Worte, die brennen

Ganz aus dem Rahmen fallend in meinem Blog, aber es brennt zu sehr. Wir kennen den erschreckenden Ausgang der Europawahlen im Osten. Nun meldet NDR 1: "Wenn sie dem "Wohle der Bürger" dient, findet Sascha Ott eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht abwegig." Es handelt sich dabei um den stellvertretenden Landesvorsitzenden der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Ganz genau, das ist die christliche Partei, die sich gerade so ereifert, dass die ach so bösen jungen Wählerinnen und Wähler ach so ganz andere Themen haben. Er hat da durchaus Gegner, aber er hat es gesagt und er will. Punkt.


Ich fühle mich böse erinnert. Während meines Studiums schrieb ich eine Seminararbeit über die Badische Landeskirche im Dritten Reich. Anders als früher üblich, benutzte ich damals nicht nur kluge Bücher und Original-Archivmaterial, ich befragte Zeitzeugen, die dabeigewesen waren. Und natürlich interessierte mich eine Frage besonders: Wann war eigentlich dieser Zeitpunkt, als etwas "umkippte"? Konnte man historisch festlegen, wann die ersten demokratisch gesinnten und bürgerlichen Christinnen und Christen dem Faschismus die Hand reichten und damit die Büchse der Pandora ganz weit öffneten?

Man konnte natürlich "den" Zeitpunkt genau bestimmen, auch wenn es immer mehrere Zeitpunkte waren. Es geschah an mehreren Ecken und Enden gleichzeitig, so wie heute Demokratie punktweise ausgehöhlt wird in Polen, Ungarn, Italien, den USA, so, wie es sich ein britischer Farage und eine französische Le Pen erträumen, die zum Glück noch gestoppt werden von den demokratischen Institutionen. Noch gestoppt werden können. 

Zuerst war es auch damals nur die Akzeptanz von etwas Gesagtem. Oder das Schweigen, das immer einen Status Quo - wenn auch passiv - akzeptiert. Dann gab es die Anbiederung nach Ultrarechts, weil einem die Schäfchen abhanden kamen. Eigene Themen und Programme aufstellen? Warum, wenn es so einfach schien, sich rechts einfach welche abzuschauen? Würden vielleicht wieder mehr in die Kirche kommen, wenn man ein paar der Naziinhalte nachplapperte? Es fing auch damals zuerst an unterschiedlichen geographischen Punkten an, nicht überall, aber es verbreitete sich wie die Pest. Wurde zum braunen Tod.

Wir alle kennen die Geschichte, sollten sie kennen. Wenn nicht, können wir das alles nachlesen, in Dokumentationen anschauen, in Museen erfahren. Ich könnte jetzt über meine Seminararbeit referieren und schlaue Parallelen ziehen. Stattdessen möchte ich weitergeben, was mir einer der Zeitzeugen - damals schon sehr alt - gesagt hat.

Es war Anfang der 1980er, als wir gemeinsam am Grab seines besten Jugendfreundes standen, den die Gestapo zuerst sadistisch gefoltert hatte und der dann im KZ durch jämmerliches Verrecken ermordet worden war. Der Mann neben mir hatte lediglich in den richtigen Momenten einfach Glück gehabt, dass er überlebte. Und er sagte von sich selbst, dass er noch ein zweites Glück gehabt hatte: Er hatte als Kind unwahrscheinlich viele Gedichte auswendig gelernt.
"Ich habe mir diese Gedichte im Kopf immer wieder selbst vorgelesen, um nicht irre zu werden. Ich habe mir gesagt, Poesie ist eine Waffe, solange ich die habe, kriegen sie mich nicht klein."

So stand er am Grab seines besten Freundes und rezitierte ihm ein Gedicht, ihm, der kein Glück gehabt hatte. Dem er erst nach 1945 ein ordentliches Begräbnis hatte verschaffen können.

Das "Vergehen" der beiden: Sie waren Mitglieder der Bekennenden Kirche, kämpften gegen die Deutschen Christen, waren im Widerstand. Ob das damals nicht schon viel zu spät gewesen sei, sich zu engagieren, wollte ich wissen - die Auswirkungen hatte ich ja vor Augen. Jeder von uns kennt wohl die Geschichte von Pastor Martin Niemöller, der 1937 zuerst ins Gefängnis und später ins KZ kam. Er hatte die Vorläuferorganisation der Bekennenden Kirche, den Pfarrernotbund, 1933 gegründet. Das kam mir doch recht früh vor, 1933, aber der Zeitzeuge belehrte mich eines Besseren:
"Nein, es fängt immer viel früher an, als man glaubt. Viele Menschen erkannten die Zeichen der Zeit in den 1920ern, Hitler klappte nicht einfach wie ein Schachtelteufel auf."
Und dann erzählte er mir, dass die richtig üble Sache unter den evangelischen Christen schon vor 1933 akut wurde.

Als er mir damals die Geschichte erzählte, dachte ich, meiner Generation und Zeit entsprechend: "Wehret den Anfängen! Nie wieder!" Wenn ich es heute Revue passieren lasse, gefriert mir fast das Blut in den Adern, angesichts der Parallelen und angesichts dessen, dass wir irgendwann unterwegs ins Heute massiv versagt haben und nur noch jetzt eine Chance zum massiven Widerstand haben.

Es geschah zunächst unauffällig und zersetzend in den Gemeinden, Anfang der 1920er schon, wie er erzählte. Aus deutschen Köpfen waren einige Dinge nie ganz gewichen, auch nicht nach dem Ersten Weltkrieg: ein übler Antisemitismus mit gefährlichen Rassetheorien, die man Ende des 19. Jhdts. ausgearbeitet hatte, und die verquasten, dummen völkischen und pseudogermanischen Ideen von Leuten, die immer noch nicht zugeben wollten, dass sie es gewesen waren, die den ersten barbarischen Weltkrieg angezettelt hatten. Es begann wie heute ... da waren diese Verkrustungen, die man nicht weggekratzt hatte, bis sie so fest waren, dass sie nichts mehr durchließen. Es gab Sätze, die insgeheim als verführerisch erlebt wurden, weil man doch eigentlich selbst auch öfter wütend war. Auf die da oben. Auf die anderen. Überhaupt auf alles, was anders war. Oder zum Andersartigen erklärt wurde.

Identitätsstiftung durch Ausgrenzung, sektiererischer Zusammenhalt. Das wird man wohl mal denken dürfen. Das wird man wohl mal sagen dürfen.

War so ein Satz einmal ausgesprochen und draußen, wirkte er wie virales Gift. Das wird man wohl noch sagen dürfen, andere sagen das nämlich auch! Es war die Zeit der modernen Massenmedien. Man las massenhaft Zeitungen, verteilte zu allem und jedem Flugblätter, warf sie auch schon mal vom Flugzeug aus ab. Hitler hat nicht umsonst den billigen Volksempfänger in alle Haushalte gebracht. Es gab zuerst nur Scheinmehrheiten, aber keiner hinderte sie daran, so zu reden, wie sie redeten. Gerade in christlichen Kreisen ermahnte so mancher Pfarrer seine Schäfchen, dass man schließlich mit seinem Nächsten im Gespräch bleiben, miteinander reden müsse. Man versuchte, mit den Deutschen Christen sogar noch zu reden, als diese längst - extremistisch radikalisiert wie sie waren - die Redewilligen ins KZ hinein denunzierten.

So richtig brutal faschistisch und menschenfeindlich wurde es in der Kirche also schon vor 1933. In Thüringen sei das Nest gewesen, erzählte der Zeitzeuge - und wenn ich das lese, muss ich unwillkürlich an Traditionslinien denken, an den Osten. 1931 haben sie da offiziell losgelegt, 1932 die Deutschen Christen gegründet. In deren Programm ist schon alles an Faschismus enthalten, was man sich nur denken kann. Unverhohlen und deutlich. Schwarz auf Weiß nachzulesen. Auch Christen haben so etwas gemacht. Auch christliche Parteien machen zuviel bei so etwas mit.

"Und sie haben immer noch gedacht, die würden das schon nicht so schlimm meinen. Das wäre halt ein wenig dreist formuliert, aber es käme sicher nicht so. Wenn man mit denen reden würde, dann würde das schon werden. Wenn man für die einfachen Menschen mehr tun würde, dann ginge das schon wieder weg. Und später: Ach, dieser verrückte Kerl, der würde schon nicht an die Macht kommen und wenn, schon nicht so schlimm werden, wie er tut."
Die Worte des Zeitzeugen brennen sich ins Heute.

Es gab dann welche, konservative und eigentlich demokratisch gesinnte Menschen, die glaubten, sie könnten am rechten Rand fischen, um stärker zu werden. Schneller, als sie es manchmal selbst bemerkten, waren sie mit der braunen Pest infiziert, auf die rechtsextremistische Seite gekippt. Meine Oma hat immer gesagt: "Man kann nicht nur ein bißchen schwanger sein." Sie hatte so recht.

Darum gab es für die beiden jungen Leute, von denen der eine endlich eine Grabstätte gefunden hatte und der andere ein alter Mann ohne Jugend geworden war, nur eine Alternative: den Widerstand im Kirchenkampf. Es klang so einfach, was mir der Mann sagte:
"Wenn doch damals, gerade in den Zeiten, wo es noch offen möglich war, einfach jeder Demokrat ein aufrechtes Nein gesagt hätte, sich verweigert hätte!"

Aber damals schon hat es zuviele von der Sorte gegeben, die Kompromisse machten. Die glaubten, man könne ja mal in Sachfragen wenigstens mit Faschisten zusammenarbeiten. Man habe ja vielleicht sogar ein paar klitzekleine Gemeinsamkeiten. Man müsse doch mit den Menschen reden. Und die insgeheim dachten, man könne vielleicht die eigene Machtposition stärken, indem man nach rechts rücke.

Mit der Gier nach Macht kam die Lust an der Macht. Faschismus war schon immer Lustersatz. Todeslust.

Im Stuttgarter Schuldbekenntnis der protestantischen Kirche, das 1945 verlesen wurde, heißt es: 
"Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Werden wir eines Tages auch ein Schuldbekenntnis sprechen müssen? Und wie hoch wird der Preis dafür sein, was wir nachfolgenden Generationen hinterlassen?


Lesetipp: Artikel über die Lebensgeschichte einer fast vergessenen Frau der Bekennenden Kirche, Elisabeth Schmitz
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