Amazon als Lehrstück
Das Frühstück ist für mich eine der Zeiten, in denen ich einigermaßen in Ruhe kürzere Texte lesen kann. Natürlich rede ich über gute Artikel und empfehle sie gern weiter. Etwa heute in den Links dieses Beitrags. Mir fiel bereits auf, dass mir das bei FB viel zu umständlich ist (Gutes auch oft zu schnell verschwindet) und bei Twitter auf ein viel agileres und interessierteres Publikum trifft. Aber wer hätte gedacht, dass Texte - zumindest in den USA - am häufigsten per SMS geteilt werden? Das Nieman Lab hat Buzzfeed um Zahlen gebeten, dort liegt FB abgeschlagen auf dem vierten Platz als Empfehlungsmedium, noch nach der guten alten Email! Immer mehr Empfehlungen laufen außerdem in den sogenannten "dark social media", also nicht mehr so öffentlich.
Ideal für meine Frühstückslektüre sind Hintergrundberichte (bitte mehr davon in den Medien!). Also das berühmte Nachhaken und Aufarbeiten von Themen, die der Tagesaktualität geschuldet kaum oder nur in Hektik und komplexem Wirrwarr dargestellt wurden. Aus der Distanz versteht man vieles besser. Der Guardian hat die kritischen drei Tage der Eurokrise um Griechenland aufgearbeitet und erzählt auch von Hintergründen um Schäuble und Merkel, die "damals" in den Nachrichten eher unsichtbar blieben. Auch die Krautreporter widmen sich einem Thema, das in aller Munde ist und von dem man meinen könnte, selbst der letzte müsse es begriffen haben. Sie erklären die komplexen Zusammenhänge des Syrienkriegs für Jedermann verständlich. Ach ja, wo wir schon mal bei der Politik sind (solche Links gibt's von mir kaum noch via FB, sondern via Twitter) - das Zeitunglesen kann oft auch den Eindruck der Realität verbiegen. Sind die Menschen wirklich so europamüde, wie es von allen Seiten tönt? Die Bertelsmannstiftung hat eine Studie gemacht und das Gegenteil herausgefunden: Die Mehrheit der EU-Bürger steht hinter der EU und dem Euro, wünscht aber eine größere politische und wirtschaftliche Integration. Die Kritik an der derzeitigen Politik kann also auch durchaus etwas Reinigendes haben in Richtung auf eine engere Staatengemeinschaft!
Ich bin mir bewusst, dass meine Auswahlen ein Problem für viele bergen: Sie sind selten deutschsprachig. Mir selbst fällt auf, dass ich immer häufiger Stoffe in der Weltsprache Englisch lese (wodurch einem auch Inhalte aus Asien und anderen weit entfernten Ländern zugänglich werden), aber auch in meiner "Alltagssprache" Französisch. Ich persönlich brauche diese weiten Horizonte.
Manches bekommt man in Deutschland nämlich auch kaum mit. Etwa den saftigen PR-Krieg um Amazon, den die New York Times ausgelöst hatte. Dort erschien im August der Artikel "Inside Amazon. Wrestling Big Ideas in a Bruising Workplace", der in den USA eine breite Debatte auslöste: über Amazon, aber auch darüber, welche Mittel journalistisch erlaubt seien, um Stimmungen zu transportieren.
In dem Artikel (Lesen ein Must!) geht es um das Dasein als Angestellte bei Amazon, um das Ringen, zu den "best Amazonians" zu gehören, das in europäischen Augen erstaunlich an gewisse Sektenstrukturen erinnern mag, aber auch irgendwie sehr amerikanisch ist. Zuweilen erinnert es sogar schon fast skurril an die Methoden der Sollerfüllung kommunistischer Diktaturen. Liest man den Beitrag als BuchautorIn, gehen einem die Hühneraugen auf, warum das ganze System nur auf Rankings und Umsatzsteigerungen - abgekoppelt von Inhalten - zielt: "Because team members are ranked, and those at the bottom eliminated every year, it is in everyone’s interest to outperform everyone else." Spätestens jetzt sollte klar sein: Dieses Unternehmen ist wirklich nicht an echter Literatur oder Kulturbewahrung interessiert.
Die Gemüter erhitzten sich jedoch an einem Satz aus dem Mund eines Insiders, eines gewissen Bo Olsen, der im Buchmarketing eine Rolle spielen solle: "Nearly every person I worked with, I saw cry at their desk." Da soll also nicht mal der ein oder andere Angestellte am Schreibtisch in Tränen ausbrechen, sondern fast jeder Kollege? Glaubhaft klingt es durchaus, wenn man über die unglaublichen Methoden der Mitarbeiterführung liest.
Die Leser der NYT waren erschüttert über Amazon, zumal aus dieser Firma ja selten Einzelheiten nach draußen dringen. Und es geht schließlich nicht um irgendwen: die Firma hat eben Walmart überholt und Forbes vermutet, dass Jeff Bezos der fünftreichste Mann der Welt ist! Trotzdem handle Amazon nicht in allen Bereichen anders als andere Unternehmen, nicht anders als unser Wirtschaftssystem - nur schneller und konsequenter, so der Artikel. In dem erfährt man viel darüber, welcher Preis zu zahlen ist für die Bequemlichkeit von Kunden und auf wessen Kosten perfekter Kundenservice oft geht - und wie unsere Zukunft in einer Welt von Algorithmen und Datensammelei aussehen könnte. Wobei es Facebook und Google ganz anders machen - auch das erfährt man.
Klar, dass Amazon auf diesen Artikel sehr harsch reagierte und unter anderem jenen Exangestellten unmöglich machte, der von den Tränen erzählt hatte: Er soll bei seiner Arbeit betrogen haben, war also kein koscherer Zeuge. Hat er das wirklich? Keiner kann das überprüfen. Ändert das etwas am Grundtenor des Artikels? Macht etwa eine Aussage eines Ex-Mitarbeiters einen sehr langen Artikel mit Belegen unglaubwürdig? Es gab noch mehr Vorwürfe ...
Das heftige Hin und Her zwischen der NYT und der Firma, wurde jetzt zusammengetragen in "Extremely Public Relations". Dieser Artikel ist ein schönes Lehrstück für Journalisten über die Frage unabhängiger Berichterstattung und anschließender PR-Kriege in Social Media, wobei es immer um die Meinung der LeserInnen geht: "If you think the original story contained both valuable information and flaws, your default position is to go to bat for the Times; if you read this story as a portrait of a tough workplace written to cast it in the worst possible light, but acknowledge that it contained some worrying anecdotes, then your tendency will be to defend Amazon".
Für Laien, die sich mit dem Artikel beschäftigen möchten, ist er ein Lehrstück, wie schwierig unabhängiger Journalismus heute geworden ist und wie viel Rückgrat die betreffenden AutorInnen für mögliche Propagandakriege brauchen - Rückhalt durch ihre Auftraggeber übrigens auch.
"Bleiben Sie skeptisch!" - da hat nun ausgerechnet der "Senior Vice President for Global Corporate Affairs" des Riesen mit dem großen A. den einen wahren Satz geäußert. Bleiben wir immer und überall, aber klar doch.
Meine Frühstückslektüre entdeckte ich diesmal dank der Newsletter von The European Interest (internationale Presseschau für EU-Themen) und Nieman Journalism Lab (Harvard Projekt über die Zukunft des Journalismus). Beide kann ich ebenfalls empfehlen.
Ideal für meine Frühstückslektüre sind Hintergrundberichte (bitte mehr davon in den Medien!). Also das berühmte Nachhaken und Aufarbeiten von Themen, die der Tagesaktualität geschuldet kaum oder nur in Hektik und komplexem Wirrwarr dargestellt wurden. Aus der Distanz versteht man vieles besser. Der Guardian hat die kritischen drei Tage der Eurokrise um Griechenland aufgearbeitet und erzählt auch von Hintergründen um Schäuble und Merkel, die "damals" in den Nachrichten eher unsichtbar blieben. Auch die Krautreporter widmen sich einem Thema, das in aller Munde ist und von dem man meinen könnte, selbst der letzte müsse es begriffen haben. Sie erklären die komplexen Zusammenhänge des Syrienkriegs für Jedermann verständlich. Ach ja, wo wir schon mal bei der Politik sind (solche Links gibt's von mir kaum noch via FB, sondern via Twitter) - das Zeitunglesen kann oft auch den Eindruck der Realität verbiegen. Sind die Menschen wirklich so europamüde, wie es von allen Seiten tönt? Die Bertelsmannstiftung hat eine Studie gemacht und das Gegenteil herausgefunden: Die Mehrheit der EU-Bürger steht hinter der EU und dem Euro, wünscht aber eine größere politische und wirtschaftliche Integration. Die Kritik an der derzeitigen Politik kann also auch durchaus etwas Reinigendes haben in Richtung auf eine engere Staatengemeinschaft!
Ich bin mir bewusst, dass meine Auswahlen ein Problem für viele bergen: Sie sind selten deutschsprachig. Mir selbst fällt auf, dass ich immer häufiger Stoffe in der Weltsprache Englisch lese (wodurch einem auch Inhalte aus Asien und anderen weit entfernten Ländern zugänglich werden), aber auch in meiner "Alltagssprache" Französisch. Ich persönlich brauche diese weiten Horizonte.
Manches bekommt man in Deutschland nämlich auch kaum mit. Etwa den saftigen PR-Krieg um Amazon, den die New York Times ausgelöst hatte. Dort erschien im August der Artikel "Inside Amazon. Wrestling Big Ideas in a Bruising Workplace", der in den USA eine breite Debatte auslöste: über Amazon, aber auch darüber, welche Mittel journalistisch erlaubt seien, um Stimmungen zu transportieren.
In dem Artikel (Lesen ein Must!) geht es um das Dasein als Angestellte bei Amazon, um das Ringen, zu den "best Amazonians" zu gehören, das in europäischen Augen erstaunlich an gewisse Sektenstrukturen erinnern mag, aber auch irgendwie sehr amerikanisch ist. Zuweilen erinnert es sogar schon fast skurril an die Methoden der Sollerfüllung kommunistischer Diktaturen. Liest man den Beitrag als BuchautorIn, gehen einem die Hühneraugen auf, warum das ganze System nur auf Rankings und Umsatzsteigerungen - abgekoppelt von Inhalten - zielt: "Because team members are ranked, and those at the bottom eliminated every year, it is in everyone’s interest to outperform everyone else." Spätestens jetzt sollte klar sein: Dieses Unternehmen ist wirklich nicht an echter Literatur oder Kulturbewahrung interessiert.
Die Gemüter erhitzten sich jedoch an einem Satz aus dem Mund eines Insiders, eines gewissen Bo Olsen, der im Buchmarketing eine Rolle spielen solle: "Nearly every person I worked with, I saw cry at their desk." Da soll also nicht mal der ein oder andere Angestellte am Schreibtisch in Tränen ausbrechen, sondern fast jeder Kollege? Glaubhaft klingt es durchaus, wenn man über die unglaublichen Methoden der Mitarbeiterführung liest.
Die Leser der NYT waren erschüttert über Amazon, zumal aus dieser Firma ja selten Einzelheiten nach draußen dringen. Und es geht schließlich nicht um irgendwen: die Firma hat eben Walmart überholt und Forbes vermutet, dass Jeff Bezos der fünftreichste Mann der Welt ist! Trotzdem handle Amazon nicht in allen Bereichen anders als andere Unternehmen, nicht anders als unser Wirtschaftssystem - nur schneller und konsequenter, so der Artikel. In dem erfährt man viel darüber, welcher Preis zu zahlen ist für die Bequemlichkeit von Kunden und auf wessen Kosten perfekter Kundenservice oft geht - und wie unsere Zukunft in einer Welt von Algorithmen und Datensammelei aussehen könnte. Wobei es Facebook und Google ganz anders machen - auch das erfährt man.
Klar, dass Amazon auf diesen Artikel sehr harsch reagierte und unter anderem jenen Exangestellten unmöglich machte, der von den Tränen erzählt hatte: Er soll bei seiner Arbeit betrogen haben, war also kein koscherer Zeuge. Hat er das wirklich? Keiner kann das überprüfen. Ändert das etwas am Grundtenor des Artikels? Macht etwa eine Aussage eines Ex-Mitarbeiters einen sehr langen Artikel mit Belegen unglaubwürdig? Es gab noch mehr Vorwürfe ...
Das heftige Hin und Her zwischen der NYT und der Firma, wurde jetzt zusammengetragen in "Extremely Public Relations". Dieser Artikel ist ein schönes Lehrstück für Journalisten über die Frage unabhängiger Berichterstattung und anschließender PR-Kriege in Social Media, wobei es immer um die Meinung der LeserInnen geht: "If you think the original story contained both valuable information and flaws, your default position is to go to bat for the Times; if you read this story as a portrait of a tough workplace written to cast it in the worst possible light, but acknowledge that it contained some worrying anecdotes, then your tendency will be to defend Amazon".
Für Laien, die sich mit dem Artikel beschäftigen möchten, ist er ein Lehrstück, wie schwierig unabhängiger Journalismus heute geworden ist und wie viel Rückgrat die betreffenden AutorInnen für mögliche Propagandakriege brauchen - Rückhalt durch ihre Auftraggeber übrigens auch.
"Bleiben Sie skeptisch!" - da hat nun ausgerechnet der "Senior Vice President for Global Corporate Affairs" des Riesen mit dem großen A. den einen wahren Satz geäußert. Bleiben wir immer und überall, aber klar doch.
Meine Frühstückslektüre entdeckte ich diesmal dank der Newsletter von The European Interest (internationale Presseschau für EU-Themen) und Nieman Journalism Lab (Harvard Projekt über die Zukunft des Journalismus). Beide kann ich ebenfalls empfehlen.
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