Es ist kompliziert

"When I was a little girl, I had an imaginary friend. And when I grew up, he came back. He’s called the Doctor." So beginnt das berühmte Filmintro mit Amy Pond in der britischen Erfolgsserie Dr Who: Die Kleine hat durch einen Zeitriss versehentlich als Kind den Zeitreisenden in ihrem Zimmer entdeckt und wartet von da an sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Während die Erwachsenen sie wegen ihres "imaginären Freunds" von einer Psychotherapie zur anderen schleppen, bastelt sie ihn und seine Tardis, schreibt und zeichnet Geschichten. Sie ist bereits volljährig, als er endgültig zurückkehrt, als sei kaum Zeit vergangen. Bis zu dieser Folge erinnern sich die Fans an eine unvergleichliche Szene der kindlichen Zufallsbegegnungen: Amy ist sieben Jahre alt, da platzt der hungrige Zeitreisende herein. Weil seine Regeneration als 11. Doctor noch nicht abgeschlossen ist, kann er sich nur leider nicht entsinnen, was ihm eigentlich schmeckt. Und so erfindet er, wie köstlich kalte Fischstäbchen munden, wenn man sie in Vanillepudding tunkt (Video).

 

Vom Luftschnappen über Wasser ...

 

Warum ich diese Geschichte erzähle?

Weil ich mir zunehmend wie die kleine Amy vorkomme, die geduldig auf diese imaginäre, einmal selbst erlebte Welt wartet, von der sie überzeugt ist: Die ist echt. Da ist nur so ein blöder Zeitriss, der sie verdeckt. Und weil ich gestern wieder einmal sehr deutlich bemerkt habe: Was wir nach dem Zeitriss der Pandemie brauchen werden, ist sicher jede Menge Psychotherapie. Aber fast noch wichtiger sind Amys kleine Basteleien, die gezeichneten, geklebten, gekritzelten Geschichten, die ihr helfen, an den leugnenden Erwachsenen nicht irre zu werden. Uns droht nämlich neben dem Zeitriss eine zweite Gefahr: das Verstummen.


Ich war gestern zum ersten Mal seit Ich-Weiß-Nicht-Wann wieder unter Menschen. Und zwar unter Menschen, die ich fast ein Jahr nicht gesehen hatte, flüchtig kannte oder gar nicht. Die in Gruppen auftauchten, draußen, drinnen. Selbstverständlich unter den herrschenden Hygienevorschriften und zahlenmäßig begrenzt. Trotzdem empfand ich einen Stress wie früher in einem Rockkonzert, wenn sich Menschenmassen mal bedrohlich eng zusammenknäulten. Es war für mich ein Wechselbad extremer Gefühle, das ich heute noch nicht ganz verarbeitet habe.


Da sind so viele hilflose Momente. Wenn du nur völlig inadequat die Ellenbogen aneinander reiben kannst und es treffen sich Augen über der Maske, die gleichzeitig funkeln vor Wiedersehensfreude, die tieftraurig sind über die Unmöglichkeit, jetzt einfach das zu machen, was ein Menschentier instinktiv machen möchte: Sich in den Armen liegen und ganz lang nicht mehr loslassen. Wärme zu spüren, ein anderes Herz, das klopft, sich die Freude herauszustreicheln. Und dann blitzt die Hilflosigkeit auf in den Augen, da ist dieser Blick, der vom geduldigen Durchhalten spricht und von der Hoffnung. Und immer häufiger die Sprachlosigkeit.


In den Anfangszeiten vor einem Jahr haben wir nicht oft und lange genug über die Pandemie reden können. Alles war so neu und anders. Wir lachten uns kaputt, weil wir beim Händewaschen Happy Birthday sangen, nicht ahnend, wieviele Geburtstage von uns Nahestehenden wir nicht würden feiern können. Wir sprachen über die Kranken und über den Tod oder über die Geräusche und Bilder, die das Wegbringen mit sich brachte: Hubschrauberschrappen, Feuerwehrleute in dystopischen Seuchenanzügen vor Einfamilienhäuschen auf dem Land. Irgendwann verschwanden die Militärmaschinen aus dem Nachthimmel und es säuselte nur noch der TGV durchs Land, nachts, immer nachts, wegen der Ansteckungsgefahr, wegen der Lebensgefahr. Das Wegbringen wurde leiser. Wir ersetzten emotionale Trauer durch eiskalte Statistiken, Familienschicksale durch Zahlen. Wie soll man das auch anders aushalten?


Wissenschaft ist wichtig. Statistiken und Informationen sind wichtig. Aber haben wir die Hilflosigkeit erkannt? Auf Social Media wurde schnell vereinfachend eingeteilt: Da gab es die Informierten mit dem scharfen Verstand. Die Leerdenker und Leugner. Zwischen beiden Fronten aufgerieben wurden die "Gefühlsdusel", die Menschen, die außerhalb der nackten Zahlen mit Tragödien fertig werden mussten: dem Verlust naher Angehöriger oder Freund:innen. Dem Ausbleiben bisher selbstverständlicher Bewältigungs- und Spaßstrategien wie Abtanzen oder Feiern. Zerrieben zwischen den Gegensätzen wurden die Hilflosen mit den Trennungen, dem Trennungsschmerz, die bis heute nicht immer nachvollziehen können, warum ein Land über seine Grenzen so entscheidet und nicht anders. Die Nichtbetroffenen verdrängen. Man hat ja selbst genug zu bewältigen. Das große Verstummen geht um.


Vor etwa einem Jahr machte sich die Welt teilweise lustig über Macrons Kriegsrede. Eine Pandemie ist doch kein Krieg! Heute beginnen wir erst langsam zu begreifen, dass wir auch die "Nachkriegsjahre" überstehen lernen müssen. Und durchaus vom falschen Umgang mit den Gefühlen und dem hochgefährlichen Verdrängen der Generationen vor uns lernen könnten. Im ersten Moment hilft es einem über die Katastrophe hinweg. Aber wenn die posttraumatischen Folgen nicht aufgearbeitet werden, vererben sie sich eines Tages.


Der Mensch ist nicht nur Verstand. Menschen sind auch Gruppentiere mit eher intuitiven Beziehungen, sie haben Wahrnehmungen, Empfindungen, Emotionen. Anders als mein Hund kann ich über Emotionen reden, mich austauschen, daran wachsen, miteinander bewältigen lernen. Es schlagen nicht umsonst Psychater:innen Alarm, entstehen Plattformen selbst für "Unternehmer:Innen in Verzweiflung". Welche Ventile haben wir, im geschützten Raum (Social Media mit ihrer systemischen Hassbeförderung und Verächtlichmachung zählen dazu nicht) die Luft ablassen zu können? Hilflosigkeit und Emotionen zeigen zu können, ohne dafür verurteilt zu werden?


Ich habe gestern erlebt, wie sehr manche gealtert sind in dieser kurzen Zeit. Da spricht aus den meisten diese unendliche Sehnsucht nach Leben und Lieben, die der Verstand allein nicht befriedigen kann. Eine Szene ist für mich so vielsagend gewesen, als eine Bekannte erzählte, dass sie sich lange gesperrt hatte, geimpft zu werden. Diverse Ängste, Unsicherheiten. Sie ist klug, aber der Verstand allein, das Infodumping konnten sie nicht überzeugen. Da war ja noch dieses diffuse Angstgefühl, das nicht weggehen wollte. Sie hat ohnehin eine Spritzenphobie von Kindheit an. Mus sich dann hinlegen, die Augen schließen.


Diese Bekannte erzählte mir dann in einem Atemzug von ihrer Vorfreude, dass es ihr fast zu lange dauere bis zur zweiten Impfung. Sie könne es nicht abwarten. Sie sehne diesen Tag herbei wie als Kind Weihnachten. Ich fragte sie, wie es zu diesem Sinneswandel gekommen sei. "Ach weißt du", meinte sie, "ich will einfach endlich wieder leben! Ich will LEBEN ohne diese viel größere Angst!"


Nicht die Vernunft hatte sie umgestimmt, sondern das Hinschauen auf ihre Gefühle. Die Angst, eines Tages fürs Leben gezeichnet zu sein, selbst wenn sie nicht sterben würde, war plötzlich viel größer als die vor der Impfung. Und als sie sich endlich mit diesen diffusen Emotionen auseinandersetzte, da kamen die Erinnerungen an die Zeit vorher und eine andere Emotion hoch: Lebensfreude und Lebenslust. Sie sah auch bei Freund:innen, welche Lebensqualität wieder einkehrte. Jetzt zählt sie die Tage und macht Pläne. Hat Hoffnung. Ihr Arzt hat etwas sehr Wichtiges geschafft: Er nahm ihre Gefühle ernst. Und sprach mit ihr darüber.


Das derzeitige Verstummen ist eine normale und wichtige Funktion einer verletzten Seele. Und zum Glück bildet es bei den meisten nur einen unzureichenden Damm gegen das Mitteilungsbedürfnis, dem die Befreiung folgt, dass man sich endlich mal wieder etwas von der Seele hat reden dürfen. Dass jemand zuhörte. Einfach nur da war und zuhörte. Bei posttraumatischen Störungen ist das Redenkönnen ein wichtiger Teil der Therapie. Und das müssen wir uns in der nächsten Zeit ganz massiv und immer wieder gönnen.

 

Wir sind keine Gefühls"dusel", wenn wir hilflos kaum aushalten, was es mit uns macht, neben tiefinnerlicher Trauer höchste Freude beim Wiedersehen nach langer Zeit zu empfinden. Wenn es uns dreht und beutelt, ist es gar nicht so dumm, uns wirklich wie wild zu drehen und es herauszutanzen. Herauszumalen, zu kleben, zu basteln wie Amy, in der Erwartung, dass das Leben endlich wieder ein ganzes Leben wird.

 

Lockdown-Emotionen

 

Ich war gestern unterwegs in meiner von oben bis unten bestickten und geflickten bunten Jeans, die zu einem Emotionenmonument der vergangenen Lockdowns geworden ist. Eine Frau war ganz begeistert und meinte: "Ich würde da jetzt zu gern ein Loch hineinschneiden!" Verdutzt fragte ich, warum. "Damit du dieses hässliche, schreckliche Loch auch mit Farbe und Schönheit füllen kannst wie die anderen Löcher zuvor!" Das haben wir jetzt vor uns: die Zeit des Flickens, aber auch Stickens. Es ist ein bißchen wie bei Amy mit Dr. Who: Wir bekommen die früheren Zeiten nicht zurück. Aber einen Zeitriss kann man stopfen und völlig neue Farben und Muster für die Zukunft aussuchen.

2 Kommentare:

  1. "... ist es gar nicht so dumm, uns wirklich wie wild zu drehen und es herauszutanzen."
    Dieser Satz von dir hat mich berührt und an eine Zeit erinnert, als ich eine gute Freundin beim Sterben begleitet habe. Als es vorbei war, hatte ich eine unbändige Sehnsucht nach Leben, Lachen, Tanzen. Im Radio lief das Lied der Country Sängerin Lee Ann Womack „I Hope You Dance“. (https://www.youtube.com/watch?v=RV-Z1YwaOiw)
    Der Refrain des Liedes: „Wenn du vor die Wahl gestellt wirst, Probleme auszusitzen oder drauf los zu tanzen, dann entscheide dich fürs Tanzen!“
    Ich finde, das ist ein wunderbarer Rat für Post-Corona-Zeiten.

    Liebe Grüße
    Elli

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    1. Ein sehr hoffnungsvoller Song - danke dafür und liebe Grüße,
      Petra

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