Glotze gucken

Ich habe noch nie mit Freunden zusammen Glotze geguckt. Denn wenn Freunde kommen, bleibt der Kasten aus. Gestern war das anders in Frankreich: Es war auf einmal zum Heulen, dass Paris, die Stadt, auf die wir Provinzler sonst schimpfen, so weit weg liegt. Und einige waren zu krank, um in Straßburg beim "Republikanischen Marsch" mitzulaufen. So setzten wir uns gemeinsam vor die Glotze, schauten die Direktübertragung von TF1 aus Paris und tranken viel zu viel viel zu starken Kaffee. Aber auch das nicht gleich. Zuerst tratschten wir ein bißchen über das Leben, den Horror und unsere Ängste.

Ich hatte vor der Abfahrt zuhause ein wenig in die ARD-Berichterstattung geschaut und mich gewundert, dass die sich anhörte wie zu einem Karnevalsumzug in Köln. Man zeigte nur "Je suis Charlie"-Bilder und nicht die anderen, die fast in der Überzahl waren, sprach trocken über Gemeinplätze. Während der Fahrt sprudelten die französischen Journalisten im Radio bereits, dass sich unvorstellbar viele Menschen zur Place de la Republique begäben, mehr als gedacht. Wir hatten keine Erwartungen, wir machten uns Sorgen - und waren - durchweg Künstler - kämpferisch gestimmt. Niemand würde uns unsere über Jahrhunderte erkämpften Werte nehmen. Vor der Glotze saßen wir verteilt, vereinzelt, tranken Kaffee, diskutierten, es wurden Zigaretten gedreht. Es war irgendein Philosoph, der uns im Chor verstummen ließ, selten hat jemand so viel Kluges gesagt. Hände flogen immer wieder vor staunende Münder - die meisten von uns kennen diesen Platz im Alltag ... und jetzt diese Menschen, wie Ameisen, aus allen Richtungen kamen sie zusammen. Friedlich, ohne Panik, traurig und freundlich, so unwahrscheinlich ruhig und unerschrocken. Es war die schiere Masse, die uns den Atem nahm. Und immer wieder in der Trauer auch der Applaus, das gemeinsame Skandieren und Singen, trotzig und stark.

Die Kameras versuchten, Schilder und Objekte herauszuholen aus der Menge. "Je suis Charlie" war längst nicht mehr das Hauptzeichen, es war der Taktgeber geworden, die große Inspiration. Überall hatten die Menschen etwas Neues daraus gemacht, hielten eigene Zeichnungen hoch wie "Je suis Juif" (Ich bin Jude), "Je suis Ahmed" (der Name des getöteten muslimischen Personenschützers bei Charlie Hebdo) ... der Spruch multiplizierte sich, die Schilder wurden immer größer. "Ich bin Christ, Muslim, Jude, Atheist, Mensch, Republikaner, Polizist, frei ..." Da standen sie Stunden, bis sich der Marsch überhaupt erst in Bewegung setzen konnte - alle Religionen, Hautfarben, Kulturen, Berufe, Altersstufen, soziale Klassen - das ganze bunte, aufregende, faszinierende Frankreich, wie es leibt und lebt. Irgendwo wurde eine immense Marianne als Stabpuppe mitgeführt und Spanier hatten einen bösen Spruch von Franco umgemünzt in einen Ausruf für die Freiheit - es war ihr Beitrag, um zu zeigen, wie wichtig ihnen die Werte der Republik seien.

Die Mischung der Emotionen nahm uns gefangen, unsere Gespräche verstummten. Da war die Trauer um die Opfer - wirklich verarbeitet haben wir den Horror der letzten Tage immer noch nicht. Aber da war auch der Trotz zu spüren, der den Trauermarsch zum Marche Républicaine machte - und die Interviews mit Passanten und Leuten aus allen wichtigen Bereichen des Lebens machten das deutlich. Da war etwas geschehen, was unsere Welt verändert hatte: Die Menschen schienen zu begreifen, worauf es ankommt.

Während man sich in der ARD darüber ergangen hatte, wie viele Minuten die Menschen wo genau herumstanden und wann es endlich losgehen würde, transportierte das französische Fernsehen die Bilder der großen Emotionen, der Inhalte. Zu dicht, um es wirklich begreifen zu können, aber einige werden wir nie mehr vergessen können. Der Jude mit dem großen Schild "Ich bin Jude und ich liebe die Muslime!" Hand in Hand mit ihm der Muslim mit dem gleichen Schild: "Ich bin Muslim und ich liebe die Juden!" Wie sie kurz vom friedlichen Zusammenleben in eben jenem attackierten Viertel redeten und dass sich für sie die Welt verändert habe - sie würden künftig in die Schulen gehen, sie planten Veranstaltungen miteinander in Synagoge und Moschee. Weil wir nur hassen können, was wir nicht kennen, was uns Angst macht.

Der Zug der Polizisten und Spezialeinheiten in tiefer Trauer durch die Menge und dann passierte etwas, was in Frankreich so kaum vorher vorstellbar war. Applaus, donnernder Applaus der nun stehenden Menge. Und dann lösen sich Einzelne aus den Reihen, schütteln den Sicherheitskräften die Hände, küssen sie ... In einem Land, in dem man auf die Flics schimpft und die Polizei nicht den besten Ruf hat, lässt uns ein Bild den Atem stocken: Ein Schwarzer in innigster Umarmung mit einem Polizisten, sie drücken die Wangen aneinander, der Mann aus der Menge küsst den Polizisten. Bilder, die irgendwann als Foto um die Welt gehen könnten, weil sie mehr erzählen als Worte - wie sich eine Welt verändert hat, wie ein anderer Umgang miteinander aussehen könnte.

Allein die erste Reihe der Politiker lässt staunen. Sie haben Feingefühl bewiesen und laufen hinter den Angehörigen der Opfer - Feingefühl zeigen auch die Journalisten, die diese nicht mit der Kamera belästigen. In der ersten Reihe der Politiker Hollande Arm in Arm mit Bundeskanzlerin Merkel und dem Schwarzen, den die ARD so schamhaft und dauerhaft verschwiegen hat (wussten sie es nicht?), es ist Präsident Keita von Mali. Wir zählen etwas anderes: Waren es drei oder vier Personen zwischen Netanjahu und Abbas - fast würden sie Arm in Arm laufen, würden sich beide Mühe geben. Wir hören, dass Lavrov und Poroschenko miteinander gesprochen hätten, der Russe und der Ukrainer. Und der Witz aus unserer Runde sitzt: Sollte man verfeindete Politiker vielleicht öfter einmal in solche Menschenmengen stecken?

Das ist das große Ereignis: Hier marschieren die Bürgerinnen und Bürger selbst, Demokratie von unten, die den Politikern und Religionsführern auf Schildern vorhalten, was sie sich am meisten wünschen: Friede, Miteinander, Freiheit, Brüderlichkeit. Die Marseillaise, die an diesem Tag immer wieder von Menschen aller Rassen gesungen wird, löst sich ab mit "All you need is love" von den Beatles. Wir sehen die Bilder und können es immer noch nicht fassen. Etwas ist aufgebrochen in den Menschen und hat eine immense Kreativität freigesetzt. Von den Kindern, die bei den Eltern auf den Schultern sitzen, bis zu den Ältesten, die noch den Zug der "Libération" 1944 erlebt haben, sind diesmal sogar Menschen auf die Straße gegangen, die noch nie in ihrem Leben auf einer Demonstration waren. Und sie alle haben etwas gebastelt, drücken ihre Gefühle in geschriebenen Tafeln und Gegenständen aus. Wenn wir hochrechnen, wie viele wie wir nur vor dem Fernseher sitzen oder in ländlichen Gebieten keine Märsche fanden - wie viele Franzosen müssen sich da im Herzen mobilisiert haben?

Am Rande in einer Zugangsstraße sitzt ein Theatermensch mit einem großen Gestell, an dem Zeichnungen und Sprüche flattern. Er lässt die Menschen zeichnen, sich ausdrücken. Erzählt, wie es ihnen hilft, zu verarbeiten. Wie sich die Emotionen freisetzen. Wie sie aber auch unwahrscheinlich kreativ werden, um auszudrücken, im was für einer Welt sie künftig leben wollen. Da ist es wieder: Er will das nicht auf den Tag beschränken. Sie wollten mit der Theatertruppe nun ganz eng mit dem Publikum etwas entwickeln. Sie dächten darüber nach, welche Möglichkeiten das Theater noch habe. Es sind nicht nur die Zeichner, Frankreichs Kulturschaffende und Künstler scheinen losgezogen zu sein, um sich enger mit den Menschen zu verbinden. Jeder, den sie vor die Kamera bekommen, sagt, dass da noch die Überwältigung zu groß sei, dass aber dieser Tag nachwirken werde. Dieser Tag verändert alle.

Als die Einspieler aus anderen Ländern der Erde kommen, haben wir Tränen in den Augen. "Je suis Charlie" in Marokko, in Jordanien oder Mexiko, Australien und selbst in Moskau kriegen sie die Leute nicht klein. Und dann Ramallah und Jerusalem. Wir machen uns nichts vor, wir kennen die Weltlage und die verhärteten Herzen. Aber hier sprechen Bilder etwas aus, was zig Konferenzen nicht schaffen und so viele Friedensprojekte auch nicht: die Bilder aus Jerusalem und Ramallah ähneln sich so sehr! Da wird ein Hauch von einer Welt sichtbar, wie sie sein könnte. Jemand in der Runde sagt: "I have dream". Martin Luther King - auch er hatte zuerst nur einen Traum, eine Vision.

Viel stärker als "Je suis Charlie" blinkt immer wieder eine grellfarbige Karikatur ins Bild, die keine Karikatur ist, sondern ein Wunschbild, ein gezeichnetes Sehnen: Ein Muslim küsst einen Andersgläubigen, innig miteinander vereint. Kurze Statements von Marschierenden zeigen, dass diese Welt längst jenseits des Hasses existiert: Die jüdische Frau, mit einem Muslim verheiratet, die Muslime mit christlichen Freunden - und sie rufen alle nach fraternité und liberté, nach Brüderlichkeit und Freiheit. Sie stehen mit Taten und Worten dafür ein, dass Islamismus im Islam nichts zu suchen hat, dass die Terroranschläge ein Verbrechen gegen die Menschheit waren und auch eins gegen Gott, Allah, Jhwh ... wie auch immer wir unsere Götter nennen mögen. Einer von uns meint, das sei besser als Woodstock, Liebe gegen den Hass - und das wird zum heimlichen Slogan.

Wir können es nicht glauben. Was wir sehen, ist nach dem noch unverdauten Terror zu schön. Es wäre aber auch ohne den Terror fast zu schön, um wahr zu sein. Bewegen sich da wirklich die Bürger des Landes, die vor kurzem noch ein offizielles Identitätsproblem hatten? Die mit ihrem Staat nicht mehr zurechtkamen und wo sich eine Jeder-gegen-Jeden-Stimmung breitgemacht hatte? Wo die Krise die Mitmenschlichkeit zu fressen drohte und Zukunftsangst sich mit zynischem Fatalismus abwechselte?

Frankreich ist nicht mehr das gleiche Land wie letzte Woche. Die Menge der Marschierenden allein mag den historischen Wendepunkt markiert haben, aber das eigentliche Wunder dieses Sonntags in Paris ist ein mit dem Verstand allein nicht zu fassendes spirituelles ... Wir saßen nicht lange einzeln um den Fernseher und hielten uns an den wärmenden Kaffeetassen fest. Wir rückten zusammen, unwillkürlich. Eine wischte sich verstohlen die Augen und sagte. "Ich habe Tränen in den Augen." Die andere nickt und schnieft. "Ich auch!" Und dann liegen wir uns immer wieder in den Armen und heulen hemmungslos gemeinsam. Gar nicht mehr so sehr aus Trauer. Es ist eine immense Rührung vor dem Augenblick. Weil wir wissen, dieses Rad ist nicht mehr zurückzudrehen. Wer das gespürt hat, was diese Menschen verkörpern, dem werden die Besserwisser und Kaputtreder, die Negativen und die Hassenden nicht mehr so viel anhaben können. Wir heulen vor Freude und Glück, weil wir endlich wieder sehen und spüren, wie eine Zukunft ausehen kann. Wie eine menschliche Zukunft aussehen kann. Partager des émotions - Emotionen miteinander teilen - so wichtig. Aber da bricht sich noch anderes Teilen Bahn, eines das Hoffnung macht in der kalten Gesellschaft vereinzelter Individuen.

Immer wieder die Beatles und die Marseillaise und da sprudelt auf den Plätzen von Paris und in den Straßen etwas hervor, was von Politikern viel zu gering geschätzt wurde: eine immense, unglaubliche Kreativität der Menschen aller Bevölkerungsschichten. Je suis Charlie - heute kann jeder Künstler sein. Kunst und Kultur als Bewältigungshilfe, als Heilung, aber auch politische Waffe. Keiner der Interviewten wird diesen Tag am Montag vergessen haben. Sie alle sagen, dass sie sich auf einmal ganz persönlich gefordert fühlen, in ihrem privaten Umfeld. Dass sie darüber nachdenken müssten, wie sie sich privat verhielten und wie mitmenschlich oder auch nicht. Kein Prediger dieser Welt, keine Religion, keine Predigt hat geschafft, was dieses gemeinsame Ritual freibrechen ließ: Wenn ich Charlie bin und du Charlie bist, dann sind wir gleich, dann sind wir beide Menschen, die in Freiheit leben wollen.

Marine Le Pen, die woanders marschierte, hat einen Satz in die Kamera gesagt, den andere auch hätten sagen können. Und dann kreischt unsere Runde vor Lachen, weil man ihn regelrecht gehört und gesehen hat - den scharfen Schnitt. Heute will keiner die anderen Extremisten hören, die den Hass schüren und die so üble Unterschiede machen. Ob Frankreich das durchhalten wird? Ob das, was sich fast wie eine spirituelle Veränderung anfühlte, im Alltag bewahrt bleiben wird? Ob die Politik auch ab Montag besonnen und gelassen notwendige Schritte unternimmt, anstatt panisch die Demokratie auszuhöhlen? Wir haben erlebt, was der Abhörwahn der Amerikaner genutzt hat: nichts. Das Leben bleibt gefährlich.

Wir wissen es nicht, was die nächsten Tage und Wochen bringen werden. Wir lagen uns an diesem Tag lieber in den Armen und ließen uns mitreißen. Das Verabschieden zog sich hin ... die ersten überlegten schon krampfhaft, wie sie sich als Künstler und Kulturschaffende für diese Vision einer Zukunft einsetzen könnten. Aber wir waren zu voll der Emotionen. Das Land wird noch Trauerarbeit leisten müssen. L'amour contre la haine, die Liebe gegen den Hass, die Kraft und Macht der Einheit ... diese immer und immer wieder gehörten Worte - wir hoffen, dass die Reihen der Politiker nicht zu isoliert in der Menge waren, um diesen Geist zu spüren und zu verinnerlichen.

Aber egal. Jetzt ist jeder Einzelne von uns gefragt. Wir werden uns wieder treffen. Und dann darüber reden, wie das alles unsere Kunst und uns verändert. Wer einmal gesehen hat, wie eine Bewegung die ganze Welt ansteckt, der glaubt wieder daran, dass gegen Dummheit, Extremismus, Rassismus und Fremdenhass ein Kraut gewachsen ist. Seed Bombs säen auf Verkehrsinseln Blumen. Guerilla Gardening begrünt Städte. Auch das Gute lässt sich aussäen. Sie sei so angefüllt mit Kraft und Hoffnung, sagt eine Freundin. Das sind auch die Gefühle, die beim Aufwachen am Montagmorgen noch da sind: Kraft und Hoffnung. Und das Wissen: Jeder einzelne von uns hat es in der Hand, die Zukunft zu gestalten, denn wir sind wie Schneeflocken, die zu Lawinen werden können. Es wird eine harte Arbeit werden.

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Einkaufen gehen
Texte über Menschen in Grenzsituationen

1 Kommentar:

  1. Der Blick von oben auf diese Menschenmassen in den Straßen von Paris war das Schönste, was ich seit sehr, sehr langer Zeit in den Nachrichten gesehen habe.

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