"Schönheit liegt im Auge des Betrachters", heißt ein Sprichwort. Ist das so? Und wenn ja, könnte ich meine Augen dann irgendwie anders einstellen, damit ich an einem Tag nicht nur Hässliches sehe? Wenn ich darüber nachdenke, erinnert mich das an den sogenannten KünstlerInnenblick, der auch so anders als der normale Alltagsblick sein soll. Setze ich mir den auf wie eine Brille? Und was wäre umgekehrt, wenn alles in sich schön ist und nur wir Menschen oft zu blind sind, die Schönheit zu erkennen?
Wie in einem diffusen Nebel verwirren sich die Tage. |
Der neuerliche Lockdown in Frankreich, der nun schon einen Monat währt und sehr viel strenger und härter ist als das gleichnamige Etwas in Deutschland, fordert seinen Tribut. Weil er in die trübe und kalte Jahreszeit fällt; weil man ein zweites Mal etwas aushalten muss, von dem man im Mai glaubte, es sei überstanden; weil es trotz Hoffnung auf einen Impfstoff nach den Feiertagen wieder so kommen kann. Was mir speziell zusetzte, war die Begrenzung von Bewegung in der Natur, die seit heute zum Glück gelockert wurde. Dazu nagen an mir die seit März gestrichenenen Möglichkeiten, öffentlich zu arbeiten, und die permanent unausgesprochene Verurteilung: "Du bist nicht systemrelevant. Kunst und Kultur kann man nicht essen!" Inzwischen bin ich in einem Zustand, in dem ich morgens beim Aufwachen nicht mehr sagen kann, welcher Wochentag eigentlich ist. Ich verliere die Orientierung in der Zeit - und die im Raum schrumpft aufs enge Lokale zusammen, aufs immer Gleiche. Selbst im Traum kommen mir die Menschen abhanden.
Wie hält man das aus?
Es gibt viele schlaue Tipps und Tricks, wie man das alles durchhält ohne verrückt zu werden. Und so schaffe ich mir meine eigenen Rituale der Rückverknüpfung mit der physischen Welt, vor allem einer Welt jenseits der auf uns hereinprasselnden Horrornachrichten. Diese schöne und ruhige und beruhigende Welt ist ja weiterhin da - nur haben wir unseren Blick manchmal arg verschoben. Manchmal komme ich mir vor wie die Maus vor der Schlange: Blicke ich zu stark nur auf die Katastrophen, dann erstarre ich vor der Schlange, obwohl die mich vielleicht gar nicht packen würde, wenn ich mich bewege. Oder wie Nietzsche das (Aph 146) formuliert hat:
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Eins dieser Rituale ist, morgens vor dem Frühstück an der frischen Luft tief zu atmen und zu spüren, wie sich die Eigenschaften der Luft jeden Tag verändern und etwas vom Wetter und den Jahreszeiten erzählen. Dazu reicht ein geöffnetes Fenster. Und danach möchte ich ein Bild von Schönheit finden, vielleicht sogar fotografieren. Etwas Klitzekleines. Weil mir die Natur so am Herzen liegt und der Mensch auch nur ein Tierchen ist, suche ich diese Winzigkeiten in der Natur selbst. Aber man kann genauso die Holzstruktur eines Kochlöffels betrachten oder die Oberfläche des Fensterbretts, das darauf wandernde Sonnenlicht.
Unscheinbares, das miteinander verwandt scheint in seinen Kräuselungen und Windungen: Baumwollgarn, Wurzeln, getrocknete Baumpilze (re. u.). Die Schönheit von Wirrwarr. |
Rituale der Schönheit
Was ich auf dem Foto oben gesammelt habe, trägt Geschichten in sich. Das Baumwollgarn ist von der Sorte, mit der man Rouladen oder Rollbraten bindet. Ich hatte es im Sommer beim Färben von Papier mit Pflanzenfarben für die Bündel verwendet. Ich werfe es nicht weg - es durfte in Regen und Sonnenschein im Garten verwittern, sich weiter verfärben. Ideal, um damit in Art Journals zu arbeiten. Dieses Garn erzählt von der Schönheit der gefärbten Papiere und einer Jahreszeit, vom Draußensein und Vergehen, vom Brüchigwerden und von Algengrün auf Holunderblau.
Das andere Gewirr oben fand ich in den aufgepflügten Schollen der Maisfelder. Die korkenzieherartigen Windungen faszinieren mich, die Robustheit der Stränge, die Ähnlichkeit zum Garn. Aber es ist nicht menschengemacht. Es handelt sich um die Wurzeln einer Grasart, die sich mit starken Ausläufern verbreitet. Warum diese Wurzelstränke sich derart kräuseln, weiß ich nicht: War es die andauernde Dürre in der Konkurrenz zum Mais? Sind Herbizide schuld? Es sind die getrockneten "Fäden", die im Erdreich Wasser saugen sollten. Wasser brauchte auch das Gekräusel rechts unten im Bild. Als Baumpilz im Regen war es größer, weicher. Nun ist der Pilz getrocknet. Er erzählt mir von einem Platz im Wald, an dem gehacktes Holz vergessen worden war. Ich erinnere mich an die Bäume im Umfeld, die Wildschweinspuren und die Gerüche. Wie ledrig-flauschig sich der Pilz anfühlte. Und all das zusammen ist unwahrscheinlich schön, finde ich. Genauso wie das Papier, das ursprünglich scheußlich knallorange war. Ich hatte es den ganzen Sommer lang an eine Mauer geheftet und dem Wetter ausgesetzt. Jetzt lebt es.
Getrocknete Graswurzeln - wie Schnüre, wie Garn |
Ich kann einen "Makroblick" aufsetzen und die Schönheit in winzigsten Strukturen erkennen. Wann habe ich das letzte Mal ein Moospolster genauer betrachtet? Da wuselt und lebt es drin, es gibt Blüten und kleinste blattähnliche Formen! Während wir einen Kilometer laufen durften, ließ sich Entfernung dehnen: Ich war mit einer großen Lupe unterwegs, entdeckte Mikrokosmen. Es ist gar nicht so sehr die Voraussetzung, dass wir einen "anderen" Blick bräuchten - es ist lediglich unser Fokus. Wie bei einer Kamera können wir einstellen, ob wir in die Ferne schauen oder in die Nähe. Wir können einen Baum in seiner ganzen Größe erfassen, aber dann auch schauen, wie sich die Struktur der Rinde an Ästen und Stamm verändert, ob seine Blätter eher weich oder ledrig sind, können das reine Sehen mit dem Fühlen und Berühren verbinden.
Texturen sehen und fühlen - so erinnern die Schichtungen des Schiefers plötzlich an die Holzschichten einer uralten Clematisliane. |
Texturen und Oberflächen kann man zwar mit den Augen erkennen, aber sie bleiben seltsam flach, wenn man sie nicht auch fühlt. Vielleicht sogar riecht oder lauscht. Ein Herbstblatt riecht anders, wenn es in einer Pfütze lag oder noch am Baum hängt. Wenn ich auf einen Ast klopfe, klingt er. Wenn ich durch Herbstlaub raschle, kann ich es hören. Ich höre im Herbst, wie der Wald seine Früchte abwirft und wie im Wind Blätter herabquirlen.
Und da bewegen wir uns zu dem hin, was man den KünstlerInnenblick nennt. Es handelt sich um eine andere Aufmerksamkeit. Das lässt sich üben: Weg von der eindimensionalen Erfassung mit nur einem Sinn, hin zur Verwendung aller Sinne. Und genau hinfühlen, Ähnlichkeiten erkennen, spontan Assoziationen bilden, durch etwas erinnert werden an etwas völlig anderes ...
Knochen oder Holz - irgendwann wird beides von Lebewesen umgewandelt werden in Humus, der die Wurzeln links im Bild nähren wird. Aus Vergangenem ensteht neues Leben. |
Ich persönlich bin z.B. fasziniert davon, wie sich vergehendes Leben gleicht, egal, ob es pflanzlich oder tierisch ist. Und letztendlich wird ja beides zu Boden. Diesen Fokus haben mich meine Hunde geleert, die im Wald lange vor mir das Aas entdecken oder Knochen aufstöbern. Bilbo ist da ein ganz fleißiger als Spürhund - und er schenkt mir die Knochen. Wehe, ich nehme so ein Geschenk nicht an, dann ist er den ganzen Tag grätzig. Und so sammeln sich seine Knochenfunde und meine Stöckchen. Erinnern aneinander in Farben oder Oberflächen.
Verwandtschaften |
Egal, was man anschaut, sammelt oder fotografiert: Jeden Tag vor dem Frühstück etwas Schönes finden und dieses Bild mit in den Tag nehmen - das ist gar nicht so schwer. Es übt sich ein mit der Zeit.
Hundegeschenke darf ich nicht ablehnen. Was im Wald lag, erzählt Geschichten - hier hatte sichtlich jemand genagt und Freude gehabt. Darüber Holunderholz. Und Holz- und Knochenknospen. |
Eichenlaub und Holunderrinde |
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