Das Gift, das heilt

Im Moment lese ich gefühlt Tonnen von Stoff für ein Essay, an dem ich schreibe. Da ist alles dabei von trocken-drögen Texten über Linguistik über hochinteressante wissenschaftliche Studien bis hin zu Mythen oder sehr subjektiven Erlebnisberichten. In dieser Zeit des wilden "Textsurfens", wenn ich mich vorsätzlich mit schrägsten und abseitigsten Texten konfrontiere, kommt irgendwann der Zauberpunkt, wo genau die richtigen Texte zu mir finden. Ich nenne das den "Badewanneneffekt", der übrigens als solcher gleichermaßen Kreativität beflügeln kann - oder auch Verschwörungstheorien. Manchmal auch Kerle wie Mr Pender (s. Link), denn in diesem Effekt steckt auch das Geheimnis von Suspense.

Sprache manipuliert unser Erleben. Die Emotionen verändern sich, je nachdem, ob wir von süßen Kirschtomaten oder von Killertomaten reden. Die Tomate selbst kann nichts dafür ... es ist unsere Haltung ihr gegenüber, die sich ändert.

Ein solcher Text mit Aha-Effekt flatterte mir via Twitter vor die Nase, es ist das Transkript einer Podiumsdiskussion beim Center for Humans And Nature mit dem Titel "Empathy and Entanglement". Auch für viele von euch sehr lesenswert (long read). Es geht darum, wahrzunehmen, wie all unsere Krisen miteinander verbunden sind: Klimakrise, Artensterben, zunehmende Armut und wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die Pandemie. Daraus resultieren immer häufigere Gefühle von Verlust und Trauer, mit denen wir umgehen lernen müssen. Die Diskutierenden kommen aus unterschiedlichen Bereichen und suchen nach Wegen aus dem Dilemma, nach Wegen der Rückbindung an die Natur. Eine von ihnen Trebbe Johnson, fiel mir auf, weil sie eine Menge zu "meinem" Thema zu sagen hat: unseren Umgang mit verwundeten Plätzen.

Trebbe Johnson ist Autorin, Multimedia-Produzentin und Wildnis-Guide, spezialisiert auf Visionssuchen. Gleichlautend mit einem ihrer Buchtitel gründete sie die internationale Bewegung "Radical Joy For Hard Times", wo Menschen sich verwundeten Orten annähern und wieder in Beziehung treten mit Natur.

Die Idee ist verblüffend einfach, in den USA kommt sie aus dem indigenen Denken, aber ähnliche Rituale hatten wir in Europa auch noch lange, wenn etwa Menschen den Hausbaum grüßten oder sich beim Tier für die Nahrung bedankten. Und doch ist sie radikal konträr zu unserem heutigen Gehabe als vermeintliche "Krone der Schöpfung", die einfach nur nimmt, ausbeutet. Die dann aber auch hilflos und verzweifelt vor den durch Menschen zugefügten Wunden in der Natur steht, diesen natürlichen Raum negativ belegt, fürchtet, meidet, ausklammert - und womöglich schnell vergisst. Lassen sich Trauer und Schönheit gleichzeitig aushalten?

Es geht in ihren Texten darum, eine Haltung des Gebens einzunehmen. Sich nicht mehr einfach wohlfeil zu bedienen, sondern der Natur auch etwas zurückzugeben. Das kann Aktivismus sein. Man kann Straßenbäume vor der Abholzung retten oder Geld fürs Bäumepflanzen sammeln. So viele Möglichkeiten. Die meisten davon aber bringen uns nur noch virtuell in Kontakt mit den Orten. Gäbe es eine Möglichkeit, sich selbst wieder mit Landschaften zu verbinden und ganz ganz klein anzufangen mit dem Geben? So dass auch Menschen teilnehmen könnten, die sonst kaum etwas für Umweltschutz übrig haben?

Die Menschen, die bei "Radical Joy" weltweit mitmachen, hinterlassen einem verwundeten Ort ein kleines Geschenk (Anleitung mit Download eines kostenlosen Führers). Sie beschreibt es sehr eindrücklich in der eingangs erwähnten Podiumsdiskussion, wie sich das Verhältnis der Schenkenden zu einem Ort verändert, wie man das, was man nicht anschauen wollte oder konnte, bewusster wahrnimmt. Und was das alles mit eigenen Verwundungen und Trauer zu tun haben kann, verdeutlichen die Geschichten der Menschen. Es klingt einfacher als es ist: Um einen Ort zu retten oder zu heilen, müssen wir als Menschen auch uns selbst von vielem heilen, das uns im Wege steht.

Wem das zu esoterisch klingt: Es geht eigentlich um Land Art, denn jenes Geschenk ist ein kreatives Konstrukt aus Naturmaterialien. Es geht aber um weit mehr als um ein Kunstwerk, denn es ist nicht dazu da, auf einer Ausstellung zu landen. Und es gibt auch nicht nur den einen Künstler, die eine Künstlerin. Zuerst einmal wirkt hier die Natur kreativ, indem sie die Materialien spendet, wir interagieren durch unsere Reaktionen, Ideen - und vor allem Emotionen. Denn es geht ja darum, dieses Geschenk einem Ort zu schenken, den wir als negativ erleben: einer Mülldeponie, einem vergifteten Feld, einem Berghang mit Kahlschlag. Es geht um all die negativen Emotionen und um die Wahrnehmung, wieviel Natur da noch ist, was an diesem Platz übrig blieb, was sich entwickelt - und im Weiterdenken: Was mit unserer Hilfe werden könnte. So leben etwa auf Mülldeponien viele Tiere. Menschlein nähern sich einmal nicht als Überwesen, sie müssen genau hinschauen, um das zu erkennen.

Mich hat das alles deshalb fasziniert, weil ich auf meinen Wanderungen manchmal instinktiv so etwas wie subversive Land Art mache. Da war ein Platz mit Kahlschlag, auf dem Waldarbeiter immer wieder ihren Müll hinterließen, mit der Zeit auch immer schlimmeren Plastikmüll, mitten in einem wunderschönen ursprünglichen Wald. Es war ihr Rastplatz.

Weil ich keinen Müllbeutel dabei hatte, sammelte ich zunächst den Müll auf einen Haufen und fing an zu spielen. Plastiktüten wurden zu Monstern, Dosen bekamen Fratzen. Die Müllwesen feierten um einen Baumstumpf. Aber im Hintergrund wurden sie beobachtet: von feinen Wesen aus Zweigen und Zapfen, Naturfundstücken. Wenn ich den Müll schon nicht transportieren konnte, empfand ich hierbei doch irgendwie Hoffnung. Vielleicht würde so jemand aufmerksam, der einen Rucksack dabei hatte und die Sachen mit ins Tal nahm?

Was dann geschah, war seltsam: Die Naturwesen fand ich beim nächsten Mal rüde zertrampelt. Der Müll feierte weiter ... Ich baute trotzig neue Naturwesen. Wieder wurden sie zerstört. Beim nächsten Mal saßen meine Astwesen den neu hinzugekommenen Müllwesen im Nacken, noch größer, noch schöner als das größte Plastikmonster. Danach war der Müll weg. Die Baumwesen saßen im Kreis, bis sie vom Wetter und der Erosion aufgelöst wurden - die Waldarbeiter hinterließen dort nie wieder Müll. Solche Ideen kommen mir spielerisch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es anderswo auf der Welt Menschen gibt, die Ähnliches machen. Meine Inspirationsquelle ist eigentlich Bilbo, der zuweilen in seinem Sammellagern vielsagende Kombinationen erschafft.

Fetisch oder Kunst? Für Bilbo ist beides Quell großer Freude: Stinkesocken und Karotten. Letztere wurde hier sorgfältig umwickelt und damit für Menschenaugen "unsichtbar gezaubert".

Nun will ich das Essay über unseren Umgang mit verwundeten Orten und Natur in Zeiten schreiben, die uns selbst Narben verpassen. Also ging ich früh morgens mit Bilbo zu jenem Gelände, das niemand mehr betreten darf, weil es Sondermülldeponie ist. Ich wollte auf der Wiese Gräser flechten und dies dem Stückchen Erde schenken, das alle hassen, meiden, verdrängen. Wo jeder nur wegschaut.

Weil die Wiese zu hoch stand und die Gräser Staubwolken abgaben, konnte ich dem niedrigen Bilbo nicht zumuten, den normalen Weg zu laufen. Ich peilte eine Ecke an und wollte von dort aus den Graszopf über den Zaun werfen. Wollte einmal lauschen und riechen und sehen, was an Natur dort möglich war. An jener Ecke stehen auf einem Abraumhügel sehr große Eichen. Wer die Gegend nicht kennt, kann das fast als idyllisch empfinden, wenn nicht daneben die Schilder vor Lebensgefahr jenseits des Zauns kündeten. Eichen sind fast die einzigen Bäume, die dieses Gift ertragen.


Wir näherten uns und ich lauschte. Jenseits des Zauns gab es das schönste Konzert, das man sich vorstellen kann: Nachtigallen sangen. Ich musste daran denken, wie sehr all die Wesen der Nacht meine Erinnerung an die Ausgangssperre wegen des Coronavirus prägen, in dieser Zeit erhöhter und verschobener Aufmerksamkeit. Nachtigallengesang, der schwere, veilchen- bis hyazinthenartige Duft der Nachtviolen - Nachtwesen, die durchaus den Tag erobern, aber erst in der Dämmerung so richtig leuchten und klingen. Die Zeit einer Dämmerung, eines Verschattens ...

Als ich mich durchs hohe Gras zum Zaun kämpfte und jenem Ort mein Geschenk übergab, gab die Wiese plötzlich den Blick frei auf das, was sonst nur Dornengestrüpp auf dem Abraum ist. Im scharfen Gegenlicht des Morgens funkelten weiße Spritzlichter im Eichendunkel, wie Blütenschaum wogte es im Wind, als hätten Feen in einem Trickfilm kleine Fünkchen ins Schwarz gesetzt. Es nahm mir den Atem, so schön war es. Dieser geschundene Platz überraschte mich mit einer filigranen Schönheit, die ich mir als Mensch kaum vorstellen konnte.

Ich habe natürlich neugierig nachgeschaut, was da auf einmal wuchs. Es war eine Pflanze, die man eher im Rheintal findet und seltener bei uns: Gefleckter Schierling.

Eine der giftigsten Pflanzen unserer Breiten. Sie taugt als "Protagonist" nicht nur in einem Krimi - es gibt unzählige davon. Sogenanntes Unkraut. Verhasst, gefürchtet, gemieden, ausgerottet. Weil viele Menschen nicht damit umgehen mögen, dass nicht alles auf dieser Erde zu ihrem eigenen kurzsichtigen Nutzen existiert.

Es war Schönheit pur, diese Blütenleichtigkeit, das Spiel mit Licht und Dunkel. Und gleichzeitig wächst hier Gift auf Gift, wobei das von Menschen hinterlassene Gift unter der Erde weitaus gefährlicher ist. Das oberirdische Gift heilt zumindest oberflächlich einen Platz. Schierling gehört zu den Pionierpflanzen, die keine hohen Ansprüche haben und Orte besiedeln können, an denen sonst nichts wächst. Ruderalvegetation nennt man solche Pflanzengesellschaften auch, die als erstes auf völlig verwüsteten Gebieten und an von Menschen gestörten Standorten gedeihen. Sie bringen Tiere mit, sind Nahrung - oder verrotten und werden zu Humus. Wo diese Pflanzen absterben und vom Bodenleben umgewandelt werden, siedeln sich bald anspruchsvollere Pflanzen an. Giftige Pflanzen wandeln giftigen Boden. Das erste Geschenk ist Schönheit. Die Kraft, wieder genau hinschauen zu können und von diesem Punkt aus tätig zu werden, aus der Lähmung zu kommen. Wir können nämlich eine ganze Menge mehr tun als Graszöpfe schenken. Aber der Graszopf bringt das ins Gefühl hinein, macht es greifbar. Be-greifbar.

Aufgrund der Pandemie habe ich im Moment keine Arbeitsmöglichkeiten vor Ort. Ich freue mich darum ganz besonders über kleine Spenden für die Kaffeekasse - für diese Arbeit hier. Einfach rechts im Menu auf die Spendentaste klicken (Paypal), funktioniert ab 2 Euro. Danke im Voraus!

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