Kopffüßer ähnlich komplexe "Denkapparate" haben wie Hunde. Sie werden sogar dazu herangezogen, um alternative Modelle für Intelligenz zu entwickeln oder darüber nachzudenken, wie außerirdische Intelligenz funktionieren könnte. Von solchen Einzelentdeckungen abgeleitet: Was wäre, wenn wir Bewusstsein und Intelligenz völlig neu denken müssten?


Natürlich sind auch die Ökologie und die Wissenschaft in ihrer Fragenstellung oft ihrer jeweiligen Zeit verhaftet. Das merkt man schmerzlich und besonders deutlich, wenn man etwa auf kolonial geprägte Herangehensweisen der Vergangenheit schaut, die heute für manches Museumsarchiv zum Problem werden. Es begegnet uns aber auch unauffälliger in Bereichen, wo scheinbar feststehende Definitionen nicht oder deutlich hinterfragt werden: Was genau ist ein Gehirn? Woran machen wir Intelligenz fest? Was dient als Vergleichsreferenz: Ist es Homo sapiens? Ist unsere Vergleichsreferenz allein überwiegend männlich oder weiblich? Wird Mensch überwiegend "weiß" gedacht? Wie kolonial verhalten wir uns, wenn wir etwa indigene Denksysteme nicht ernst nehmen oder ausklammern?

 

Die komplette Disruption hieße: Wir nehmen uns Menschen aus dieser überkommenen zentralen Stellung heraus und alles nichtmenschliche Leben gleichberechtigt wahr. Schließlich besteht allein unser Mikrobiom aus ungefähr so vielen Mikroorganismen, wie wir überhaupt Körperzellen haben. Wer also sind wir und wenn ja, wie viele?


Man kann daran gut erkennen, dass man schnell an die Grenzen des Beschreibbaren kommt. Wissenschaft und Philosophie rücken zusammen. Und wie lässt sich etwas bisher kaum Gedachtes ohne Fachsprache ausdrücken?

 

Wenn Mensch keine Wörter mehr haben, bleiben ihnen Bilder, Töne, Oberflächen, Kreativität. Kunst ist diese wichtige Schnittstelle, die wild und frei mit Ausdruck experimentieren kann, mit noch nicht Gedachtem, mit Ahnungen oder Provokationen. Hier lassen sich Bereiche zusammenbringen und zusammen denken, die sonst getrennt laufen. Nicht umsonst gibt es seit Jahren einen Trend zur sogenannten SciArt - Kunst, die sich auf Wissenschaft stützt oder mit Wissenschaft experimentiert. Von diesen Überschneidungen, die sich mit der Erde, dem Boden, der Ökologie beschäftigen, möchte ich ein paar Highlights herausgreifen.

 


Was mich am meisten inspirierte:

Kunst als Einstieg. Einfach wirken lassen - es steckt so viel drin in dieser "lebenden Skulptur", der Videokunst von Ayesha Tan Jones: Into the Earthheart - a walk, a conversation, an exchange. Nehmen wir die Nachwirkungen auf den nächsten Naturgang mit ... machen wir mit bei den Berührungen ...

 

Maria Puig de le Bellacasa: When the word for world is soil. Wie benennen wir Erdboden - was sagt das über uns aus, wie wir mit der Erde umgehen? Ist neben allem Aktivismus und Faktenlage eine Transformation möglich, dass wir auch spüren, wofür wir uns engagieren? Wie gehen wir mit ökologischen Problemen und unserer Trauer darüber um? Ein Vortrag über spekulative Ethik und Ökologie in Mensch-Erde-Beziehungen.


Long Litt Woon, The Way Through the Woods: On Mushrooms and Mourning. Nature Writing einer Anthropologin, die das Erzählen zweier paralleler Welten praktiziert (s. o. Jean und Paul): Lesung. In ihrem Buch entdeckt die Autorin bei einer Ausbildung das Reich der Pilze in der Natur und andere Pilzbegeisterte. Parallel dazu versucht sie, die Trauer um ihren langjährigen Lebenspartner zu verarbeiten. Ein Text wie für unsere Zeit der Pandemie mit ihren Verlusten geschaffen.


Lynne Boddy: Death and Decay – The Keystone of Life in the Natural World. Passend zum Thema Pilze und Trauern wird es hier wissenschaftlich und hochspannend: Wir lernen diese Lebewesen näher kennen und ihre faszinierende Arbeit beim Aufbrechen organischer, aber auch anorganischer Stoffe, ihre Rolle beim Verrotten und Zerfall - Tod und Auflösung werden zum Schlüssel fürs Leben.


Merlin Sheldrake: Entangled Life - ein Must für alle, die sich noch überlegen, ob sie den Bestseller Entangled Life lesen sollen, der inzwischen auch in deutscher Sprache zu haben ist. Merlin Sheldrake hat außerdem eine ungemein charmant-leidenschaftliche Art, von seinem Sujet zu erzählen.


Andrew Adamatzky in conversation with Merlin Sheldrake. Mein absolutes Highlight des Festivals, schon allein deshalb, weil diese beiden Wissenschaftler so voll Leidenschaft sind für das, was sie untersuchen. Andrew Adamatzkys Führung durch sein Labor und seine Arbeit, unterstützt durch die klugen Fragen von Merlin Sheldrake, macht riesigen Spaß! Der "Professor of Unconventional Computing and Director of the Unconventional Computing Laboratory" hat eine herzerfrischende Art, Hochkompliziertes so zu erklären, dass man es versteht - und das will etwas heißen, denn seine Arbeit klingt auf den ersten Blick verrückt. Er züchtet nämlich nicht einfach nur Pilzmyzel und Schleimpilze, untersucht neuronale Netze und mögliche Intelligenz dieser Lebewesen - er integriert sie auch in Schaltkreise. Ist es denkbar, dass Computer eines Tages mit solchen Lebewesen verschmelzen und Chips aus lebenden Zellen wachsen? Nach diesen durchaus humorvollen und hochspannenden Einblicken werde ich nie wieder Pilze so nebenbei wie bisher essen können.


The Coven Intelligence Program, Which plant would you choose to teach ethics? Ist es Kunst, ist es angewandte Wissenschaft, Provokation oder Poesie? Die Grenzen verschwimmen öfter bei diesem Festival und das inspiriert. Das Coven Intelligence Program nennt sich selbst einen techno-botanischen Coven, der dazu ermuntern will, Pflanzen und Maschinen zu verknüpfen. Im Film geht es um einen veränderten Zugang von Mensch zu Pflanze, ähnlich, wie er in indigenen Kulturen zu beobachten ist: Die Pflanze wird zur Lehrerin im Gegensatz zur anthropozentrischen Sichtweise, die nur einen möglichen Nutzen von Pflanzen berechnet, sei dieser wirtschaftlich oder ökologisch. Im Film wird darum modernste Agrartechnologie, die K. I. nutzt, gegenübergestellt zu persönlichen Betrachtungsweisen von Heilpflanzensammlerinnen. Hochinteressant wäre ein Versuch, tatsächlich K. I. auf diese Weise mit Informationen zu füttern, die aber immer noch von Menschen käme.


Das alles ist nur eine kleine Auswahl von einem Programm, für das man sich besser mehr Zeit nimmt als nur zwei Tage. Vielleicht gibt es einen kleinen Einblick anhand nur eines einzigen, stark begrenzten ökologischen Themas, wie vielfältig weltweit darüber nachgedacht, geforscht und experimentiert wird. Nicht alles wird eines Tages in Jeans Küche oder Garten landen, aber aus einem solchen Geflecht entsteht Zukunft. Vielleicht schon in dem Moment, in dem Jean verwundert einen Champignon zwischen den Fingern dreht.

28. November 2020

Schönheit: der andere Blick

 "Schönheit liegt im Auge des Betrachters", heißt ein Sprichwort. Ist das so? Und wenn ja, könnte ich meine Augen dann irgendwie anders einstellen, damit ich an einem Tag nicht nur Hässliches sehe? Wenn ich darüber nachdenke, erinnert mich das an den sogenannten KünstlerInnenblick, der auch so anders als der normale Alltagsblick sein soll. Setze ich mir den auf wie eine Brille? Und was wäre umgekehrt, wenn alles in sich schön ist und nur wir Menschen oft zu blind sind, die Schönheit zu erkennen?


Wie in einem diffusen Nebel verwirren sich die Tage.



Der neuerliche Lockdown in Frankreich, der nun schon einen Monat währt und sehr viel strenger und härter ist als das gleichnamige Etwas in Deutschland, fordert seinen Tribut. Weil er in die trübe und kalte Jahreszeit fällt; weil man ein zweites Mal etwas aushalten muss, von dem man im Mai glaubte, es sei überstanden; weil es trotz Hoffnung auf einen Impfstoff nach den Feiertagen wieder so kommen kann. Was mir speziell zusetzte, war die Begrenzung von Bewegung in der Natur, die seit heute zum Glück gelockert wurde. Dazu nagen an mir die seit März gestrichenenen Möglichkeiten, öffentlich zu arbeiten, und die permanent unausgesprochene Verurteilung: "Du bist nicht systemrelevant. Kunst und Kultur kann man nicht essen!" Inzwischen bin ich in einem Zustand, in dem ich morgens beim Aufwachen nicht mehr sagen kann, welcher Wochentag eigentlich ist. Ich verliere die Orientierung in der Zeit - und die im Raum schrumpft aufs enge Lokale zusammen, aufs immer Gleiche. Selbst im Traum kommen mir die Menschen abhanden.


Wie hält man das aus?

Es gibt viele schlaue Tipps und Tricks, wie man das alles durchhält ohne verrückt zu werden. Und so schaffe ich mir meine eigenen Rituale der Rückverknüpfung mit der physischen Welt, vor allem einer Welt jenseits der auf uns hereinprasselnden Horrornachrichten. Diese schöne und ruhige und beruhigende Welt ist ja weiterhin da - nur haben wir unseren Blick manchmal arg verschoben. Manchmal komme ich mir vor wie die Maus vor der Schlange: Blicke ich zu stark nur auf die Katastrophen, dann erstarre ich vor der Schlange, obwohl die mich vielleicht gar nicht packen würde, wenn ich mich bewege. Oder wie Nietzsche das (Aph 146) formuliert hat:

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Eins dieser Rituale ist, morgens vor dem Frühstück an der frischen Luft tief zu atmen und zu spüren, wie sich die Eigenschaften der Luft jeden Tag verändern und etwas vom Wetter und den Jahreszeiten erzählen. Dazu reicht ein geöffnetes Fenster. Und danach möchte ich ein Bild von Schönheit finden, vielleicht sogar fotografieren. Etwas Klitzekleines. Weil mir die Natur so am Herzen liegt und der Mensch auch nur ein Tierchen ist, suche ich diese Winzigkeiten in der Natur selbst. Aber man kann genauso die Holzstruktur eines Kochlöffels betrachten oder die Oberfläche des Fensterbretts, das darauf wandernde Sonnenlicht.

 

Unscheinbares, das miteinander verwandt scheint in seinen Kräuselungen und Windungen: Baumwollgarn, Wurzeln, getrocknete Baumpilze (re. u.). Die Schönheit von Wirrwarr.

 

 

Rituale der Schönheit

Was ich auf dem Foto oben gesammelt habe, trägt Geschichten in sich. Das Baumwollgarn ist von der Sorte, mit der man Rouladen oder Rollbraten bindet. Ich hatte es im Sommer beim Färben von Papier mit Pflanzenfarben für die Bündel verwendet. Ich werfe es nicht weg - es durfte in Regen und Sonnenschein im Garten verwittern, sich weiter verfärben. Ideal, um damit in Art Journals zu arbeiten. Dieses Garn erzählt von der Schönheit der gefärbten Papiere und einer Jahreszeit, vom Draußensein und Vergehen, vom Brüchigwerden und von Algengrün auf Holunderblau.

 

Das andere Gewirr oben fand ich in den aufgepflügten Schollen der Maisfelder. Die korkenzieherartigen Windungen faszinieren mich, die Robustheit der Stränge, die Ähnlichkeit zum Garn. Aber es ist nicht menschengemacht. Es handelt sich um die Wurzeln einer Grasart, die sich mit starken Ausläufern verbreitet. Warum diese Wurzelstränke sich derart kräuseln, weiß ich nicht: War es die andauernde Dürre in der Konkurrenz zum Mais? Sind Herbizide schuld? Es sind die getrockneten "Fäden", die im Erdreich Wasser saugen sollten. Wasser brauchte auch das Gekräusel rechts unten im Bild. Als Baumpilz im Regen war es größer, weicher. Nun ist der Pilz getrocknet. Er erzählt mir von einem Platz im Wald, an dem gehacktes Holz vergessen worden war. Ich erinnere mich an die Bäume im Umfeld, die Wildschweinspuren und die Gerüche. Wie ledrig-flauschig sich der Pilz anfühlte. Und all das zusammen ist unwahrscheinlich schön, finde ich. Genauso wie das Papier, das ursprünglich scheußlich knallorange war. Ich hatte es den ganzen Sommer lang an eine Mauer geheftet und dem Wetter ausgesetzt. Jetzt lebt es.


Getrocknete Graswurzeln - wie Schnüre, wie Garn



Ich kann einen "Makroblick" aufsetzen und die Schönheit in winzigsten Strukturen erkennen. Wann habe ich das letzte Mal ein Moospolster genauer betrachtet? Da wuselt und lebt es drin, es gibt Blüten und kleinste blattähnliche Formen! Während wir einen Kilometer laufen durften, ließ sich Entfernung dehnen: Ich war mit einer großen Lupe unterwegs, entdeckte Mikrokosmen. Es ist gar nicht so sehr die Voraussetzung, dass wir einen "anderen" Blick bräuchten - es ist lediglich unser Fokus. Wie bei einer Kamera können wir einstellen, ob wir in die Ferne schauen oder in die Nähe. Wir können einen Baum in seiner ganzen Größe erfassen, aber dann auch schauen, wie sich die Struktur der Rinde an Ästen und Stamm verändert, ob seine Blätter eher weich oder ledrig sind, können das reine Sehen mit dem Fühlen und Berühren verbinden.

 

Texturen sehen und fühlen - so erinnern die Schichtungen des Schiefers plötzlich an die Holzschichten einer uralten Clematisliane.

 

 

Texturen und Oberflächen kann man zwar mit den Augen erkennen, aber sie bleiben seltsam flach, wenn man sie nicht auch fühlt. Vielleicht sogar riecht oder lauscht. Ein Herbstblatt riecht anders, wenn es in einer Pfütze lag oder noch am Baum hängt. Wenn ich auf einen Ast klopfe, klingt er. Wenn ich durch Herbstlaub raschle, kann ich es hören. Ich höre im Herbst, wie der Wald seine Früchte abwirft und wie im Wind Blätter herabquirlen.


Und da bewegen wir uns zu dem hin, was man den KünstlerInnenblick nennt. Es handelt sich um eine andere Aufmerksamkeit. Das lässt sich üben: Weg von der eindimensionalen Erfassung mit nur einem Sinn, hin zur Verwendung aller Sinne. Und genau hinfühlen, Ähnlichkeiten erkennen, spontan Assoziationen bilden, durch etwas erinnert werden an etwas völlig anderes ...

 

Knochen oder Holz - irgendwann wird beides von Lebewesen umgewandelt werden in Humus, der die Wurzeln links im Bild nähren wird. Aus Vergangenem ensteht neues Leben.

 


Ich persönlich bin z.B. fasziniert davon, wie sich vergehendes Leben gleicht, egal, ob es pflanzlich oder tierisch ist. Und letztendlich wird ja beides zu Boden. Diesen Fokus haben mich meine Hunde geleert, die im Wald lange vor mir das Aas entdecken oder Knochen aufstöbern. Bilbo ist da ein ganz fleißiger als Spürhund - und er schenkt mir die Knochen. Wehe, ich nehme so ein Geschenk nicht an, dann ist er den ganzen Tag grätzig. Und so sammeln sich seine Knochenfunde und meine Stöckchen. Erinnern aneinander in Farben oder Oberflächen.

 

Verwandtschaften

 

 

Egal, was man anschaut, sammelt oder fotografiert: Jeden Tag vor dem Frühstück etwas Schönes finden und dieses Bild mit in den Tag nehmen - das ist gar nicht so schwer. Es übt sich ein mit der Zeit.


Hundegeschenke darf ich nicht ablehnen. Was im Wald lag, erzählt Geschichten - hier hatte sichtlich jemand genagt und Freude gehabt. Darüber Holunderholz. Und Holz- und Knochenknospen.




Eichenlaub und Holunderrinde


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17. November 2020

Umgeschaufelt!

Vorab: Bilbos Talkshow am Do. um 16 Uhr wird ein Treffen mit einem netten Grüppchen - ihr könnt noch dabei sein! Einfach kostenloses Ticket reservieren! Das macht ihr HIER und über das Zoom-in schrieb ich HIER. Es gibt weder Kleideretikette noch einen Zwang zum Schlausein, betrachtet es als nette Abwechslung und Teeküche, durch die ein Hund schlappt.

Was das ist und was das macht, erfahrt ihr im anderen Blog.


 

Und dann hab ich im Hintergrund noch mehr "gebastelt", nämlich mein olles Erdölblog umgeschaufelt, in dem kaum was passierte, weil ich ja selten zu diesem Thema schreibe. Darf ich vorstellen:

 

Landscapes of Change

NATURE WRITING, BIODIVERSITY & BEAUTY - In The Borderlands Of A Nature Park

 

Das neue alte Blog ist thematisch also breiter geworden und ich werde alles Nature Writing, das nette Alltagsgeschichtle übersteigt, künftig dort bringen. Etwa den neuen Beitrag, der Teil meines Nachdenkens zu meinem Essaythema ist und von einer besonderen Begegnung mit einer königlichen Blume handelt: Sweet Lady Violet.

 

Das neue Layout ist etwas gewöhnungsbedürftig. Ich wollte es aufgeräumt und lesefreundlich. Darum ist jetzt aller Kram im Menu verschwunden, das man - zumindest auf dem PC - leider nur von der Hauptseite aus ansteuern kann (3 Querstriche am Titel). Das bleibt erst mal so, bis irgendwann zuviel Zeit, zuviel Energie und Lust da sein werden, da ein richtiges Design-Layout händisch aufzusetzen. Muss ja nicht alle perfekt sein. Ich hoffe nur, die Leute kommen drauf.

 

Es lohnt sich, das Menu dort aufzuklappen, denn darin gibt's unter "Inspirationen" meine Lieblingsmagazine und virtuellen Plätze zum Nachdenken und Wohlfühlen.

 

Ich weiß, viele von euch werden es schade finden, dass ich dort Englisch schreibe.

 

Das hat schlicht berufliche Gründe. Manche der Beiträge brauche ich für ein internationales Projekt, bei dem Französisch und Englisch die Sprachen sind, in denen ich etwas präsentieren kann. Und ich denke und schreibe schneller und besser, wenn ich mich nicht selbst mühsam übersetzen muss. Und dann sehe ich in Sachen Nature Writing einfach in deutscher Sprache weniger Möglichkeiten (die mir dann auch noch zusagen). Letzte Ausrede: Ich übe da schreiben, weil ich etwas eingerostet bin.


Die Entscheidung war, denke ich, ganz gut. Obwohl das Blog gar nicht eingeführt und weitgehend unbekannt ist, hatte ich auf meinen letzten Beitrag innerhalb von zwei Stunden so viele LeserInnen wie hier im altbekannten Blog innerhalb einer Woche bei Nature Writing-Themen. Und zwar Bots schon rausgerechnet. Aber keine Angst, dieses Blog bleibt in alter Frische erhalten, irgendwo muss ich ja frei Schnauze und im Tipp-Überschall quasseln können!



12. November 2020

2020: The Year We Miss Contact

Was länge währt, wird hoffentlich trotzdem gut! Ich hatte nach Bilbos OP eine Talkshow auf Zoom versprochen, weil er so viele treue Fans hat, die ihm alles Gute wünschten. Ein kleines Dankeschön für all die lieben Grüße! Es dauerte etwas, bis ich selbst wieder restauriert war, aber nun setze ich das Dingens wirklich an. Spätestens am WE ist der Link online, merkt euch schon mal nächsten Donnerstag am Nachmittag vor!

Oakywood-Star Bilbo von Butterblum bei der Ideensuche

 

Derweil flippt Hauptstudiogast und Inspirational Manager Bilbo von Butterblum voll aus! Sein Wunschtitel der Sendung: "2020: The Year We Miss Contact" - "2020: Das Jahr, in dem wir Kontakt wegnehmen". Ich entschuldige mich aufrichtig bei Arthur C. Clarke und Peter Hyams ... aber was will Homo sapiens schon machen, wenn Hunde entscheiden!


Ich kann derzeit nur eins versprechen: spontanen Klamauk (wahrscheinlich bis zur Unterirdischkeit), Livegequassel je nach Tagesform und eine hypernervöse "Macherin", die so etwas noch nie gemacht hat. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob "le Viech" überhaupt vor der Kamera sitzenbleiben möchte! Ich weiß auch nicht, wie man eine deutsche Talkshow konzipiert oder moderiert, weil das die Sendeform ist, die ich meide wie der Teufel das Weihwasser. Ähnlich sind meine Gäste - sie verweigern sich einem Lanz ebenso wie einer Maischberger.


Oakywood-Star Bilbo von Butterblum wird ein bißchen von seiner wundersamen Genesung nach übelster Fehldiagnose und dann richtiger Diagnose und OP erzählen - und wie uns Madame Blanche im Vorfeld beraten hat - des Nachbars kranke Ziege. Man ahnt es schon: Sein Thema ist das verquere Denken von Homo sapiens und wie aus dieser Fehlmutation doch noch ein anständiges Tier werden könnte. Ich habe ihm angedroht, die Tagespolitik raushalten zu wollen, aber der Kerl kommt ja von Hölzchen auf Knochen.


Nicht ganz geheuer sind mir seine Talkgäste, die er mitbringen will: Madame Ballaballa und Urs Sonsjöh. Madame Ballaballa hat bereits eine Unterlassungserklärung unterschreiben müssen, dass sie in der Sendung nicht missionieren wird und keine Werbung für Fakenews macht. Immerhin habe ich eine Koryphäe mit ihr einkaufen können: Dr. Susi Ballaballa hat in Textilwissenschaft und Lautlinguistik promoviert, sie gilt derzeit in der ganzen Republik (egal welcher) als die Fachfrau für Dentalverschiebungen textiltextureller Gesellschaftskontexte im Interspezies-Konflikt des 21. Jahrhunderts. (Ich werde das vom Zettel ablesen!) Warum sie ausgerechnet darüber sprechen will, dass Wollmäuse demnächst die Weltherrschaft übernehmen werden, ist mir ein Rätsel - darum auch dieses Unterlassungsdingens.


Urs Sonsjöh, ein Bär nur mit Nase, hält sich derweil bedeckt. Er dressiert Wollmäuse und mag keinen Honig. Ich hoffe, es wird sich nicht um einen dieser Dauerschweiger handeln, dem man alles wie Würmer aus der Nase ziehen muss. Ein Maul hat er ja auch nicht. Aber das werde ich am Wochenende beim Casting sehen und Monsieur von Butterblum wird das schon schaukeln.


Unsereins, also ich als einzige Vertreterin von Homo sapiens, werde bei der Talkshow eh nichts Eigenes zu sagen haben - ich fungiere als Simultanübersetzerin sämtlicher Wesenheiten - oder wie David Abram sagen würde, the more-than-human world.


Demnächst also in diesem Theater - stay tuned - und drückt mir die Daumen, denn ich schwitze jetzt schon vor Angst.

Und hier geht's zum TICKETSCHALTER !

Die Veranstaltung am Do., den 19.11. um 16 Uhr (40 min) ist kostenlos, aber der Organisation halber muss man sich Tickets nehmen. Es gibt kostenlose Tickets und Spendentickets. Bei letzteren bestimmt man die Höhe der Spende selbst (via Paypal). Die Spenden werden für die Tierarztrechnungen benutzt.

6. November 2020

Wenn die Familie durchknallt

Anfangs, in den 1970ern, war ich jung und naiv. Da habe ich welche von denen, über die ich heute schreibe, als Brieffreundschaften gepflegt. Heute bin ich viel älter, erfahrener, aber es hätte auch kein Schnaps geholfen bei dem, was ich gestern erlebt habe. Es geht um das leidige Thema der Katastrophen von 2020, die gefährlichen Zuspitzungen bei den US-Wahlen, die immer auch damit verbandelte Bestrebungen in unseren eigenen Ländern betreffen. Es geht um die Frage, wie lange man Todeskultlern, offen Lügenden, Propagandisten und Demokratieverächtern wirklich zuhören muss - und wann endlich ein reinigendes und schützendes Donnerwetter überfällig wäre. Und was passiert, wenn man merkt, dass Familie voll weggeknallt ist ...

 

Diese von Spinnen umwobene Plastik-Lady-Liberty stand einmal auf dem Gelände eines Russen in Baden-Baden.

 

Zunächst aber möchte ich mich entschuldigen. Bei diesem armen Jahr 2020: Nein, du bist nicht schuld! All der "Unmus" begann schleichend schon vor Jahrzehnten. Wir haben nicht hingeschaut, waren abgelenkt oder haben absichtlich weggeschaut und verdrängt. Irgendwann holt uns jedoch alles ein. Und es wird 2021 nicht von Zauberhand verschwinden. Denn das Problem liegt in uns Menschen, nicht in einem einzelnen Jahr. Bei dem sollten wir uns eher bedanken: Es öffnet uns durch die Konzentration der Ereignisse vielleicht endlich die Augen.

 

Genug Klugschisserei, beginnen wir mit dem Horrortrip. Alle anschnallen!


Als Nachfahrin einer Familie, in der ständig die Koffer gepackt wurden - mal gezwungen, mal in weiser Voraussicht oder einfach auf der Suche nach dem Glück - habe ich auch in den USA Verwandtschaft. Die Geschichte, wie sie 1923 vor dem aufkommenden und damals bereits ahnbaren deutschen Horror nach Cleveland flohen, kann man in meinem Sketchbook in der Brooklyn Art Library nachlesen (mit geänderten Namen). Das ist auch der Grund, warum ich mich so für die Lage in den USA interessiere: Ich hatte durchaus im Hinterkopf, eines Tages in besseren Zeiten das Land mal selbst zu besuchen - und Verwandtschaft ist ja ein beliebtes Netzwerk für so etwas. Manche, die ich in meiner Jugend persönlich kannte, habe ich erst durch die Arbeit am Sketchbook und dank Internet wiederentdeckt, sie hatten inzwischen andere Namen. Dann in den Jahren Trumps abgewartet, aus einem Bauchgefühl heraus - und das war gut so!


Gestern gab mir jemand die Gelegenheit, über sein FB-Account mal wieder bei Facebook "herumzuschnarchen". Der Großteil meiner Familie wohnt in Michigan und Ohio - es wäre doch höchst spannend, wenn ich private Einblicke bekäme, warum so gespalten gewählt wurde? Also legte ich mit meiner Namensliste los.


Und fiel aus allen Wolken. Auch wenn ich nur sah, was öffentlich gepostet wurde, es reichte. Da war ein Cousin dritten oder drölfzigsten Grades, der im Profilfoto vor einem Tischgrill hantierte. Das Hauptfoto zeigte eine öde Wiese, wahrscheinlich war der Mensch einfach gern draußen? Sein Opa, der in meinem Sketchbook eine Hauptrolle als Josef spielt und den ich als Kind selbst noch erlebt habe, sprach immer stolz vom "Professor". Aus dem war etwas geworden, er hatte schon als Kind nächtelang die Sterne angeschaut und dann Astronomie studiert. Universität vom Feinsten, Abschluss vom Feinsten, hatte auch mit der NASA zu tun. Aber irgendetwas war wohl in seinem Leben passiert, dass der Professor seit Jahrzehnten "nur noch" an Highschools unterrichtete.


Irgendetwas Undurchschaubares war passiert, dass er als Wissenschaftler diesen Engelskitsch postete! Ein Retweet. Klebrig süßliches Kitschbild in Babyblau und Prinzesschenrosa mit Glitzergoldgloriolen im Stil von Glanzbildchen. Ein sehr weißer Jesus im Wallenachthemd flog ... vrooooooom ... mit den sehr weißen Füßchen von einer kuschligen Wolke ab, warf Sternchen aus den Fingern, raste zum Bildrand. Man kennt diese Art der Abbildungen von Schlafzimmerbildern aus dem 19. Jahrhundert. Rosa waren übrigens die holden, viel zu jungen, viel zu nackten Maiden, die ihm die Füße küssten, offenbar irgendwelche Hallelujas intonierten und den Betrachter aufriefen ... also ernsthaft aufriefen, das Bild bei Facebook massenhaft zu teilen.


Man stelle sich so einen fetten Barock-Putto vor, der dir sagt: Teil das! Es wird dir zum Paradies gereichen oder was es da als Belohnerle gibt, wenn man pariert. Und wozu das Ganze? Ich muss zu dem Zeitpunkt in hysterisches Gekichere ausgebrochen sein, der Inhaber des Accounts sah besorgt nach mir und verstummte hilflos. So etwas hatte auch er noch nicht gesehen.


Dieser 19.-Jhdt-Tschiehsäs mit den Engeln aka leichtbekleideten Minijungfrauen (was durchaus üble Assoziationen auslöste), flog directly zu ... ganz genau. Dem angeblich "Gebenedeiten", der Erlöserfigur im ach so weißen weißen Haus. Weil der aber außerhalb des Bildrands wartete, um vom Segen getroffen zu werden, sollte man also das Bild massenhaft teilen. Dann, so versprach der Guru und Rattenfänger am anderen Ende, erst dann würde die göttliche Energie frei werden und directly, vroooooom, von den blütenweißen Händchen zu Mr Orange fliegen. Sich wahrscheinlich auf dessen Weste niederlassen. Dessen Paschehändchen sind ja zu klein zum Fangen. Wer gestern mitbekam, wie die halb weggetretene "religiöse Beraterin" von Trump per Video in Zungen faselte und schimpfte und krachte: Das ist kein Einzelfall. Die sind so.

 

Nicht genug des Brimboriums, an das Kinderseelen ja durchaus glauben können - es wurde gleich schwarzgemalt. Die duhuhuuuunklen Mächte nämlich würden den wunderbaren *Würx* seit Jahren bedrohen und jetzt sei es Zeit für Armaggedon und Gedöns. Übersetzt heißt das: Faschismus pur. Nur eben amerikanisch-evangelikal verkleidet. Süßlich bis zum Erbrechen. Wirkezauberbildchen für die Netzwerke eines Zuckerberg, der selbst allzu süßlich-tolerant auf extremistische Propaganda reagiert. Er bekleckert sich auch derzeit nicht mit Ruhm, was den Schutz von Demokratie angeht. Aber er speist ja auch mit der Zielperson.


Das also war der Professor. Auch hochintelligente Menschen driften ab. So einer unterrichtet die Jugend. So einer glaubt an Zauberbildchen weiß-männlich-rechtsradikaler Aufwiegler, die einem Todeskult anhängen, der nichts anderes will als Macht, Herrschaft und die Vernichtung von allem, was nicht zu ihrer Denke passt - von Andersdenkenden bis hin zur Natur, die einem Profit im Wege steht. Wenn sie doch nur kindhaft an einen Segen aus Bits & Bytes glauben würden! Aber sie instrumentalisieren Jesus als Vernichtungsmaschine und machen aus ihm einen faschistischen Möchtegernheros, der seine Anhängerschaft braucht, um wirksam zu werden. Seine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie davon wüssten. Die waren genau vor diesem Horror in die USA geflohen und hatten ihm erst ein Leben in der Freiheit ermöglicht.

 

Ich hätte zu dem Zeitpunkt schon den ersten Schnaps gebraucht. Bei den Kindern seiner Generation musste ich zweimal hinschauen und sogar googeln. Weil ich es einfach nicht fassen konnte. Mein Verstand ist offenbar zu klein, um all das zu fassen.


Der Typ mit dem riesigen Maschinengewehr in der Hand (weiß der Teufel, was für eine Kriegswaffe das war) und der Tarnklamotte ließ sich wenigstens eindeutig zuordnen. Er war nicht etwa zufällig gerade bei der Armee, er trug das beim Grillfest mit der Familie und da lächelten sie alle Cheeeeeeese und schwenkten Maga-Fähnchen. "What a good-looking man you are", schrieb ihm ein Tantchen. Wir würden bei uns eher die Straßenseite wechseln, wenn so ein abgef*ckter Typ daherkäme. Seine Familie war zuckernett und quietschesüß, man bewarf sich gegenseitigen mit nichtssagenden Flötentönen von "lovely" bis "amazing", für eigentlich nichts.


Aber halt ... man befand sich ja im gerechten Kampf. Ich konnte vor meinem geistigen Auge die Postings sehen, die privat waren - da tauschten sie sich wahrscheinlich kennerhaft über die diversen wehrhaften "Gartengeräte" aus, mit denen man da posierte. Öffentlich kam nur durch, dass man jetzt härtere Hilfen brauche, um den derzeitigen Präsidenten angemessen zu "verteidigen". Aber in den Likes fand sich immer wieder jener "Gartenmarkt" namens NRA und ähnlich Übles.


In dieses Horn stieß auch ein anderer Verwandter. In der Öffentlichkeit immer auf Wörter bedacht, oft zweideutig formuliert. Die wissen ja, was sie tun, geben sich oft nur dumm - auch das ist Teil der Strategie. Und der berichtet dann am Wahlabend, wie in seinem Stadtviertel angeblich überall Feuer und Vandalismus und "riots" ausgebrochen seien, angeblich von den ach so bösen feindlichen Demokraten. Ob er da was verwechselt hatte? Ich googelte mir einen Wolf, fand sogar Live-Cams und nur Schwärze, dunkle, friedliche Nacht, niemand auf der Straße. Der Kerl log schlichtweg gnadenlos, transportierte die Lügen eines Trumps und seiner Anhänger via Facebook weiter. Auch in den anderen Postings entstanden Bilder eines Weltuntergangs, der laut seiner Lügen von allen demokratischen und freiheitlichen Kräften ausging, den Medien, den Schwulen und Lesben und Schwarzen und wen er alles so beschuldigte in seinem Potenzwahn.


Äußerlich ein kleines aufgeblasenes Würstchen wie viele dieser Sorte, aber eben schweinsgefährlich und bis an die Zähne bewaffnet. Und warum man zu Recht über diese Kreise sagt, sie seien von weißen Männern getrieben: Die Frauen schweigen. Ähnlich wie beim religiös umwölkten Professor hielten die sehr genau ihre Rollenspielchen ein. Als Muttertier (anders kann man die Sicht dieser Rolle nicht beschreiben). Als diejenigen, die diesen Männern den Rücken freihalten, sie bestärken, sie bejubeln. Wenn sie was tun, dann dient es den Männern. Wenn sie was äußern, macht es diese groß. Sie sind zuständig für die Vermehrung solcher Clans, sie kaufen die Riesensteaks für die Kerle am Grill und womöglich die Munition für ihre Waffen. Von ihnen kommen das Amazing und Lovely und die Kuchen.


Und da rutschen andere Familienväter mit rein. Ein eigentlich netter, der aber höchst besorgt nach den Feuern im Stadtteil fragt und nun auch Angst hat um sein sauer erschuftetes Häuschen. Es ist wie in Hollywoodschnulzen der Betaklasse, wo ein Alien / Irrer / Angreifer auf Hütte und Familie losgeht. Da zünden die Cowboy-Emotionen sofort, da kennt der Amerikaner nix. So einfach werden Alien / Irrer / Angreifer ersetzt durch Schwarze / Demokrat:innen / Intellektuelle/r / Journalist:innen / selbstständige Frauen ... und druff. Wozu noch nachdenken, ob es die angeblichen "Aufstände" und den "Mob" wirklich gegeben habe: Der Präsident twittert doch ständig davon! "Der muss es doch wissen" ...


Und plötzlich müssen sie nicht nur ihr Häuschen und ihre Familie schützen, sondern auch noch den Mann im Weißen Haus, weil der doch wissen muss, wovon er redet, weil der doch durch Fox News die Bilder dazu bekommt und durch Breitbart die Propaganda. Für solche gerät der erlogene Brand zur nationalen Brandstiftung, zu einer Art Kriegserklärung.

 

Ich dachte gestern, ich würde bereits das Schlimmste sehen, was in Familien möglich ist. Dieses Aufpeitschen durch die Blume, das im privaten Bereich sicher unverblümt laut wird. Da wusste ich noch nichts davon, dass der Trumpsohn öffentlich zum "Totalen Krieg" gegen die Wahl, gegen die Demokraten aufruft. Bei uns wäre die Familie längst der Volksverhetzung schuldig. Das ist der Aufruf zu einem faschistischen Putsch. Nicht mehr und nicht weniger. Sein Vater hatte die entsprechende Lektüre auf seinem Nachttisch, schrieb Vanity Fair.


Während man hierzulande oft noch glaubt, solchen Weltzerstörern Sendezeit geben zu müssen, ihnen ja ach so sehr zuhören zu müssen, womöglich noch mit solchen zu reden, handeln amerikanische Fernsehsender. Trump wurde während seiner Pressekonferenz schlicht ausgeblendet und man erklärte, warum was wie gelogen war. Ein Steve Bannon wurde endlich von Twitter komplett gebannt, nachdem er barbarische Mordaufrufe per Video verbreitete, wie man sie sonst nur vom IS kennt. Die ideologischen Strukturen solcher Todeskulte ähneln sich!


Was ich sonst fand, las sich eher traurig. Die einzig vernünftig scheinende Frau hat ein paar Tausend Kilometer zwischen sich und die Familie gebracht. Unter ihren FB-Freunden tauchen die obengenannten nicht auf. Aber da taucht auch die eigenen Tochter nicht auf, die mit einem Soldaten verheiratet ist und ganz schlimme militärische Maga-Spruchbildchen teilt. Selbst im Olivgrün sabbert das Süßliche, werden Kerzen entzündet und Gebete gepostet und ganz sicher auch Waffen gesegnet. Die andere Tochter - mit der taucht sie auch auf Fotos auf. Die hat Verwandtschaft, die international ist. Eine Schwägerin aus Indien. Freundinnen und Freunde unterschiedlicher Hautfarben.


Der Bruch, der unüberwindbare Abgrund, ist sichtbar bei FB-Freundschaften, er verläuft quer durch Familien: Mütter und ihre Kinder, Geschwister, Eingeheiratete, Enkel und Großeltern - sie haben sich nicht mehr nur nichts mehr zu sagen, sie kämpfen nicht selten mit Hetze, Gewalt und wenn es sein muss mit Waffen gegen das eigene Fleisch und Blut, wie es so schön heißt. Es hat auch keinen Sinn mehr zu reden. Derart Fanatisierte, solche Extremisten holen allenfalls Fachleute von Aussteigerprogrammen und Sektenberatungsstellen heraus. Dazu braucht es Fachwissen. Und den Willen auf der Gegenseite.


Ich für meinen Teil bin froh, dass ich nie wieder Kontakt aufgenommen hatte. Ich kann mir das gut von Ferne anschauen. Bin froh, dass die Generation nicht mehr lebt, die so Schlimmes auf sich nehmen musste, damit diese Leute in Freiheit leben, in Meinungsfreiheit nun solche Töne spucken. Die Alten hätten das nicht ausgehalten.


Ich bin froh, dass Verwandtschaft eben nicht allein durch Fleisch oder Blut definiert wird. Echte Nähe, echtes Familiensein muss man sich nämlich erst mal verdienen. Und da zählen Verwandtschaften im Geiste viel stärker. Würde ich je in die USA reisen, um mir das Land einmal anzusehen, ich wüsste, wen ich womöglich gern treffen würde. Solche Familienmitglieder sind es nicht.


Und hätte ich jetzt ein Wünschebildchen, das ich teilen könnte, weil es zaubert, dann würde es weitere vier Jahre mit diesem inzwischen komplett weggeknallten Möchtegerndiktator und Dauerlügner tunlichst verhindern. Es wäre nicht auszudenken, was dieser inzwischen völlig enthemmte Radikale an nicht mehr gutzumachendem Schaden in der Welt und der Natur anrichten würde. Es sollte uns eine Lehre sein: Solche Menschen gibt es auch bei uns - und sie verfolgen die gleichen Pläne. Wir müssen ihren Hassauftritten keine Sendezeit schenken, die verwenden wir besser für Einordnungen, Erklärungen. Wir müssen nicht mit Durchgeknallten reden, die uns eh als Feinde betrachten. Investieren wir unsere Energie besser in die Netzwerke der Vernünftigen, der Menschen, die diese Erde und unsere zivilisatorischen Errungenschaften bewahren wollen. Lassen wir es nicht so weit kommen wie in den USA. Es ist nicht das Jahr 2020 schuld - das sind ganz allein wir Menschen.

19. Oktober 2020

Was ich vermisse

Abkürzen könnte ich jetzt und sagen: Empathie. Einfach mal die Klappe halten, anstatt vorschnell über andere urteilen. Dagegen habe ich dieses moralinsaure, überhebliche "Ich bin besser als du" und "Ich weiß genau, wie die Welt funktioniert" schon lange über.

 

Es geht A nichts an, wenn B Partys fehlen. A fehlt vielleicht etwas anderes.

 


Anlass meiner Erregung ist ein Twitter-Trend: #Party. Eine 16jährige wurde fürs ZDF Heute Journal befragt, die Befragung fand offenbar auf der Straße statt - das waren also spontane, keine zurechtgeübten Worte. Da sagt sie nun, dass sie Partys und das Feiern mit Freunden vermisst, früher, vor COVID, dreimal die Woche fort gewesen sei, um zu feiern. Sie sagt, sie fände es traurig in der Verzichtszeit jetzt und dass sie darauf angewiesen gewesen sei. Warum, wissen wir nicht, alles Hineinlesen ist hier reine Mutmaßung. Und sie erklärt sich, warum so viele jetzt wieder Partys feiern würden: Weil sie es so krass vermissen.


Man könnte diese 20 Sekunden Spontanaussage einfach als solche stehenlassen. Ich habe früher, als ich beim Radio arbeitete, viele Straßenbefragungen gemacht und weiß, wie solche Worte zustandekommen: Die Menschen sind überrascht, wenn man sie anquatscht. Viele erschrecken, noch mehr haben Angst. Wer nicht jeden Tag im youtube-Studio steht, redet vor einem Mikro nicht locker flockig hochintelligente Dinge. Diejenigen, die sich bereit erklären, erfahren oft erst dann die Frage. Was sie sagen, kommt aus dem Bauch heraus, oft verquer oder unglücklich formuliert. Einige würden nach der Sendung am liebsten im nächsten Mauseloch verschwinden, weil sie noch einmal erschrecken: "Diesen Mist hab ich gesagt? So hab ich formuliert? Hätt ich doch bloß nicht mitgemacht!" Und wenn dann Tante Erna beim Sonntagskaffee ablästert, beschließt man, nie nie nie wieder was in ein Mikro zu sagen.


Früher hat man zum Glück so etwas schnell vergessen. Es wurden so viele Leute befragt. Nach der nächsten Musik war das weg. Es gab noch keine Mediatheken. Und selbst dort müsste man erst einmal mühsam suchen, um diese 20 Sekunden zu finden. Heute jedoch stehen 20 Sekunden als Cut-out sofort am Pranger der Social-Media-Kanäle, wo sie ohne jeden Kontext massenweise verbreitet werden. Und dann geht die Schlammschlacht los.


Was auch immer sie wie und warum gesagt hat - mir tut diese junge Frau leid!

 

Ich denke daran, wie ich mit 16 war (Vorsicht, ich bin eine von diesen ach so bösen Boomern). Eine schwierige Phase des Hinüberwachsens aus der Kindheit ins Erwachsenenalter. Das Alter, in dem man gesetzlich einiges darf, was mit 15 noch nicht erlaubt ist - darum auch ein Alter des Sich-Austestens. Mit 15 / 16 waren wir zum ersten Mal im Landschulheim und da ging es in den Nächten aber sowas von ab! Erster Alkohol, ja. Aber auch inniges Sich-Verlieben. Jede Klasse hatte damals ihre eigene Garagenband, die natürlich von allen angehimmelt wurde. Wir tanzten bis zum Umfallen zu den Rolling Stones und was so angesagt war .... und knutschten herum, was das Zeug hielt. Niemanden zum Knutschen zu finden, konnte schiere Verzweiflung bedeuten. Endlich Lebensgenuss pur und Ausprobieren von Liebe ohne die dämlichen Erwachsenen.

 

Wir brauchten das, weil es zur gesunden Entwicklung gehört, weil sich da soziale Verhaltensweisen einüben und was man noch alles Schlaues wissenschaftlich dazu sagen könnte. Und auch Verlieben und Liebe wollten erst einmal geübt werden. Wir schrieben hefteweise melancholische Gedichte über die grenzenlose Einsamkeit, die wir in der Familie empfanden, weil die Eltern ja ach so gestrig waren - dazu dudelte Leonard Cohen mit seinen Dunkelmelodien. Wir mussten raus, mussten mit Gleichgesinnten maßlos kichern und Quatsch quatschen, uns umarmen. Heute sind viele Jugendliche in dem Alter schon wirklich depressiv und nicht nur gefühlt.


Zeit der Ablösung. Zeit der Gefühlsextreme. Zeit, das Leben zu feiern, die Freundinnen und Freunde. In dem Alter weiß man zum Glück noch nicht, wie schnell man sie später verlieren könnte.


Und jetzt kommen diese selbsternannten Hüter der Moral in Social Media und reißen einen Shitstorm los gegen das Mädchen, das einem schlecht wird. Dreißigjährige haben offenbar völlig vergessen, wie sie in dem Alter waren oder sind gleich als Rentner auf die Welt gekommen. Wie kann sie nur Partys krass vermissen, wo man doch ohne leben kann! Kann die sich nicht am Riemen reißen? Und dann die Weltverbessererfraktion: "First World Problems!" Das ist Hybris pur. Als ob Menschen in der Dritten Welt nicht auch Miteinander und Feiern und Partys schmerzlich vermissen würden. Anstatt sich auch zu freuen: Wenn das ein Problem ist, hat das Mädchen zum Glück keine schwerwiegenderen. Probleme werden subjektiv gefühlt. Ich für meinen Teil freue mich über jede und jeden, die keine ganz schlimmen Probleme haben. Und was ist schlimm? Kein Ritual mehr zu haben, mit dem man über diese traumatischen Zeiten kommen kann, das zeigen Studien, führt nämlich irgendwann zu seelischen Problemen. Und die sind dann richtig schlimm.


Ich weiß nicht, worüber sich diese Shitstormer hinwegreden müssen, welche Ängste sie damit verdrängen, wie sie sich in Selbstgerechtigkeit vermeintliche Stärke und Dominanz zurechttwittern. Vielleicht kennen sie auch nur einfach das Gefühl nicht, dass ihnen einmal im Leben etwas voher völlig belanglos Erscheinendes ganz massiv fehlen könnte, mit Folgen fürs Wohlbefinden, für die Psyche. Menschen, die einen Krieg hinter sich haben, erzählen nicht von politischen Ereignissen oder Großkatastrophen. Sie erinnern sich an einen Kuss, den sie nie mehr küssen können. Und an ein Stück Sonntagsbraten.


Leute: Gebt euch doch endlich mal gegenseitig zu, was die Pandemie mit euch macht! Und wenn ihr tough über allem und jedem steht, haltet einfach mal die Fresse. Sag ich mal deftig in Anlehnung an einen anderen Hashtag. Natürlich sind wir alle vernünftig, halten uns an Sicherheitsbestimmungen, tragen Masken und waschen uns intensiv die Hände. Aber genau deshalb dürfen wir auch das, was wir nicht mehr haben, sehr vermissen!


Wir kämen viel leichter durch diese Zeiten, wenn wir uns offen und in gegenseitiger Wertschätzung mal erzählen könnten, was uns fehlt, was uns verrückt macht, was uns frustriert oder so furchtbar ermüdet. Die große "Fatigue" durch die derzeitigen Lebensumstände, den zusätzlichen Stress, nehmen einige Länder inzwischen so ernst, dass sie Investitionen in Psychiatrie und Psychotherapie verlangen. Nicht jeder Mensch ist gleich resilient. Und selbst resiliente Menschen kann die Pandemie seelisch umnieten, wenn noch ein Problem dazukommt: die Angst um den Arbeitsplatz, Krankheit oder Tod, Fehlen von lebenswichtigen Einnahmen; der Stress unter Menschen in Gruppen gehen zu müssen.


Ich kann diese junge Frau nur zu gut verstehen und ich kann auch Leute verstehen, denen Bars oder Clubs fehlen, obwohl ich die selbst nicht besuche. Aber so viel Empathie krieg ich mühelos zusammen!


Gestern bekam ich eine unbändige Sehnsucht nach einer Veranstaltung vom letzten Jahr: Wir hatten im Museum einen Bäcker, der vorführte, wie man Bretzel backt und welche Weihnachtsbräuche es gibt. Unser riesiger Saal war so rappelvoll, dass wir Bierbänke in jede Nische stellen mussten und in zwei Schichten fuhren. Wir saßen auf Tuchfühlung. Die BesucherInnen von Großeltern bis Kleinkindern waren teilweise von weit her angereist, manche sogar von Outremer. Sprachen mischten sich, Wildfremde quatschten sich an. Wir feierten gemeinsam, mit den Neujahrsbretzeln und Wein und Bier und Limo und Kaffee. Es fehlte mir so plötzlich, was mir damals eher eng vorkam: Diese Menschenmenge, das Gesumm der Stimmen, dieses schwellenlose Kennenlernen und die Feststimmung. Wir lachten gemeinsam am Tisch und prosteten Menschen zu, die sonst Tausende von Kilometern weit weg wohnen. Zu dieser Zeit wussten wir: Es gab immer irgendwo Veranstaltungen, um unter Menschen gehen zu können.


Und ich sehnte mich gestern so sehr danach, dass ich mir in dem Moment vorstellen konnte, wie es sein würde, einfach wildfremde Menschen auf der Straße zu umarmen und zu küssen. Ich weiß, ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Ich weiß, was das für ein Fest sein wird, wenn wir uns endlich alle wieder mit Küsschen begrüßen dürfen.


Es sind diese kleinen Bewegungen, die verraten, dass wir soziale Wesen sind. Wenn ich mit der Nachbarin schwätze und unbewusst macht eine jede von uns einen Schritt in Richtung der anderen. Plötzlich der Ruck: Wir haben gelernt, dass das nicht geht. Aber es ist eben nicht die Normalität. Und auch die Vereinsamung und Vereinzelung der alten Menschen während der Pandemie ist nicht die Norm, nicht das isolierte Sterben, mit reglementierten Trauerfeiern.


Wir verdrängen das oft prächtig oder wischen mit einer Handbewegung darüber hinweg. Aber weil sich das so schnell nicht ändern wird, weil mit Jahresende das "Katastrophenjahr" nicht die Pandemie beendet, weil wir aushalten müssen: Das alles macht etwas mit uns. Bestenfalls ist es zusätzlicher Stress. Manche kommen auch über ein Trauma recht schnell hinweg. Aber eine Menge Menschen bezahlen mit ihrer psychischen Gesundheit.


Lasst uns offen miteinander sprechen, was uns fehlt. Lasst uns gegenseitig unsere Sehnsüchte gestehen - und seien sie noch so unwichtig in den Augen von anderen. Lasst uns gegenseitig über diese Zeiten hinweghelfen!


Aber das funktioniert nur, wenn wir akzeptieren können, dass jeder Mensch anders tickt. Jeder und jedem fehlt etwas anderes. Und das sollten wir nicht wertend, schon gar nicht abwertend anschauen. Sondern einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht als Anregung nehmen, endlich selbst aussprechen zu dürfen, was uns selbst gerade spontan am meisten fehlt. Wir dürfen auch träumen! Vom verrückten Urlaub. Vom Partymachen im riesigsten Club der Stadt. Vom gemeinsamen Durchsaufen einer Nacht. Davon, dass die Großmutter durchkommt und wir sie knuddeln und küssen können. Dass der beste Freund seine Lunge regenerieren kann. Wir werden in der Zukunft noch eine Menge Träume brauchen: Scheinbar nichtige, die uns über den Tag bringen. Denn nur so schaffen wir auch die ganz großen fürs Überleben.

16. Oktober 2020

Gute Nachrichten!

Viel ist passiert und ich bin immer noch völlig durch den Wind und erschöpft. Also mach ich's kurz, aber die guten Nachrichten müssen raus!

 

Das Foto ist älter, aber Bilbo schläft immer noch so, dass er sein Bett herumknüllt.

 


All eure guten Wünsche und euer Daumendrücken hat gut geholfen: Bilbo ist wieder lustig und lebendig! Und am Dienstag geht's zum Fädenziehen.

 

Zwischenzeitlich hatte es nach der OP leider Komplikationen gegeben, ein sogenanntes postoperatives Serom - dabei sammelt sich in einem Gewebehohlraum Flüssigkeit. Die Gefahr besteht, wenn an Stellen operiert wird, wo viel Bewegung stattfindet, z.B. am Hals - oder eben wie hier bei den Beinmuskeln. Bei Menschen legt man Drainage und die "Suppe" fließt in einen Behälter ab, beim Hund geht das nicht, weil er ja herumdreckt. Ich musste also zweimal zum Punktieren in die Tierklinik, da wird das mit einer Spritze abgesogen.


Natürlich volle Abenteuer. Den ersten Termin verpasst, weil sich Monsieur in voller Kreisch-, Knurr- und Beisselpanik weigerte, ins Auto zu gehen. Sämtliche Tricks schlugen fehl. Später dann wurde ich hinterhältig - und das wirkte. Irre leckeres Leckerli ins Auto geworfen, mich umgedreht und einfach weggegangen. Versteckt hinter einem Busch beobachtete ich, wie Bilbo sich genau umschaute, ob ich auch ja nicht da sei. Er entdeckt mich nicht. Und war mit einem Hopps im Auto und mümmelte gemütlich. Zack ... Klappe zu. Was für ein Schauspieler! Wenn Hunde krank sind, probieren sie alles, um einen auf alle Zeiten um den Finger zu wickeln. Seit er merkt, dass ich nicht mehr drauf reinfalle, fährt er wieder so gern Auto wie zuvor.


Genauso mit dem Kreischen vor der Klinik und all dem Gekasper. Es muss nur der Tierarzt reinkommen - und er ist der bravste Hund. Die Punktierung ging ohne irgendwelche Betäubungen ab.


Nun ist auch das wohl ausgestanden, es sammelt sich keine neue Flüssigkeit mehr. Und ich habe den Eindruck, die letzte Schwellung wird so ganz langsam kleiner - das sehen wir dann, wenn der Verband abgenommen wird. Ich massiere abends vorsichtig seine Lymphdrüsen ... die müssen das verschaffen.


Bilbo schläft viel durch die Medikamente, ist aber seit gestern wieder gnitz wie vor der OP. Jetzt ist das Schwierigste, ihn vom kilometerweiten Rennen abzuhalten, noch soll er sich noch nicht so sehr bewegen. Dabei schaut er sehnsüchtig zum Waldrand am Horizont. Abends bekommt er endlich wieder Spiellaune, wirft aufgelesene Äpfel in mein Bett und hat seinen Quietschball wiederentdeckt. Von den vielen Knuddelorgien ganz zu schweigen, die er auch am Schreibtisch einfordert. Wehe, ich lasse nicht wenigstens eine Streichelhand sinken!


Auch das ist toll: Er läuft wieder langsam allein Treppen, sprich, ich sitze im Arbeitszimmer statt in der Küche, kann endlich wieder schaffen (bei gemütlichem Basso Continuo eines schnarchenden Hundes).


Wie geht's weiter?


Bilbo zu Ehren und weil so viele Anteil nahmen, plane ich nach dem Fädenziehen eine Live-Talkshow mit ihm via Zoom! Man kann ihm da sogar Fragen stellen. Monsieur von Butterblum hat mich als Simultandolmetscherin angestellt.


Dann mus ich rasant an die Workshops ran, leider hat mich das alles im Zeitplan zurückgeworfen. Ihr werdet also den Winter über Inspirationen bekommen, wie wir den verdammten Virus und die eigenen vier Wände besser aushalten können, bis der Frühling endlich wieder Draußenleben ermöglicht!


Außerdem habe ich während der Genesungszeit von Bilbo endlich die ersten vier Seiten eines Essays in die Tasten gehauen (ca. 20 sollen es werden). Das schreibe ich auf Englisch, weil ich im deutschsprachigen Raum nicht wirklich gute Veröffentlichungsmöglichkeiten ausmache - und dann mal sehen ... Es ist vom Genre her Nature Writing und es geht um die vielschichtigen Verbindungen verletzlichen Menschseins und verletzter Landschaften / Natur.


Alle Termine gibt's dann rechtzeitig - damit niemand was über die Kanäle hinweg verpasst - per Newsletter, also schnell abonnieren!

5. Oktober 2020

Bitte Bilbo Daumen drücken!

Ich würde mich riesig freuen, wenn ihr morgen Bilbo die Daumen drücken würdet! Er wird am späten Vormittag wegen einer Geschwulst operiert und ich bekomme ihn - wenn alles gut läuft - wohl abends zurück.



Das Ganze hat eine Vorgeschichte: Klein war da vor genau einem Jahr schon ein Knubbel zu spüren. Ich erlebte dann in der Tierklinik ein übles Bad der Gefühle: Zuerst eine massive Fehldiagnose von Sohnemann Arzt und kurz darauf die echte Diagnose vom erfahrenen Vater Arzt unserer Tierklinik. Das feine Blutbild von jener Zweituntersuchung vor einem Jahr stimmt mich zuversichtlich. Ob der Knoten jedoch gut- oder bösartig ist, werden wir erst nach dessen Analyse im Labor wissen. Raus soll er, weil er jetzt doch gewachsen ist.


Und nein, es ist nicht der Knoten am Ohr vom letzten Mal! Es ist dort, wo die Lymphdrüse am linken Vorderbein schon geschwollen war. Ich hoffe, die Geschwulst liegt daneben, hoffe, es ist nicht die Drüse.
Der Tumor am Ohr hatte sich übrigens innerhalb von wenigen Tagen von selbst davon gemacht vor einem Jahr. Weil es äußerlich am Ohr war, habe ich schlicht das uralte Warzenmittel Schöllkrauttinktur aufgetupft. Das Gekröse schrumpelte zusammen und verschwand binnem kurzem narbenfrei. Aber wie gesagt - das war klein und äußerlich. Und offenbar warzenartig, sonst hätte es nicht reagiert.


Ich mach hier Päuschen (bin allenfalls auf Twitter), denn morgen werde ich durch den Wind sein. Die nächsten Tage muss ich dann bei Bilbo bleiben, ihn die Treppen hoch- und runtertragen und aufpassen. Da bin ich wenig am Computer. Damit Bilbo sich nicht zu sehr bewegt und schnell wieder gesund wird. Ich hoffe, es wird sein Vorderbein nicht zu sehr einschränken.


Er ahnt noch nichts von alledem und lief heute lustig durch den Wald. Nur meine Nerven flattern langsam ... Wir freuen uns über jeden guten Gedanken!

27. September 2020

100 Jahre und ein Geflecht des Lernens

Heute möchte ich euch mitnehmen zum zweiten Teil der Erkundung eines historischen Erdöl-Minengeländes im elsässischen Perchelbronn. Den ersten Teil lest ihr HIER.


Die große Werkhalle mit Relikten aus 100 Jahren

 

Noch während ich mir die unterirdischen Galerien vorstelle, als seien es die Gedärme eines sich langsam bewegenden Urzeitgetiers, sind wir im Zentrum des Ruinenareals der alten Mine Clemenceau angekommen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war sie angelegt worden, um Teersande zu fördern und die Rohöllinsen in der Erde von unterirdischen Stollen aus anzubohren. Schweiß und schwarz-schmieriger Dreck auf der Haut von bis zu 3000 Arbeitern. Lärm vom großen Förderturm und den pausenlos drehenden Turbinen. Dazu das Quietschen der Lorenräder, das Geräusch von stoßweise entweichendem Dampf. Das Räderwerk aus Maschinen und Menschen steht nie still, dreht sich in den kommenden Jahrzehnten immer schneller.

 

Es wird angetrieben von der Faszination des Machbaren, der neuen Wunderwelt der Technologie der 1910er Jahre, ihrer rasanten Weiterentwicklung. Wissenschaftler und Geologen sind neugierig mit den Schätzen beschäftigt, welche die Erde so großzügig spendet, denken an den möglichen Fortschritt. Aber in den Chefetagen herrscht in alter Traditionslinie des 19. Jhdts. und der Industrialisierung längst die Fokussierung auf das, was wir heute Ausbeutung nennen. Schon im Jahrhundert davor war es der Profit, der zu immer größeren Rekorden in der weltweiten Erdölindustrie antrieb. Jetzt wird gekämpft: Die zwei Weltkriege des 20. Jhdts., einer barbarischer als der andere, dürsten vor allem nach Ressourcen. Industrialisiertes Töten verlangt eine Industrie der Förderung. Ohne Erdöl und Benzin keine geschmierten Großwaffen, keine Fortbewegung von schwerem Kriegsgerät und Armeen über riesige Entfernungen und damit auch kein Welten-Krieg.

 

Die Armeen fressen sich in dieser Zeit dank Erdöl in die entfernten Länder. Der Mensch macht sich die Erde als Rohstoff fürs Töten untertan, bis in ihre Eingeweide hinein. Wissenschaft, Errungenschaften, Segen bringende Erfindungen - sie sind in jenen Zeiten nur allzu oft eher Kollateralzufall der Kriege, weil eben die großen Geldmengen in kriegswichtige Unternehmungen gesteckt werden. Sicher, Lampenöl, Paraffine, Heizmaterialien und Benzin, das kommt auch dem Leben der Menschen zugute. Doch die Zwischenzeit im Frieden mit überquellendem Lebenshunger und modernem Autotourismus währt allzu kurz, das Elsass zerreisst es immer wieder schmerzhaft zwischen zwei Nationen.


Die elektrische Zentrale


Heute rauscht leise der Verkehr von der Straße her, irgendwo schwatzt fröhlich eine Gruppe Menschen, die zu einem Konzert auf dem Areal gekommen sind. Spatzen streiten sich lauthals im Gebüsch. Zu meiner Rechten ragt die backsteinrote elektrische Zentrale empor, in der einst die Turbinen stampften und Strom erzeugten. Zu meiner Linken nimmt mir die alte Hauptwerkhalle den Atem - eine lichtdurchflutete Kathedrale des Erdöls, ein Lost Place wie aus einem Traum.

 

Wie eine Kathedrale des Erdöls: Die große Werkhalle

 

 Überbordende grüne Wildheit einer Natur, die mit Efeu Ruinen zerfrisst und hinwegwürgt, mit wildem Wein Fensterreste umschlingt, sich das Gelände zurückerobert, dass sich einst der Mensch von ihr abgetrotzt hat. Ein Platz wie ein Wirbel: Ein Müllberg von bis zur Unkenntlichkeit verrosteten Ölkanistern erstickt jegliche Vegetation, daneben musste mit dem Machetenmesser der Weg freigesenst werden. Brombeeren wachsen im immer noch teerhaltigen Sand, es wächst selbst in den "sterilen" Sanden, wie der ausgekochte Abraum genannt wird - Sand, nichts als Sand, durch den Prozess zu seiner Zeit einer jeden Lebensform beraubt. Heute blüht dort gelb der Rainfarn.


Menschenspuren - Schrott

 

Ein Wirbel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen menschlicher Zerstörung und einer Natur, die dem Menschen seine Winzigkeit lehrt. Zerschlagene Porzellanisolatoren, Kanister mit dem Logo von Erdölgesellschaften, herabstürzendes Dachwerk im Gras, all diese Menschenspuren der Vergangenheit erinnern wie ein roter Faden an die wichtigste Frage, immer wieder diese eine Frage: Wann hat das mit dem Anthropozän eigentlich angefangen? Wann kippte diese Spirale von der Faszination und Forschung in einen Wahn der Machbarkeit, Beherrschbarkeit? Wie kam die Gier dazu?


Robuste Pflanzen erobern das Ruinenfeld. Eines der häufigstes Gehölze hier ist die Gewöhnliche Robinie (Robinia pseudoacacia).


Vor mir auf dem Boden leuchtet goldgelb etwas kleines Rundes, das auf rostigem Müll kaum zu vermuten ist. Ich greife danach, werde mehrfach gestochen. Eine alte Bauersfrau hat mir einmal gesagt: "Auf gestörten Böden wirst du zuerst all das finden, was sich den Menschen vom Leib hält. Giftpflanzen, Stachelpflanzen!" Ich werde auf dem Gelände noch viele dieser kleinen Schönheiten finden, vor allem auf dem Abraumberg, dem Terril I. Der sonnengetrocknete Blütenkopf von Carlina vulgaris, der stachelbewehrten Golddistel, deutet auf basischen, womöglich kalkhaltigen Boden. Diese kleine Schwester der Silberdistel ist winziger, aber nicht weniger schön, und sie birgt ungeahnte Kräfte.

 

Sie zählt zu den sogenannten extremophilen Pionierpflanzen, die sich auf Abraumhalden spezialisiert haben. Wohlgemerkt, so ein Terril, ein Abraumberg, besteht hier aus dem Erdreich, das beim Bau der unterirdischen Galerien herausbefördert wurde; oft gibt es ölhaltige Schieferarten, zuletzt kommt viel Sand. Mancher Sand in der Mine Clemenceau enthält noch Bitumen, ein anderer Hügel wurde nach dem Auskochen des zählen Rohöls aufgeschüttet. Heute also wächst hier die zweijährige Golddistel auch mitten im Metallmüll - wie der Efeu eine hervorragende Bienenweide

 

Pflanzen im Ruinenbereich der elektrischen Zentrale.

 

So ein Terril, auch wenn man es gemeinhin nicht erwarten mag, entwickelt sich mit der Zeit zu einem völlig eigenen Biotop. Zuerst kommen die unverwüstlichsten Bakterien und Pilze, bereiten den robusteren Pionierpflanzen den Boden vor, schließen chemische Stoffe auf zu Nährstoffen. Das können manche Arten von ihnen so effektiv, dass man inzwischen weltweit daran forscht, wie man mithilfe von bestimmten Bakterien und Pilzen gegen Ölverschmutzungen ankämpfen kann oder alte Förderstätten renaturalisieren könnte. Ein spannendes Forschungsgebiet, denn die natürlichen Helfer ließen sich im Labor in Massen züchten. Und doch auch hier ein Eingreifen des Menschen, das gut bedacht sein will: Wie wirken diese Arten auf die natürlichen Mikroben, was passiert, wenn sie sich weiter verbreiten?

 

Die Golddistel ist eine typische Vertreterin solcher extremophiler Pionierpflanzen. Sie will in Ruhe gelassen werden, mehrmaliges Mähen im Jahr vertreibt sie. Extreme Sonne und Trockenheit liebt sie, verträgt dabei weder Humus noch allzu viele Nährstoffe. Lehm darf sein, steinigen Boden nimmt die Golddistel gern und Bodenhitze steckt sie weg. Das ist besonders wichtig, weil sich manche Abraumhalden (vor allem im Kohlebergbau) durch chemische Prozesse immer wieder auch künstlich erwärmen könnten. Wo die Golddistel wächst, enthält der Boden keinerlei Salz - das würde sie töten.


Die Abraumhalde der Mine Clemenceau bietet ihr das ideale Umfeld: Nie wurden hier Pflanzen kultiviert, nie der Boden bewegt. Durch die konische Form erwärmt sich die Halde schnell durch Sonneneinstrahlung, bietet ein Mikroklima. Nie wurden in Abraumhalden Dünger ausgebracht, sehr lang hat der Mensch sie nach der Stilllegung nicht gestört. Oft sind sie abgesperrt. Samen verbreiten sich mit dem Wind, mit Wildtieren und ab und zu auch Vieh. Vor Jahren noch wurden auf dem Gelände der Mine Clemenceau Pferde gehalten. Auch hier sorgen Mikroklima und das spezielle Umfeld dafür, dass sich die Vegetation von der in der Region unterscheidet. In ganz Frankreich findet man auf Abraumhalden eine sehr eigene Biodiversität und bis in den Norden Mittelmeerpflanzen. Es ist, als gingen diese auf Wanderschaft und Suche nach vertrauten Bedingungen.

 

Auf dem Abraumhügel herrschen Waldkiefern vor, manche sehr hoch.

 

Als wir auf den Hügel steigen, wähne ich mich tatsächlich ein wenig wie am Mittelmeer, ich denke spontan an den Bewuchs von Steinmauern in den südlicheren Vogesen. Der breite Weg windet sich durch einen lichtdurchlässigen Kiefernwald. Manche Waldkiefern (Pinus sylvestris) ragen hoch hinauf, aber die Stämme der meisten Bäume sind nicht besonders dick. In Baumlebenszeiten gemessen ist der Bewuchs auch noch nicht alt. Solange die Mine in Betrieb war, herrschte hier Ölöde.

 

Die Arten der wenigen Laubgehölze sind schwer auszumachen, im heißen Dürresommer haben viele die Blätter verloren oder eingerollt. Vogelkirschen (Prunus avium) im unteren Bereich sind mir vertraut von den Waldrändern der Region, ein paar junge Buchen überraschen mich mit ihrer Robustheit. Ob ein Baum vor mir tatsächlich eine Linde sein kann? Ich bräuchte ein Fernrohr. Die sichtbaren Blätter sind überraschend winzig, aber auch das ist typisch für jene nährstoffarmen Böden. Man kennt es von den Sandsteinfelsen in den Nordvogesen: Bäume wachsen dort so extrem langsam, dass man kaum glauben mag, wenn ein Winzling 100 Jahre alt sein kann. Unmöglich, nach reinem Augenschein abzuschätzen, wie alt die höchsten Kiefern hier sein mögen, man müsste akribisch die Astquirle zählen, einen für jedes Jahr.


In einem natürlichen Wald sorgen Kiefern in der Überzahl schon einmal für eine Versauerung der Böden. Auf diesem stark basischen Untergrund wirken sie eher ausgleichend und bereiten den Boden für empfindlichere Pflanzen vor. Ihre Nadeln schaffen Humus, falls das Bodenleben stimmt. Pinus sylvestris, die Waldkiefer, kommt im Biosphärenschutzgebiet Pfälzerwald - Nordvogesen an stark besonnten Trockenhängen vor, der Wind treibt ihre Samen weiter, Tiere sammeln und vergessen Zapfen. Sie wurzelt bis zu sechs Meter tief, ist dadurch recht dürrehart und sie ist ein typischer Lichtbaum. Fehlt es an Sonne, bildet sie fast nur einen Wipfel aus, die Seitentriebe bis nach unten fehlen dann. Waldkiefern zählen zu den bodentolerantesten Bäumen, in Tschernobyl haben sie sich durch Mutationen sogar an die erhöhte Radioaktivität angepasst.


Und da schlummert noch ein faszinierendes Geheimnis zu ihren Füßen: Waldkiefern bilden eine spezielle Symbiose mit unterirdischem Pilzgeflecht. Das machen die meisten Bäume und man nennt dieses Geflecht Mykorrhiza. Bekannt geworden ist die Mykorrhiza (altgr. mykes = Pilz, riza = Wurzel) gemeinhin auch als Wood Wide Web, denn es tauschen nicht nur Bäume und Pilze miteinander Nährstoffe aus, das Pilzgeflecht dient außerdem zur Kommunikation unter Bäumen.

 

Nun gibt es zwei Arten davon: Entweder die Pilzärmchen wachsen bis in die Zellen der Pflanzenpartner hinein (Endomykorrhiza von altgriech. endon = innen) - oder sie reichen nur bis in die Wurzelrinde (Ektomykorrhiza von altgriech. ekton = außen). Letzteres kommt am häufigsten bei Bäumen vor. Wie aber muss man sich die biologischen Vorgänge im Boden der Abraumhalde nun vorstellen?


Der stark verkrümmte Wuchs vieler Bäume zeigt deutlich, dass dies kein normaler Waldboden ist. Trotzdem sorgen die großen Bäume für das Überleben der empfindlicheren Arten - dank der Mykorrhiza, einem unterirdischen Pilzgeflecht. Es hilft, den Boden aufzubereiten.


Die Wurzeln der Bäume - und hier spielt die Waldkiefer eine große Rolle - gehen mit einer Ektomykorrhiza eine Symbiose ein. Bei der Waldkiefer kennt man das z.B. mit Fliegelpilz (Amanita muscaria), Reizkerarten (Lactarius sect. Deliciosi) oder Butterpilz (Suillus luteus). Was wir gemeinhin als Pilz mit Hut kennen, sind nur die oberirdischen Fruchtkörper. Das eigentliche Lebewesen aber - denn dazu zählen Pilze mit ihren Eigenschaften zwischen Pflanze und Tier - lebt unsichtbar im Boden, breitet sich durch weiße Pilzfäden, die sogenannten Hyphen aus. Alle Hyphen zusammen bilden ein Myzel - das kennen wir als weiße Schicht auf dem Camembert.


So ein Myzel sucht sich nun Wurzeln von Bäumen, die noch weich sind. Dann wachsen die Hyphen, diese kleinen Pilzärmchen, in die Wurzelrinde. Die Waldkiefer lässt jetzt durch den Kontakt ihre Wurzelenden wie kleine Keulchen anschwellen und bildet keine Haarwurzeln mehr aus. Diese Arbeit übernimmt nämlich jetzt das Pilzmyzel! Der Pilz sucht für den Baum nach Nährstoffen und Wasser, eine überaus praktische Sache in sehr trockenen oder gestörten Böden: Er kann sich viel weiter und tiefer ausbreiten und ist damit beweglicher als der Baum. Und Wood Wide Web nennt man das auch darum, weil an so einem riesigen unterirdischen Pilzkörper viele Bäume hängen. Selbst wenn Bäume sterben, überlebt das Myzel.

 

Damit die Symbiose nicht gestört wird, wehrt der Pilz außerdem andere für den Baum schädliche Pilze und Bakterien ab. Der Baum, der derart gepäppelt wird, revanchiert sich mit Zucker - denn davon lebt wiederum der Pilz! Der Pilz braucht den Baum, denn er kann ja selbst keinen Zucker durch Fotosynthese herstellen. Eine perfekte Partnerschaft also, die Bäume und Pflanzen resistenter macht und den Boden durch die nützlichen Pilze verbessert.


Die Erforschung der Vorhänge in so einer Mykorrhiza sind noch in vollem Gange. Spannend ist dabei, dass es ihr - vor allem bei Waldkiefern - gelingt, Ammonium in den pflanzenwichtigen Stickstoff umzubauen, ein Element, das im Zusammenhang mit Erdöl durchaus vorkommen kann. Das ist wieder so ein Trick der Natur, unter unwirtlichsten Umständen zu überleben. Auf den Abraumhalden gibt es weder Humus noch nennenswertes Bodenleben, die sonst Pflanzen mit dem lebenswichtigen Stickstoff aus organischen Stoffen versorgen könnten. Pflanzen brauchen Stickstoff vor allem, um Eiweiße herzustellen, er fördert das Wachstum. Fehlt es an Stickstoff, bleiben die Pflanzen kümmerlich, vergilben und bilden Notblüten. Irgendwann welken sie, sterben ab.

 

Das ist das Faszinierende an diesem Lost Place, dieser uralten Industriebrache:  Da lebt es mehr, als vermutet. Inzwischen hat man sogar lebende Bakterien in tief liegenden geothermalen Erdölschichten entdeckt. Unter unseren Füßen wird bereits der Abraumhügel fleißig umgebaut von einem Miteinander von Bakterien, Kleinstlebewesen, Pilzen und Pflanzen. Wir sehen nur eine Kiefer aus scheinbar sterilem Sandboden aufragen. Aber wenn man genauer hinschaut, kann man sehen, dass in so einem Baumverbund Kleinstpflanzen vom unterirdischen Umfeld profitieren und sich empfindlichere Bäumchen ansiedeln. Da lebt und wuselt es von innen - und von oben fallen Nadeln und Blätter, zerfallen ihrerseits wieder in organische Stoffe. Sobald es genug Bodenleben gibt, werden die in Humus umgebaut. Wenn es einmal so weit ist, werden die extremen Pionierpflanzen verschwinden, Platz machen für Pflanzen, die Humus benötigen.

 

Der Ausblick vom Abraumhügel Richtung Preuschdorf und den Vogesenwald.

 

Es gibt auf dem Minengelände nichts, was es nicht auch irgendwo in der Region geben würde und doch ist die Kombination der Pflanzenwelt eigen und aufschlussreich. Um die Ruinen herum wuchern die Waldrebe Clematis und die Gewöhnliche Jungfernrebe (Parthenocissus vitacea) auch über den Boden, beschatten ihn. Brombeeren und Brennnesseln sind typisch für Plätze, an denen früher Müll aufgeschichtet worden war oder die Pferde gehalten wurden. Leider sind kleinere Kräuter und Gräser nicht zu erkennen - sie sind allesamt von Hitze und Dürre verbrannt. Hartriegel lässt die Blätter hängen, ich erkenne einzelne Eschen im Mauerschatten und Pappeln. Oben im Wäldchen wachsen Ahornarten und auch da gibt es ein Bestimmungsproblem: Viele Laubbäume haben ihre Blätter bereits abgeworfen, um die Trockenheit zu überleben. Im späten Frühjahr dürfte eine Exkursion spannend werden!

 

Blick vom heutigen Veranstaltungsgelände nach unten auf die Ruinen.

 

Die Industriebrache ist ein Lehrstück, wie der Mensch über sich hinauswachsen kann, zu welchen Erfindungen und Forschungen, Arbeiten und Entwicklungen Frauen und Männer fähig sind. Sie kann aber auch bei genauem Hinschauen lehren, dass die Gattung Homo sapiens nur ein kleines Lebewesen in der Natur ist, das sich viel zu oft in Hybris aufgeblasen hat - ohne Rücksicht auf Verluste. Früher auch ohne unser heutiges Wissen, was man damit anrichtet. Wir sind heute klüger und auch das ist ein Fortschritt: Wir sind lernfähig. Die Natur braucht uns nicht, das erkennt man zwischen diesen Ruinen - wir aber brauchen die Natur!

 

Wie wir zu einer neuen Gegenseitigkeit mit der Natur kommen könnten, lehren uns nicht nur zerbrechliche Pilzärmchen im Innern von Abraum. Es ist unsere eigene Geschichte, wenn wir sie nicht mit verklärtem Blick betrachten Sie kann uns ein neues Verständnis von Energien und umweltbewusstem Energieverbrauch zeigen.


Auch deshalb ist dieses Gelände vielversprechend. Es gibt seit zwei Jahren ein äußerst ambitioniertes Projekt mit dem provisorischen Namen "Cité des Énergies" (Viertel / Siedlung der Energien). Über mehrere Jahre hinweg soll in diesem Viertel das französische Erdölmuseum neu, modern und vor allem größer untergebracht werden. Das Minengelände soll dabei zu einer Art Freilichtmuseum werden, eines Tages die gesammelten Großgeräte wie Ölpumpen beherbergen. Vor allem aber will man an dieser Stelle zum wertvollen Kulturerbe von Pechelbronn das Wissen um erneuerbare Energien einbinden, einen vom Naturpark Nordvogesen errichteten Experimental-Gebäudekomplex aus heimischem Holz einbeziehen. Schon heute gibt es dort Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem Erdölmuseum.

 

Das Areal der Mine Clemenceau könnte einmal zu einem Ort werden, wo sich die heimische Bevölkerung, Unternehmen und Universitäten, Tourist:innen und Animateur:innen treffen, um sich über Themen auszutauschen, die hier weit in die Vergangenheit reichen und die doch unser Überleben in einer Zukunft der Klimakrise bestimmen werden. Wenn es gelingt, sichtbar zu machen, welche Geschichten in dieser Erde von Pechelbronn schlummern (mit der Tiefengeothermie in der Nachbarschaft), könnten wir vieles besser verstehen, wofür der Begriff Anthropozän steht. Wir könnten lernen, warum wir dort gelandet sind, wo wir stehen - und wie wir künftig mit dem Planeten umgehen möchten.


Ich habe auch eine Kaffeekasse,

die eigentlich eine Hundeleckerlikasse ist! Monsieur Bilbo dankt für Spenden. Der Arme muss sich bei solchen Ausflügen nämlich zuhause allein langweilen.

Als Journalistin nehme ich Aufträge zum Thema entgegen.

 

Ich danke herzlich Sonja Fath von der ComCom Sauer-Pechelbronn für die spannende Führung und die Genehmigung, hier meine Fotos zu zeigen - und den MitarbeiterInnen des Erdölmuseums Pechelbronn für die Zusammenarbeit bei jahrelangen Recherchen zum Thema Erdöl, vor allem Daniel Rodier und Pascale Roll-Schneider.

Alle Fotos (C) Petra van Cronenburg