Ist das Müll oder kann das weg?
Wenn man auch dort wachsen kann, wo es die Wurzeln wirklich schwer haben ... |
Du fährst wieder durch jenes Dorf, alles ist gut, du fährst weiter. Am Dorfausgang steht ein Mann am Zebrastreifen und du bremst. Alles ganz normal, Alltag. Aber der Mann bewegt sich nicht, ist unsicher, du gibst ein Handzeichen, er möge die Straße überqueren. Schaust ihm dabei in die Augen, weil du herausfinden willst, warum er sich nicht über den Zebrastreifen traut, und plötzlich bist du in andere Augen gebeamt, anderthalb Jahre in der Vergangenheit. Keine Erinnerung, kein "ach damals ... und ich schalte jetzt wieder auf 2016". Für einen Bruchteil deiner Gegenwart bist du in der Vergangenheit, real, mit allem Drum und Dran und dem Schock und den rasenden Gedanken von damals. Dann hat der Mann den Zebrastreifen wie in einem Nebel überquert und du bist wieder da, veratmest Minuten. Als wäre nichts geschehen. Aber es hallt nach. Du lebst deinen Alltag und kannst zwei Tage lang nicht schlafen. Was sind schon zwei Nächte? Nach anderthalb Jahren ...
In solchen Situationen, das weiß ich, muss ich mich sehr pflegen und auf mich aufpassen. Es wäre nämlich gefährlich, nichts zu tun. Ich muss darüber reden und mir vorsätzlich gut tun. Damit das irgendwann weggeht (das tut es mit der Zeit, wenn man sich pflegt) und sich nicht einnistet. Die eigene Schale weicht in solchen Situationen auf und man wird anfällig für die Stacheln von außen. Seelensalbe draufstreichen tut dann gut. Ob man Waldwanderungen mit dem Hund unternimmt oder Katzenbildchen knipst - da ist jeder anders gestrickt. Man muss sich nur wirklich selbst gut tun, nicht den anderen und schon gar nicht deren Erwartungen. "Psychohygiene" nennt man das - und weil der Begriff in Deutschland historisch problematisch besetzt ist, spricht man inzwischen lieber von sogenannter Resilienz. Wobei das sprachlich unsauber ist: Psychohygiene beinhaltet die Methoden, mit denen man Resilienz erreichen oder verbessern will. Resilienz wiederum bedeutet so viel wie "seelische Widerstandsfähigkeit".
Jede und jeder braucht die im Leben, nicht nur Leute, die einen Unfall erlebt haben. Man muss nicht durch die Hölle oder ein persönliches Grauen gehen, um eine angekratzte Resilienz zu bekommen - unsere moderne Art zu leben feilt schon gehörig daran herum. Kollegin Christa S. Lotz, die zum Thema schon öfter gebloggt hat, bringt es auf den Punkt, welche Fragen zuerst helfen: "Ich bin dafür verantwortlich, was ich mir zumuten lasse: Was tut mir gut? Wer tut mir gut?" Wohlgemerkt - mit Egoismus oder Egozentrik hat das nichts zu tun. Es ist eine Art Medizin in Zeiten, wenn uns Stress zu überwältigen droht, wenn wir zu dünnhäutig, vielleicht zu passiv, übermäßig Negatives auf uns einwirken lassen. Oder das Gefühl haben, etwas zieht uns über die Maßen herunter. (Achtung: Solche Fragen helfen bei kleineren Downs, bei einer echten Depression z.B. sollte man an eine Therapie denken.)
Künstler haben dafür oft feine Antennen entwickelt, weil sie zwar mit dem Hornhautmantel unter Kritiker gehen, aber verletzlich offen bleiben müssen, um überhaupt Kunst schöpfen zu können. Wir sagen uns das untereinander, wenn wir gerade innere Einkehr brauchen oder Gesprächsbedarf haben, wenn wir wieder einmal irgendetwas abschalten müssen, uns einer Erwartung entziehen.
Die Außenwelt sieht das zuweilen mit Häme oder Ärger, aber das ist das Problem der Außenwelt - und da muss die durch, nicht wir. Lasst sie reden! Madame X hat sich wieder drei Tage eingeschlossen, um eine emotional besonders schwierige Szene für ihr neues Buch zu schreiben, als wenn die nicht mit uns Kaffee hätte trinken können, wenn wir klingeln und Lust drauf haben! Künstler Y hat mir doch tatsächlich einen Korb gegeben, er will nicht bei unserem Dorffest mit dem Hotelier und dem Metzger einen Verkaufsstand aufmachen, weil ihn das von seiner eigentlichen Arbeit abbringe ... so ein arroganter Kerl! Frau M. ist bei Facebook raus, einfach so, ratzfatz ohne große Ankündigung. Täte ihr angeblich besser, aber wie will die denn ohne Social Media überleben und ihre Kunst an den Mann bringen? Ja, was, Karle, du hast schon mit so vielen Leuten Musik gemacht, jetzt sträubst du dich ausgerechnet gegen die Mondschein-Combo und tust, als wärst du was Besseres? - All diese Leute sind nichts Besseres. Sie haben nur gelernt, auf sich selbst zu achten und Nein zu sagen.
Das Leben ist endlich - und irgendwann spürt jeder den Hauch der Vergänglichkeit. Dann geht es darum, sich nicht mehr so sehr ablenken zu lassen, sein Ding zu machen. Auch wenn alle äußeren Zeichen gegen einen stehen mögen. Oder wenn man sich einbildet, dass sie das tun. Auch dafür braucht es Resilienz: Um zu erkennen, wann ich mich selbst herunterziehe, indem ich mir Dinge schlechtrede. Oder nur auf das Grausige, das Falsche, das Lieblose in der Welt achte. Resilienz braucht es heutzutage selbst gegenüber einer Nachrichtensendung.
Kürzlich habe ich mich mit einem befreundeten Künstler unterhalten über dieses gesunde Alarmgefühl, mit dem wir erkennen, dass es mal wieder so weit ist: Rückzug von etwas oder jemandem, Konzentration auf die Kunst, das "eigene Ding". Klingt wieder irgendwie egozentrisch. Hat aber nicht mit wirklich wichtigen Menschen oder Situationen zu tun. Jener Künstler etwa geht dann Singen. So, wie andere Menschen eben die Laufschuhe anziehen und Joggen gehen. Und weil er ein Marathonspitzensportler ist, muss er sowieso mehr singen als andere, muss das Singen atmen und den Atem singen. "Ich höre es, wenn meine Welt plötzlich dumpfer klingt. Oder die Musik abhanden kommt, übertönt wird.", sagt er. Das Alarmgefühl sagt ihm eins: "Du musst jetzt mit aller Seelenkraft singen. Nicht herumgrübeln, sondern einfach singen." Kommt er aus seinem Probenraum zurück, atmet er Leben, das schlechte Gefühl ist weg. "In diesen Momenten weiß ich, Grübeln hätte mir nicht geholfen, sondern mich nur mehr heruntergezogen. Und vor allem vom Singen abgehalten."
Mir geht das oft speziell mit Facebook so. Schon oft war ich knapp davor, mein Account zu löschen. Ich halte es beruflich aufrecht, weil ich mir doch noch einbilde, es zu brauchen. Versuche, nicht auszuufern ... und verliere mich dann doch wieder im Lesen viel zu vieler Beiträge. Kurz nach meinem Flashback habe ich gespürt, dass Facebook nichts ist, was wirklich guttun würde. Es tut nur so als ob. Unlängst hat man dem Ex-FB-Manager Martinez übelgenommen, dass er in einem Interview gesagt hat: "Facebook ist legales Crack." Aber ist das bei Süchtigen nicht immer so, dass sie denjenigen schneiden, der die Wahrheit ausspricht?
Natürlich kann man nichts verallgemeinern und eine Plattform ist immer nur so gut oder schlecht wie ihre User. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dort von einer ziemlich miesen Droge zu naschen, immer häufiger. Die Algorithmen sperren mich immer enger in eine Filterbubble, die mich nur noch selten aufreizt, wirklich inspiriert, zu völlig neuen Gedankengängen anstachelt. Obwohl es die Menschen noch gibt, die das tun - aber ausgerechnet mit denen kommuniziere ich meist woanders und viel näher! Die grauen Herren von der Zeitbank schmarotzen meine Zeit, weil sie ein Gimmick nach dem anderen entwerfen, damit ich nicht so schnell wegkomme: Wie oft muss ich Kommentare extra wieder aufklappen, in die falschen hineinlesen, um eine Debatte wiederzufinden oder Antworten. Hass und Gekotze, himmelschreiende Dummheit und Bequemlichkeit rinnen durch die Bewusstseinsspalten, die von Kommentaren geschlagen werden, viel öfter, als mir lieb ist.
Zum zweiten Kaffee erwartet mich eine manchmal unerträgliche Mischung aus Friede-Freude-Eierkuchen-Sinnsprüchen, die mit einer klitzekleinen Logikkritik aus den Angeln gehoben werden könnten - und Bildern von einem Grauen, das ich in Bildern bewusst nicht ansehen möchte. Es ist kein Platz für individuelle oder tagesabhängige Empfindlichkeiten in dieser Welt des Schwarz-Weiß, ich kann nichts davon herunterdimmen. Stattdessen ist das Ding so schlau programmiert, dass ich nur noch wirklich dabei sein kann, wenn ich like, zur Antwort noch eine dritte gebe oder bei jemanden nur darum quatsche, weil ich seine Postings mal wieder sehen will. Können wir uns schenken, mein Gejammere. Den Überdruss kennen wir alle zeitweise und viele schlaue Artikel sind schon darüber geschrieben worden. Aber keiner steigt wirklich aus. Es gibt so wenig Ersatzdroge.
Ich habe schon alles quergetestet, um die Muster aufzubrechen. Mehr visionäre Artikel geteilt: interessiert kein Schweinlein. Lesestoff prägnant und ohne Werbung und anderen Begleitmüll auf einer anderen Plattform sammeln und verlinken: Klickt kein Schweinlein hin. Echte Diskussionen führen: nervt die meisten. Fakten statt Emotionen: langweilt ganz viele. Und dann all die Spielchen um FB-Freundschaften, die keine echten sein können, wenn ihnen das Leben fehlt. Stummschalten, blockieren - wird nicht mehr als das verstanden, wozu es erfunden wurde: Einfach die Luft herausnehmen, im Stream eine gewisse Ruhe haben oder gezielt jemanden nicht nerven wollen. Nein, das verwechselt man heutzutage mit einem Dolchstoß ins Herz.
Ich muss mir gut tun im Moment. Und das heißt auch: Drogencheck. Kann ich mit denen, die mir wichtig sind, nicht auch anders kommunizieren, als mir das Zuckerberg aufdrängt? Gibt es noch eine freie Kommunikation außerhalb? Kommen die KundInnen wirklich scharenweise angerannt, wenn ich eine FB-Seite betreibe? Oder wie war das noch mal mit der Haptik und den Leuten im echten Leben? Es finden mich doch auch immer wieder welche außerhalb, mailen mir sogar!
Es zählt für mich mit zum Schwersten von allem im Resilienzprogramm: Das Abspecken und Fokussieren in Social Media. Weil ich ein Kommunikationsmensch bin. Und wahrscheinlich bin ich längst süchtig. Aber ich hasse diese Zeitfresser. Ich hasse mehr und mehr all diesen Dreck, der an mir haften bleibt, wenn ich nur einmal durch meinen Stream scrolle und zu genau hinschaue. Als ich noch in einer Printredaktion gearbeitet habe, warfen wir böse Leserbriefe ziemlich ungelesen in den Papierkorb. Wir machten uns keinen Kopf mit den miesen Typen, die sich nur an uns abarbeiten wollten. Heute müssen selbst LaiInnen miese, fiese Kommentare lesen, die eigentlich gar nicht für sie gedacht sind. Wie blöde sind wir?
Jeder muss für sich selbst herausfinden, was gut für ihn ist und ab wann es die eigenen Resilienz anfrisst. Manchmal ist die Droge Facebook so nett wie das Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Kein Problem, wenn man zwischendurch auch mal wieder Salat isst.
Ein großes Problem aber, wenn einem andere signalisieren, was sie von einem erwarten: Like mich jetzt, hab mich ein bißchen lieb! Teile das an fünf andere, die du wiederum emotional erpresst, diesen Dünnpfiff zu teilen! Sei nicht so kritisch, glaub mir das jetzt! Du liest bei mir gar nicht mehr mit, hast du mich nicht mehr lieb? Du hast meinen Kommentar einen halben Tag unbeantwortet gelassen!
Ausknopf. Jener Künstler geht in solchen Momenten ganz laut singen. Die Stimmen übertönen. All dieses Zeug wegbrüllen, dass wie die Schemen von Untoten aus dem Stream steigt und sich an einem festkrallen will.
Gegenprogramm: Was will ich? Und warum mache ich das verdammt noch mal nicht gleich, sondern hänge wieder mal bei FB herum? Ja, man kann tatsächlich ausgerechnet jetzt und unbedingt ein Katzenbild brauchen wollen. Da ist nichts Schlechtes dabei. Aber wann habt ihr das letzte Mal vorsätzlich etwas getan, das euch wirklich gut tut? Nicht warten: machen!
Lesetipps:
Psychohygiene als historischer Begriff, Wikipedia
Der Zusammenhang zwischen Psychohygiene und Resilienz
Die FAZ über Resilienz als wichtige Eigenschaft in unserer Zeit
Psychohygiene als Achtsamkeit: Schnellsttipps
Praktische Übungen zur Resilienz (pdf)
Christa S. Lotz erklärt, was Resilienz ist und wie man das macht
Kleiner Überblick über die Achtsamkeit
Alice Gabathuler hat über das Dilemma mit Social Media nachgedacht
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Danke, Petra. In letzter Zeit war ich so absorbiert vom Unterwegssein sowie dem Schreiben und den Schreibern, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe, dass es Facebook gibt! :-)Was du schreibst, ist ganz, ganz wichtig, finde ich. Ich werde es in mich aufnehmen und es in meinem Blog weiterentwickeln, und es ist auch wie ein roter Faden, der sich durch alle Beiräge zieht, mit allen Facetten.
AntwortenLöschenHerzlichst
Christa
Ich glaub's nicht ... meine Gedanken ... auch bei Christa drüben. Und weisst du was? Vor lauter FB und Twitter habe ich sie erst heute gelesen. Weil ich gestern zu einem ähnlichen Thema gebloggt habe. Weil es mich auch mal wieder beschäftigt. Weil ich zurück zu den Blogs will. Weil auch ich mich ertappe, plötzlich auf Likes zu achten, wo mir das doch einmal völlig egal gewesen ist.
AntwortenLöschenIch bleib auf FB. Ich klick auch weiterhin auf "Like" weil ich das eine ziemliche Weile nicht gemacht habe und dann nur noch eine Handvoll Leute in der Timeline hatte. Ich bleib auch auf Twitter, weil ich da immer wieder tolle Links zu Artikeln finde. Beide TL halte ich völlig konfliktfrei (sprich, ich folge keinen Idioten von Parteien, die mich nur nerven), weil ich mich nicht in sinnlosen Diskussionen verlieren will, die auf Twitter sowieso keine Diskussionen sind.
Meinen Blog habe ich reanimiert. Und ich besuche wieder Blogs (sogar das hatte ich aufgehört).
Danke für die Gedankenanstösse.
Liebe Christa, liebe Alice,
AntwortenLöschenjetzt geht's mir wie anderen - ich habe mich bei FB verkramt und hier nicht geantwortet!
Ich bleibe selbstverständlich auf den Kommunikationsplattformen, bis sie mich völlig nerven sollten. Weil die als Verteiler natürlich auch wichtig sind und andere Arten von Kontakt ermöglichen. Es ist aber immer ganz wichtig zu wissen, was bleibt, falls mal eine Plattform nicht mehr sein sollte ...
Dementsprechend werde ich auch ein paar Geschichten um mein Atelier auf meiner Website direkt erzählen. Sozusagen das Bleibende, Zeitlose.
Euch danke fürs Feedback,
Petra