Amazon in Troja

Ist das schon jemandem aufgefallen: Die Zeiten stehen ideal, um endlich mal wieder so richtig die Sau rauszulassen! Nachdem der Mayaweltuntergang in die Hose ging und die Meteoriten lieber frech in Russland abstürzen, wurde es Zeit, dass die gemarterte "Volksseele" endlich mal loszubrüllen kann. Wir können uns im Moment gleich doppelt am Stammtisch das Maul zerreißen, in der Meditationsgruppe der bösen Welt abschwören und uns mit Social-Media-Statements als absolutely political correct people einen runterholen. Denn diese Sternenkonstellation ist einmalig am Verbraucherhimmel: Der Gigant Amazon hat richtig Pferdemist verbockt - und irgendwelches Firmenkleinvieh hat das Pferd in der Lasagne versteckt.

Und wir stehen da wie der Ochs vorm Pferd: Wer hat plötzlich unsere schöne heile Welt kaputtgemacht? Schnell sind die Schuldigen ausgemacht: Amazon und Lidl, Aldi und Amazons Sicherheitsfirma, Amazons Zeitarbeitsfirma und rumänische Pferdemetzger ... schon wird die Sau durchs Dorf getrieben. Keine Frage, es ist wichtig und gut, wenn Missstände mit Fakten aufgedeckt und öffentlich gemacht werden. Es ist richtig und überfällig, dass wir für bessere Bedingungen kämpfen - bei Mensch wie Tier. Aber malen wir uns im Moment nicht schon wieder die Welt viel zu einfach? Retten wir wirklich die Welt, wenn wir unsere Veganer-Kochbücher nicht mehr bei Amazon einkaufen, sondern bei Thalia? Sind Pferdefleisch-Gourmets Bürger zweiter Klasse, nur weil sie gern Tiere essen, die nicht weniger "süß" sind als eine Kuh? Macht der Amazonkunde tatsächlich den deutschen stationären Buchhandel kaputt?

Die Sache mit dem falschen Ross und dem blinden Aktionismus gab es ja schon einmal. Mit diesem Giganten von einem Ross, dass sich hinter die feindlichen Linien einschlich und als Holz verkauft wurde ... Halt. Nein. Die Story ging anders.

Zwei Parteien, von denen man nicht so recht weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind. Es kommt nämlich darauf an, auf welcher Seite man zufällig geboren ist. Kommt die eine Seite auf eine verdammt listige Idee: Schaut mal, die da drüben in ihrer reichen satten Stadt, die pennen vor sich hin, die erkennen die Zeichen der Zeit nicht, das schreit geradezu nach einer feindlichen Übernahme! Und weil die Typen in der Stadt auf Pferde stehen, klöppelt man schnell ein extra großes Hottehü aus Holz zusammen. Kommt der listige Chef der Holzbetrüger auf eine noch gigantischere Idee: Wir tarnen unser Pferd, das eigentlich Soldaten tarnt, als Götteropfer.

Wer damals Pferde kaufte, klickte auch auf Götteropfer. Und wer auf Holz klopfte, kaufte auch Tarnkappen für Holzköpfe. Der listige Chef der Holzbauer hatte auch noch Marktforschung betrieben: In der Stadt konnten sie nicht so mit Poseidon, standen aber ziemlich auf Athene. Wer Atheneopfer kauft, kauft auch Schutz, verkündete ein eigens für diesen Zweck eingestellter Leiharbeiter namens Sinon auf feindlichem Territorium. Wer das Pferd in die Stadt holt, bekommt es in einer einmaligen Gratisaktion!

Hach, was waren die Trojaner auf einmal geil. Billigpferd, größer als das Stadttor, da nimmt man doch ein wenig Holz in Kauf. Voller Götterrundumschutz in einer unsicheren Welt, in der die Bösen vor der Bösen Tor standen. Das olle Waschweib Kassandra und der dämliche Laokoon von der Warnergewerkschaft - die hatte man schnell ausgebootet. Wer will den schon über sich nachdenken, wenn alles so wohlfeil, schön, gigantisch und supersicher erscheint? Nichts wie rein damit, das Stadttor abgerissen! Schön blöd müssen die geschaut haben, als ihre Gier mit Untergrundkämpfern belohnt wurde. Und auch wenn sie schon alle gestorben sind: der Gaul galoppiert weiter.

Wie hätte ich reagiert, wenn ich Trojanerin gewesen wäre? Hätte ich den Göttern abgeschworen und ab sofort meine Wäsche nur noch bei Kassandra waschen lassen?

Ich werde kleinlaut. Einer meiner Qualitätsverlage druckt seine Bücher in China, weil der Preisdruck auf Bildbände anders kaum noch auszuhalten ist. Die Werbung für meine Bücher wird auf Geräten von Apple oder mit Software von Microsoft gelesen. Mein Autorenfoto hat längst die Gesichtserkennung von Google und Facebook hinter sich, die jederzeit zur Rasterfahndung genutzt werden kann. Auch das Kleid für meine letzte Lesung wurde in China gefertig - weil ich mir mit den gängigen Honoraren gar nichts anderes leisten kann, selbst wenn ich wollte. Der letzte stationäre Klamottenladen, der mir zugesagt hatte, ist Pleite gegangen. Weil seine Stoffe und zeitlosen Modelle locker 15 Jahre hielten, keinen Verschleiß eingebaut hatten. Mein Nachbar schimpft auf zockende Banker und missbraucht seinen Hauskredit zum Kauf von drei Autos. Mein wunderbarer, unabhänger Buchhändler bestellt Bücher auch bei Amazon. Amazon zahlt mir ohne Murren und akkurat auf den Tag genau meine Tantiemen, während ich andere Branchenbeteiligte auch schon mal mit einem Mahnverfahren zum Zahlen ausstehender Gelder bewegen muss. Ich esse Pferdefleisch. Vorsätzlich. Ich tanke keine Nahrungsmittel. Ich kriege das Heulen bei Biobetrug und kriminellem Gemüsehandel.

Irgendwer hat uns einen Gaul in unsere schöne fette reiche Welt geholt. Nein, wir doch nicht. Ich doch nicht. Ich will doch zu den Guten gehören. Also könnte ich mich dem Stress aussetzen und hinhören, was gerade mal wieder hip ist unter den Guten. Ich könnte das Kleid für die nächste Lesung statt aus China aus Indien beziehen. Oder kaufe ich eins, das spanische Leiharbeiter nähten? Greife ich vielleicht lieber im eigenen Land zu, für die heimische Wirtschaft? Wo in dumpfen Kellern und Absteigen versteckt, Hunderte von Illegalen unter Sklavenbedingungen Kleider nähen, direkt hier in Paris, der westlichen Hauptstadt der Mode, sozusagen direkt unter unseren Augen ... Chinesen, Afrikaner, ohne jedes Bürgerrecht zusammengepfercht. Unkontrolliert. Totgeschwiegen.

Es ist verdammt eklig geworden, Trojaner zu sein. Wie man's macht, ist es falsch. Was man auch richtig macht, mag anderswo böse Folgen zeitigen. Ein Pferdesteak verändert nicht die Welt. Stattdessen verkleiden sich neuerdings alle als Kassandra - aber reicht es denn, nur wie ein Waschweib zu reden?

Irgendwie gefällt mir diese Welt trotzdem. Wie es brodelt und wütet und mault und macht. Da kommt Bewegung auf. Und in all dem Falschen und Ungerechtfertigten bleibt ein kleiner Holzsplitter haften, der einem sagt: Aufgepasst! Es ist alles furchtbar komplex und nicht so einfach, aber Denken kann helfen. Nachdenken auch über mich selbst. Und vielleicht den Mut haben, auch mal etwas falsch zu machen, politisch nicht korrekt mit der Masse zu jodeln, aber auch nicht auf der anderen Seite. Wer waren damals gleich noch die Guten, wer die Bösen?

Ich mache weiter alles falsch. Ich kaufe bei Amazon UND bei meinem Buchhändler. Ich biete weiter meine Bücher beim Marktführer an, weil ich ohne die Tantiemen noch mehr Dinge aus China kaufen müsste. Aber ich baue irgendwann mein Angebot in andere Shops aus. Das ginge schneller, wenn sich die restliche Branche nicht so gegen Self Publishing sperren würde. Was wird da alles verschlafen und verachtet, während sich die Listigen die Welt aufteilen! Ich habe Amazon geschrieben, was ich von ihren Praktiken halte und eine Petition unterzeichnet. Weil ich daran glaube, dass man den Finger zuerst dort draufhalten kann, wo man selbst sein Geld verdient oder lässt. Ich glaube an die Macht der Worte. Ich werde mit dem Finger nicht zuerst auf andere Länder zeigen, sondern auf die Politik, die im eigenen Land Sklaverei und unsägliche Arbeitsbedingungen erlaubt, um im Wettbewerb eine gute Figur zu machen. Ich werde kritisch die Superkonzerne beobachten und lächerliche Gegenstrategien entwickeln. Auch wenn ich längst nicht mehr daran glaube, ihnen auch nur irgendwo entgehen zu können.

Das hochwertige Futter für meinen Hund stammt von einer Firma, die längst zu Nestlé gehört. Aber es hat Generationen von Hunden, die ich besaß, bis ins hohe Alter weitgehend den Tierarzt gespart. Ich bin inklusive Gesichtserkennung längst festgesetzt in den Datenbanken von Google, Facebook & Co. Und habe trotzdem noch einen Kopf. Meine Generation hat den freien Konsum für alle, dolle Marken und Profite statt Kommunismus gewollt. Wir wollten nicht, dass das Spiel entgleist. Ich bin schuld und ich kann nichts dafür. Amazon und das Pferd in der Lasagne sind ein Symptom. Der wahre Gaul ist noch viel größer.

6 Kommentare:

  1. Danke für diese differenzierte Stellungnahme!

    AntwortenLöschen
  2. Schwarz oder Weiß wäre zu schön, da müsste man nur auf Schlagworte reagieren und mit dem Finger auf die Monster zeigen.
    Wer für 1,99 eine Lasagne kauft, kann nicht ernsthaft hochwertiges Fleisch erwarten. Und wie war das bequem, für den Weihnachtseinkauf nicht in die Innenstadt zu müssen ...
    Es lohnt sich, den Finger herunterzunehmen und alle Seiten einer Sache zu beleuchten.

    Danke für den Artikel!

    AntwortenLöschen
  3. CIhnen ist der Text, mit klasse gelungen. Ich habe meinen kleinen Text geschrieben wie ausradiert: wieder hervorgehoben. Schon wie ich, andere reden viel… Sie aber schreiben Gut. Ehrlich! Bleiben Sie dran, am geschehen; wo Sie vom Gedanken angefordert sind...

    AntwortenLöschen
  4. Danke allen für die Blumen!
    Übrigens war ich heute im französischen Supermarkt, wo es gerade frisches Pferdesteak gab. Hierzulande isst man ja Pferd, will allerdings auf Packungen keinen Betrug. Das Kilo im Sonderangebot kostete 9,80 Euro ... mal so zum Qualitätsvergleich ...

    AntwortenLöschen
  5. Gut auf den Punkt gebracht, Petra! Ach, was waren das noch für Zeiten, als man sich gegenseitig davor warnte, bei Amazon zu kaufen! Times change, o tempora, o mores ...:-)
    Ich selbst gehe immer mehr dazu über, Sachen zu kaufen, die ihre ursprüngliche Form noch haben-da könnte zwar außen was dran sein-gut waschen-aber in einer Stange Lauch versteckt niemand welches Fleisch auch immer. Genauso die Bücher-egal, wo sie herkommen,
    können wir sicher sein, dass der Inhalt nicht falsch deklariert ist. Oder? :-)

    Herzlichst
    Christa

    AntwortenLöschen
  6. Es gibt kaum eine Ware, die öfter falsch deklariert ist, als ein Buch! Klappentexte, die das Blaue vom Himmel versprechen, sollten durch kleingedruckte Inhaltsstoffangaben ersetzt werden, hochstaplerische Bestselleraufkleber müssten endlich abgeschafft werden zugunsten von Labels unabhängiger Überwachungsbehörden! *kicher*

    AntwortenLöschen

Deine Sicherheit:
Mit restriktiven Browsereinstellungen kannst du nur als "Anonym" und mit "Namen / URL" kommentieren. Möchtest du dein Google-Profil verwenden, musst du aktiv im Browser unter "Cookies von Drittanbietern" diejenigen zulassen, die nicht zur Aktivitätenverfolgung benutzt werden. Nur so kann das System dein Profil nach Einloggen erkennen.

Mit der Nutzung dieses Formulars erkläre ich mich mit der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten durch Google einverstanden (Infos Datenschutz oben im Menu).
(Du kannst selbstverständlich anonym kommentieren, dann aber aus technischen Gründen kein Kommentarabo per Mail bekommen!)

Spam und gegen die Netiquette verstoßende Beiträge werden nicht freigeschaltet.

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.

Powered by Blogger.