Das Haus, das Verrückte macht
Für ein Computersystem ist man einfach nur eine Nase unter Nasen. Wird sie falsch erfasst, findet sie sich im virtuellen Leerraum wieder. Als Pappnase. |
Eigentlich habe ich einen eiligen Arbeitsauftrag für heute. Aber in Frankreich reformt es tüchtig an allen Ecken und Enden. Und diese Reformen sind so gründlich und schnell (und kommunikativ unbegleitet), dass irgendwie nichts funktioniert - jedenfalls bei der Berufsgruppe, die eh immer vergessen wird, in jedem Land: die Freiberufler. Während ich also noch überlege, was ich wegen des riesigen und üblen Amtschaos und Fehlers bei der Sozialkasse als Widerspruch schreiben soll (ich wurde in die falsche Kasse gesteckt, die nicht merkt, dass ich in der korrekten pünktlich meine Abgaben leiste) ... während ich also eh schon fast auf 180 bin, kommt ein Brief.
Von der Krankenkasse. Also der anderen. Die wechselt nämlich auch einfach so. Und einfach sollte das werden, sagte meine alte, mit der ich so sehr zufrieden war. Jetzt bin ich zwangszugeordnet zu der der Angestellten. Geht alles automatisch! Man muss nur die Carte Vitale in einen Apparat stecken, *schnurpselschnurpsel* Update - fertig. Die neue Kasse werde sich rechtzeitig melden.
Der Brief von der neuen von Mitte Januar (!) liegt also heute im Briefkasten. Durch den erfahre ich, dass ich eigentlich im Februar nicht hätte zum Arzt gehen dürfen, weil meine Carte Vitale ganz neu hergestellt werden müsse. Hä? Formular anbei, ein Vorgang bei der Staatsdruckerei, der durchaus mal Monate dauern könnte. Liebe zur Kasse in Zeiten der Cholera, pardon, des Corona ... Ohne diese Karte ist man eigentlich nichts. Wo krieg ich so schnell Passfotos her?
Als ich das Formular betrachte, schwant mir Übles. Ein Fehler im Namen, wie mir schon früher mal einer schlimme Probleme bereitet hatte, weil so ein Name im System mehr Gewicht hat als mein Beteuern, dass ich mich eben anders schreibe. Und dann werde ich freundlich aufgefordert, mich online einzuloggen.
Das moderne Haus, das Verrückte macht, ist heutzutage virtuell. In Frankreich erledigen wir alles online, wirklich alles. Selbst für Steuer oder Sozialhilfe gibt es schon Apps. In Mediatheken und anderen Plätzen gibt es extra Computer für Menschen, die sich keinen leisten können, damit sie ihre Amtsgeschäfte erledigen können. Selbst Termine auf dem Amt gibt es nur noch online.
Ich muss also virtuell der neuen unbekannten Krankenkasse Guten Tag sagen. Dazu brauche ich ein Account. Das muss ich einrichten. Nichts einfacher als das, denke ich. Klickediklick ...
Sagt mir das System, dass es mich längst kenne und ich schon ein Account hätte. Irre denke ich, wie die Regierung das geschafft hat, was für ein Service! Das flutscht ja echt besser als sonst.
Ich soll mein Passwort eingeben.
Da hat aber die Regierung jetzt leider geschlampt - das hat sie mir nicht mitgeteilt. Wenn ich vorher nicht bei dieser Kasse war, hab ich ja schließlich keins gehabt. Also, schlau wie ich bin, die allbekannte Schiene fahren: "Passwort vergessen". Ich würde ein Provisorisches per Mail zugesandt bekommen. Klasse, so muss das. Wird alles gleich erledigt sein.
Ein rotes Ausrufezeichen am Bildschirm: Das Passwort kann Ihnen in diesem Fall nicht per Mail zugesandt werden (weil neu und überhaupt), klicken Sie trotzdem auf Zusenden. Es komme dann per Papierpost und werde spätestens in 8 Tagen abgesandt. Auf die Art versuche ich seit einem halben Jahr vergeblich, mein Bankpasswort zu ändern - die Briefe kommen *immer* zu spät und das Passwort darin ist bereits verfallen. Was tun? Mir ist nach einem gepflegten Kreischanfall zumute.
Aber da ist noch ein Button: Alternatives Einloggen mit dem Staats-Super-Wir-Wissen-Alles-Von-Dir-Button! Ich mache mich auf der staatlichen Seite schlau, worum es da geht, wie sicher dat Dingens ist - und erfahre, dass der Staat wirklich alles von mir weiß und noch eine Menge mehr. Todesmutig klicke ich das Ding an.
Et voilà, plötzlich kann ich mich mit dem Zugang vom Finanzamt (!) bei der Krankenkasse anmelden! Wie geil, in diesem Fall wenigstens, denn so umgehe ich die Wartezeit und bin frohgemut, dass mir die Krankenkasse nicht die Steuererklärung übernimmt. Klickediklick und zig Umleitungen später bin ich drin und werde aufgefordert, ein neues Passwort zu kreieren. Das zu verifizieren funktioniert, oh Wunder oh Wunder, plötzlich doch per Mail! Das Finanzamt bürgt für meine Nase.
Und da stehe ich nun also endlich virtuell in meiner neuen Krankenkasse (von der ich bis jetzt nicht weiß, wo ich rein geografisch zu einer Beratung hingehen müsste). Alles so schön bunt und neu und auf Null und Nullzig. Sogar mein Namen stimmt wieder. Aber warum, verdammt nochmal, dieser Mist mit der Karte?
Ich vergleiche Zeug. Auch mein Geburtsort ist falsch geschrieben. Bei meiner alten Krankenkasse war das alles richtig und perfekt, denn da hatte ich es selbst ins Formular getippt!
Ich durchforste die FAQ des allwissenden Staatbesserwisserbuttons. Und siehe da: "Fehler können auftauchen, falls Ihre Geburtsurkunde beim Eintritt nach Frankreich falsch abgeschrieben wurde." Bei Donald Duck würde man in der Sprechblase jetzt ganz viele Totenköpfe, Spiralen und Sprengstöffchen sehen und lesen: Arrrrrrgggllllll.
Inzwischen kenne ich mich genügend aus, um festzustellen, dass hier die Ursache so vieler Probleme und Diskussionen liegen könnte, die ich auch in der Vergangenheit schon hatte. Ich bin zwei Personen. Eine korrekt geschriebene und eine mit Rechtschreibschwäche in Namen und Geburtsort. Computer vergleichen stur und merken das nicht. Amtspersonen sind meist nicht helle genug, das überhaupt herauszufinden.
Ich werde jetzt dreist. Da ist eine Abteilung, wo man sich die Bescheinigung seiner Rechte ausdrucken kann. Immerhin schon mal was in Zeiten von Corona. Ich muss ja zum Arzt können müssen dürfen.
Ich erspare meinen LeserInnen das Zwischenspiel mit einem dieser verdammten neumodischen Drucker, die sich verweigern, weil der Tintenstand zu niedrig wäre und dann doch noch tut. Inzwischen krieg ich selbst die klein. Und drucke. Und blecke die Reißzähne.
Und staune: Mein Name stimmt wieder. Auf dem Anschreiben dazu ist alles perfekt. Also wurde auch meine Geburtsurkunde richtig erfasst.
Diese verdammten Seppel haben schlicht die Schreibfehler bei der Reform eingebaut, beim Kassenwechsel, mich falsch umgemeldet! Und ich kann jetzt schauen, wie ich den Mist wieder aus dem System kriege und vor allem eine neue Carte Vitale!
So. Und jetzt bin ich so richtig schön in Fahrt. Jetzt schreib ich einen Widerspruch der zynischsten Art an die falsche Sozialkasse, dass sie gefälligst mit der richtigen einen saufen sollen und dann vielleicht erfahren, dass ich längst und pünktlich und brav alles regelmäßig bezahle, was ich bezahle. Weil irgendwelche verdammten Reformseppel nicht fähig sind, auf meinen Beruf zu schauen, sondern einfach den von meiner ersten Einreise ins Land genommen haben. Man wechselt ja nie nicht den Beruf, nicht wahr?
Einen Eimer Schnaps, für alle!
PS: Die betreffenden Reformen sollen ja eigentlich alles vereinfachen und endlich mal modern funktionieren. Ich bin also noch guter Hoffnung. Sie wurden halt auf alte Systeme mit alten Funktionären draufgesetzt ... Sie funktionieren übrigens bei "normalen" Berufsgruppen offenbar reibungslos. Nur wir FreiberuflerInnen, KünstlerInnen, AutorInnen kommen nicht vor und da hakt es einfach immer. Wenigstens gibt's die Infos, was schief läuft und wie man sich wehrt, über ... Twitter. Ansonsten alles beim Alten in Frankreich: Gallien eben. Passierschein A 38. Es ist immer nur der Passierschein 38.
Ach herrje. Das ist ja der reinste Wahnsinn. Und ich dachte schon, dass nur die Behörden bei uns in Deutschland durchgeknallt sind.
AntwortenLöschenArm dran sind tatsächlich die alten Menschen und/oder alle die, die keinen Computer/Internet haben. Machen wir einen eigenen Staat auf, in dem es (neben der digitalen Wunschliste, die wir ja nicht ganz aufgeben wollen) noch echte Menschen statt Hotlines und Papierformulare statt Online-Hakenlisten gibt ... Wer macht mit? ;-)
LG
Ich versuche, es positiv zu sehen, weil sich ja einiges tatsächlich verbessert. Unser Uraltsystem mit Dutzenden Kassen war überfällig. Keine Regierung hat sich wirklich rangetraut. Und wenn ein so großes System derart umgekrempelt wird, geht es wohl ohne Knarzen im Gebälk nicht ab. Wie gesagt, bei den Agestellten läuft das alles toll und mit Kommunikation, wir FreiberuflerInnen sind halt immer allein ...
LöschenWas das Internet betrifft, so leben wir in F doch ganz anders als bei euch. Wir hatten in Ämtern schon Touchscreens mit Einfachstprogrammen für wiederkehrende Arbeiten (z.B. Formularkram), da war die Technik offiziell noch gar nicht im Handel. Ich kenne in meinem Umfeld selbst im abgelegenen ländlichen Raum keinen alten Menschen, der nicht mindestens ein Smartphone hat.
In unserem Museumsverein bin ich das Küken, die anderen daddeln bei den Konferenzen auf dem Tablet oder verschicken Whatsapps. Wer keinen Computer mit Internet hat, findet einen umsonst in den Mediatheken, auf dem Sozialamt. Wer ein Smartphone hat, hat Internet. Und kann die Apps benutzen fürs Banking, die Deklarationen, die Ämter. In unserem abgelegenen 800-Seelen-Dorf haben wir längst Glasfaser. Da kriegst du mich nicht - ich bin froh über den Fortschritt.
Was nicht so toll ist: Viele reale Beratungsstellen wurden darum in den letzten Jahren eingespart, auf dem Land nicht einfach. Aber da ist Macron ziemlich hinterher, dass sogenannte "Bürgerbüros" geschaffen werden, wo du alles auf eibnem Platz hast von der Krankenkasse bis zum Sozialamt oder Arbeitsamt. Da tut sich was. Auch den Termin holst du dir über eine App und musst nie wieder Schlange stehen oder lange warten. Und dann hast du echte Menschen.
Also ich denke mal, das renkt sich alles ein, wenn es eine Weile läuft. Es ändert sich einfach derzeit so viel, dass man nicht nachkommt.
LG Petra