Mein erster Ein-Frau-Flashmob

Ich habe immer noch keine Ahnung, ob man als Einzelperson überhaupt einen Flashmob abhalten kann. Ich habe es einfach getan: Einen Flashmob aus der Blechschachtel! Die Kekse hatten scheußlich geschmeckt, aber ich brauchte unbedingt diese feine rechteckige Blechdose für meinen Krimskrams.

Mit dieser Schachtel könnte ich mich auf einer einsamen Insel ziemlich lange beschäftigen. Wahrscheinlich würde sie sich ständig neu füllen. Allein schon mit Hölzchen ... und Dingelchen ... und Sächelzeugs!

Mit der Dose habe ich mich dann in die Cafeteria des Maison Rurale gesetzt und einfach losgeschafft. An einem Art Journal - ein fertiges zum Anschauen hatte ich ja bereits, das verführerisch auf dem Tisch darauf wartete, dass Menschen es anfassten.
Art Journal kann man irgendwie nicht exakt übersetzen. Es ist in dieser Form nicht wirklich ein Tagebuch, eher ein Notizbuch, bei dem die "Notizen" bildlich gestaltet werden, unbewusst, inspirationsgelenkt. Anders als die erfolgreichen Youtuberinnen der Szene propagiere ich dabei nicht teure Spezialprodukte, sondern sage: Ihr könnt das mit billigsten Zutaten, mit Zeug, das man sonst wegwirft, mit Fundstücken, alten Zeitschriften. Und ihr müsst nichts Spezielles können außer kleben: Jeder Mensch ist von Natur aus kreativ, manche haben es nur vergessen ...

Und genauso habe ich noch kein deftiges Fachwort für das Stöckchen, das mir in den Sinn kam, als ich nach einer Bindemethode für AnfängerInnen suchte. Einfach nur ein Ringbuch schien mir nicht stabil genug. Und so nenne ich es frech das Rückgrat unseres Büchleins.

Ein solches Art Journal werden die TeilnehmerInnen meiner Workshops fertigen: Völlig individuell, nur das Thema "Schmetterlinge" ist vorgegeben - und die Form in Ringbindung an einem "Rückgrat", das wir aus Fundholz basteln.

Was soll ich sagen: Ich kam kaum zum Arbeiten! Aber ich habe binnen weniger Stunden derart viel von anderen Menschen gelernt und werde deshalb öfter mal live arbeiten.

Zuerst einmal die Überraschung, etwas berühren zu dürfen! Nun ist das Museum im Kulturerbezentrum natürlich ein Ort, wo einem das Berühren untersagt ist - trotzdem haben Menschen auch eine verinnerlichte Scheu, Kunst anzufassen. Das nächste Mal werde ich ein Schildchen aufstellen: "Bitte berühren!". Denn die leuchtenden Augen, wenn sie es dann taten, waren unbezahlbar. Ich muss nur noch die Hälfte erklären, der Gegenstand spricht für sich. Im Internet und auf Fotos kann man auch nicht annähernd zeigen, was so ein Art Journal ausmacht, man muss es be-greifen dürfen. Und so lernte ich einiges über den Sinn: "Das erzählt ja Geschichten über die Finger!", sagte jemand begeistert.

Art Journals können etwas, was gedruckte Bücher kaum noch haben, was aber in der Buchbranche künstlich hochgeredet wird: die Haptik! Ganz ehrlich: Stets das gleiche Billigstpapier von Taschenbüchern erfüllt einen beim Fühlen ungefähr so, als würde man mit einem ausgewrungenen Wischlappen schmusen. Im Art Journal habe ich dagegen Texturen und Strukturen von Stoffen und Fäden, Papier und Hölzchen, sogar Flechten auf Hölzchen, Baumbast, Pflanzensamen. Ich fühle, ob ein Papier aufgenäht wurde oder mit Leim getränkt - ein und dasselbe Papier lebt. Es darf sogar zerknittert werden, zu heiß gewaschen, ja sogar rosten! Und vielleicht erfüllen diese Art Journals eine Sehnsucht unseres Zeitalters der Virtualität: Wir tragen etwas Stoffliches zum Begreifen mit uns herum, geben unserem Tastsinn und uns eine Art Verankerung, in welche Kunst und Kultur, aber auch Natur gemeinsam hineinfinden.

Überrascht war ich wiederum, wie viele Menschen plötzlich gestanden, auch alles Mögliche zu sammeln. Dass das im Bekanntenkreis nicht jeder verstehen könne, sie aber dies und das in Marmeladengläser oder Schuhkartons horteten. Wie wir so miteinander erzählten, erinnerte mich das sehr an die Schatzkisten der Kindheit. Die Erinnerung daran begleitet uns ein Leben lang. Wer das Glück hat, noch die Original-Schatzkiste von damals zu besitzen, dem erzählen die Gegenstände darin viele Geschichten. Wenn wir klein sind, bauen wir ein Stück unserer Identität in diese Schachteln und verwurzeln uns darin. Wir können Orte wechseln - solange wir unsere Schatzkiste haben, fühlen wir uns nicht entfremdet? Und plötzlich ein Workshop, wo man sammeln darf und soll? Wo es sogar ein Materialbündelchen mit Überraschungen gibt? Wir hatten plözlich alle Kinderaugen.

Und ich genoss es besonders, als sich eine der Sammlerinnen als Kollegin entpuppte, als Textilkünstlerin, die wie ich Fadenreste aufhebt. Allerdings hat sie so viele mehr als ich, dass sie sie in Gläsern nach Grundfarben ordnen kann. Wir hätten uns stundenlang über Upcycling unterhalten können!

Und das ist der andere Aspekt, den ich viel zu klein eingeschätzt hatte: Der Hunger nach Upcycling, nach einem Nachdenken über unser Verhalten Müll gegenüber. Nach Ideen zum Basteln, aber eben auch zum Müllvermeiden. Einige der älteren Generation meinten, sie würden beobachten, wie erfindungsreich Kinder dabei seien, wieviel sie wissen. Und sie, die Älteren, kämen einfach nicht auf diesen Inspirationsreichtum. Es ging ums Freiwerden von Vorschriften, das wilde Herumspinnen, zu dem ich nur den kleinen Anfangsschubs geben werde. Denn auch das können Menschen von selbst, wenn sie es zulassen. Und warum hat eigentlich noch niemand einen Kurs erdacht, bei dem Kinder die Lehrenden sind?!

Schmetterlinge, Artensterben ... würde das in diesem Zusammenhang funktionieren? Möglichst beiläufig sagte ich, dass alle Schmetterlinge im zweiten Art Journal (Foto unten) einmal im Elsass heimisch waren und heute dort ausgestorben sind. Sofort machten die Seiten die Runde, Erinnerungen wurden wach, wann man einen Falter das letzte Mal gesehen hatte. Sehr traurig schaute eine Frau den Apollofalter an und sagte: "Stimmt, jetzt, wo ich das Bild sehe, merke ich erst wieder, dass er fehlt. Jetzt erinnere ich mich wieder, wie lange ich schon keinen mehr gesehen habe!" Es reicht eben nicht, Artensterben zu benennen. Wir müssen die verschwundenen Arten im kollektiven Gedächtnis halten, wir müssen ihre Geschichten erzählen! Sonst bemerken wir den Schwund nicht mehr, würden sie ein zweites Mal aussterben lassen - wir gewöhnen uns allzu leicht und schnell an eine sich leerende Natur. Vor allem müssen die Älteren den Jüngeren von dieser Vielfalt erzählen, sie spürbar machen.

Spürbar wurde dann auch, warum Workshops einen geschützten Rahmen brauchen und man viele Dinge eben nicht per Internet besprechen kann. Die Assoziationskette zwischen Schmetterlingen und Frauen wirkte spontan und tief. Eine Frau spürte eine Verwandschaft, wie sie sagte, weil der Umgang mit der Natur so viel gemeinsam habe mit dem, wie mit Frauen umgegangen würde. Art Journals gehen einem auch an die Seele. Sie werden nicht umsonst in der Kunsttherapie benutzt. Es wird meine schwierigste Aufgabe sein, diesen geschützten Raum zu schaffen, in dem alle sich achten.

Frauen und Schmetterlinge - ich war erstaunt, wie stark die Assoziation bei Betrachterinnen wirkte.


Meine Ideen des Teilens und Tauschens sind insofern wahrscheinlich passend. Ich bin nicht der Typ der Dozentin, die schulmäßig nacharbeiten lässt. Ich will die Teilnehmerinnen ermächtigen, im Sinne von Empowerment. Kollaborative Kunst funktioniert, wenn die Leiterin dezent bleibt und herauskitzelt, dass andere ihre Stärken und Begabungen zeigen. Wenn irgendwann alle mutig genug sind, das auch miteinander auszutauschen. Hier bin ich am neugierigsten: Was werden sie basteln?

Ich war gestern so richtig in meinem Element. Geschichten erzählen, Geschichten anhören, Geschichten miteinander austauschen. Mit Krimskrams, Abfällen und Dingsbumszeugs. Am Mittwoch mache ich die Termine fest.

Sehr beglückt bin ich über einen Umweg nach Hause. Zuerst holte ich mir im Museumsshop Nachschub an Lindenblütenhonig. Dann sammelte ich nebenan bei der Kirche Äste, die der Sturm von den uralten Linden geweht hatte (und ich muss noch einmal mit dem Auto hin für mehr). Rückgrate für unsere Büchlein, vielleicht ein wenig auch für uns, wenn wir mit Perlchen und Seidenbändern Wünsche drumherum weben? Diese Äste kommen von hoch oben aus den Baumkronen. Von manchen sprang sofort die Rinde ab, manchmal zerfielen sie wie in weiße Finger und ich dachte an eine schöne Fee namens Tilia, die Weißfingrige. Die Art Journals verorten sich - verbinden sich mit einer Baumart. Sie erinnern aber auch an die uralten Schönheiten, die Dorflinden aus einer anderen Zeit, die so viel erzählen könnten, so viel gesehen haben. Auch die Schmetterlinge, die wir nicht mehr sehen.

2 Kommentare:

  1. Das klingt nach einer sehr schönen Aktion. Es freut mich, dass sie gleich so ein voller Erfolg war! Das zeigt doch, dass deine Arbeiten einen Nerv treffen.

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    1. Dessen bin ich mir sicher, der Versuch hat allerdings geholfen, das Angebot in drei Zeilen zu formulieren. Jetzt hoffe ich nur noch, dass die Kurse auch voll werden ...

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