Tag 8 - Confinement

Gestern abend entdeckte ich in einem Vorratsschrank unverhofft eine Tafel Schokolade, die irgendwo dazwischengerutscht war. Ich gönnte mir einen Exzess: Zwei dicke Rippen (Vorratshaltung!) auf der Zunge zergehen lassen und dazu einen klitzekleinen braunen Rum. Ich konnte prompt einschlafen, auch wenn die Träume mit den Tagen immer wirrer werden.

Bloß nicht darben jetzt! Auch Augen und Seele müssen essen.


Massig Arbeit hätte auf mich gewartet, die Deadline am Monatsende kreischt. Aber den ganzen Vormittag verbrachte ich damit, all die neuen Amtserlasse zu studieren, die mich betreffen und die sich täglich ändern oder erneuern. Auch der Staat und die Behörden sind im Learning-by-Doing-Modus. Und es eilt und ist wichtig: Was bekommt man gestundet (z.B. Steuern und Sozialabgaben), wie muss man die nächsten Monate deklarieren, reagieren? Ich werde per Handy und SMS informiert und bin zunächst fürchterlich erschrocken, wer so alles meine Nummer hat. Aber den meisten hatte ich sie selbst gegeben. Und der Staat lässt einfach die Telefonanbieter verbreiten.

Danach und vor allem nach dem Wintereinbruch mit Sturm (16 Grad weniger) musste ich nach draußen. Bilbo quakt neuerdings nach seinem Passierschein und ich warte nur noch darauf, dass er ihn apportiert. Wir haben uns dann in den nahen Wald gestohlen, in dem ich eh nur gefühlt dreimal im Jahr Menschen sehe, meist Waldarbeiter. Ich brauchte doppelt so lange wie sonst, bis sich die Gedankenmühle nicht mehr drehte und die Augen wieder einen Blick bekamen.

Es ist so wundervoll (wenn auch schweinskalt) in der Natur. Überall singende und balzende Vögel. Hainbuchen und Weißdorn breiten sanft grüne Schleier ins Unterholz und die Wildkirschen weißen Blütenschnee in die noch kahlen Gipfel. Ich kaue beim Laufen frische Wildkräuter und Hainbuchentriebe, um die jämmerliche Vorratsküche mit Vitaminen und Mineralstoffen aufzupeppen. Um den Frühling zu schmecken.

Bilbo hat überglücklich im Morast all die Wildspuren erschnüffelt und ich habe ihm auch seinen Spaß gelassen, wenn er bei einem Büschel Gras jeden Grashalm einzeln durch die Nase und manchmal das Maul zog, nur, weil die von einem Reh gestreift worden waren. Derweil ging ich mit den Augen in all den Miniaturwelten am Boden spazieren: blasslila Waldveilchen und sonnenglühendes Scharbockskraut, nickende Buschwindröschenknospen und saftgrüne Moosmatten, Gelbflechte auf Flechtengraugrün. Es war einer dieser Tage, wo ich noch Stunden hätte laufen können, aber wir mussten umkehren - wir legen die Wohnungsnähe ohnehin schon großzügig aus.

Ich habe Bäume umarmt und versucht, mir auch nur annähernd vorzustellen, was sie alles erlebt hatten, wie stark sie Unwetter und Insektenbefall und Katastrophen überleben. Ich habe Bäume umarmt und Rinden gestreichelt und Bilbo hat nur geschaut, als verstünde er die Begrenzung von Menschen: zur vielsagenden Pee-Mail am Stamm reicht's dann bei uns doch nicht.

Nach anderthalb Stunden Schnuppern, Schmecken und Staunen bin ich dann gepflegt zu Hause zusammengeklappt. Normalerweise hätte ich mich an die Arbeit gezwungen, heute bin ich am hellichten Tag ins Bett. Erschöpfungsschlaf. Am Spätnachmittag dann ein Kaffee vor der Haustür. Ein Schwätzchen über die Straße hinweg. Ich bin nicht die einzige, die manchmal einfach nur noch Gemüse ist. Die Sorge um manche Angehörige, die man nicht sehen darf, zehrt sehr. Wir lachen: Das sind erst acht Tage und wir sind schon Brokkoli? Wie wollen wir in 14 Tagen aussehen?

Dagegen muss man dringend etwas tun: Sich auf der einen Seite völliges (?) Versagen gönnen. Im Ernstfall eben nicht funktionieren. Wer hat überhaupt diese Idiotie erfunden, dass der Mensch funktionieren müsse, sich gar optimieren? Und auf der anderen Seite ist das Wohlfühlen wichtig. Ich koche jetzt etwas Leckeres aus der Vorratsküche und reiße die Tüte mit dem TK-Brokkoli an. Omen es nomen oder so. Zum Dessert irgendein Schoko-Pseudosahne-Zeug aus dem Becher, weil das Zeug halt ewig lange hält und nach Schoko schmeckt. Was da drin ist, wollen wir gar nicht wissen. Hauptsache, es ist haltbar. Und dann Dr Who im Fernsehen. Weil der immer gut tut. Und weil man den eigentlich langsam mal rufen könnte auf dieser Welt?

Bleibt gesund - ich wünsch euch allen viel Kraft und auch Kraft fürs Loslassen und Versagen!

3 Kommentare:

  1. Ein sehr schöner Beitrag zur Lage der Nation, nein, der Welt, und wie es uns damit ergeht, Petra! Ich konnte gar nichts mehr schreiben in meinem Blog, aber vielleicht trage ich bald auch wieder etwas ein.

    Bleib gesund und stark und ausdrucksvoll und eloquent, alles Gute! Christa aus dem fühlingshaften Schwarzwald

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  2. Liebe Christa,
    schön, wieder von dir zu hören! Man muss auch bnicht bloggen. Für mich ist es eine Art Bewältigung, ein Freischreiben in der Isolation der Ausgangssperre. Es lenkt mich ab und gibt mir Kommunikationsmöglichkeiten, während gerade so viele weggebrochen sind, etwa weil Menschen nicht mit Messengern umgehen können / wollen oder man schlicht keine Kontaktdaten hat. Die DSGVO, so wichtig sie war, hat da leider auch einiges verhindert.
    Ich wünsch auch dir gutes Durchhalten und Gesundheit!
    LG, Petra

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  3. Übrigens ist der Beitrag überholt, die Maßnahmen sind noch einmal verschärft worden, weil sich so viele nicht daran hielten. Ich darf mit Passierschein nur noch max. 1 Std raus und max. 1 km weit weg mit dem Hund (nur zum Einkaufen geht mehr).

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