Match Cut! Und neue Szene!

Filme sind voll von Perspektivwechseln. Die meisten bemerken wir überhaupt nicht. Aber manche brennen sich ins Gedächtnis. Wer kennt nicht die Szene in Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey", in der Primaten einen der ihren brutalst totknüppeln. Es haut immer noch einer zu, bis einer von ihnen beobachtet, wie solch ein Knochenknüppel zurückspringt. Er zögert, wirft den Knochen stattdessen hoch in die Luft. Wir sehen den Knochen im hellen Himmel nach oben und wieder nach unten taumeln - Match Cut - der Knochen ist jetzt ein Raumschiff ähnlicher Form im All. Atemberaubend anzusehen, vielsagend in der Deutung.

 

Wäre das ein Video, könnte man einen Match Cut aus den Rundungen konstruieren. In der nächsten Szene wären die Orangen Killertomaten, die Espressotasse läge zerschlagen auf dem Tablett, die Tomaten würden ins Unermessliche wachsen.


Andere berühmte Regisseure haben diese Art von Perspektivwechsel eingesetzt: In Hitchcocks "Psycho" wird vom in den Abfluss wirbelnden Blutwasser direkt auf ein anderes Rund geschnitten: das offene Auge der Ermordeten. In "North by North West" haben die Zuschauer:innen noch nicht ganz aufgeatmet, als Cary Grant Eva Marie Saint am Mount Rushmore mit dem Arm hochzieht, um sie zu retten - schon zieht er sie im Zug mit der gleichen Geste hoch. Hitchcock spart sich damit eine Menge Liebesgefasel nebst Heiratsantrag und nimmt uns noch einmal den Atem, weil die Feinde von vorher plötzlich aus einer völlig anderen Perspektive zu sehen sind. Match Cut nennt man diese Art des nicht ganz einfachen Schnitts, bei dem ein Element der vorherigen Szene in der nachfolgenden wiederholt, aber völlig verfremdet wird.


Dieser Schnitt löst einen Klick im Kopf aus: neue Perspektive. Ich habe lange überlegt, womit ich den Effekt beschreiben könnte, dem man in der Kunst und beim Artjournaling ständig begegnet. Man sieht etwas: Farben, Texturen, Formen, Komposition. Und plötzlich sieht man etwas völlig anderes mit genau diesen Einzelheiten. Und legt los. Ich habe hier bei Instagram ein Beispiel, wie ich mit der zufällig entstandenen Rückseite einer Artjournal-Seite umgehe, um sie mit dem Vorhandenen völlig neu zu gestalten. Manche sagen, man brauche für so etwas den "künstlerischen Blick" (was auch immer das sein mag), manche lesen - ziemlich vergebens - zig schlaue Kunstanalysen. Denn was dahintersteckt, kann jede und jeder von uns: Mit Intuition und Empathie die Perspektiven wechseln! Einfach mal versuchen, ein Ding ganz anders zu sehen, als es scheint. Sich nicht irre machen lassen von Farben oder Formen. Nicht zu krass kaputt analysieren.


Manchmal möchte ich in Social Media das Match-Cut-Teufelchen spielen. Jemand behauptet vollmundig ein Pauschalurteil. Am schlimmsten reizen mich die Selbstgerechten, die Genussverächter und Lebensfeinde. Ich mach's dann nicht, weil genau diejenigen solche Cuts gar nicht verstehen würden.


Beispiel: Jemand schreibt, dass er endlich mal wieder schwimmen war. Der Dumpfbrumm an Spontankommentaren (natürlich meist von Leuten, die den Kontext nicht kennen) ist unerträglich. Man ballert dem Lebenslustigen eins rein, dass er andere gefährde mit dem Virus, ob er hoffentlich den Sicherheitsabstand eingehalten habe. Dass der Wasserverbrauch die Erde zerstören werde und wegen ihm der Wald verdurste.


Match Cut: Den jungen Mann zeigen, wie er mühsam das Chlorwasser ausschöpft, zum Wald trägt und Eichen gießt, die in seiner Region aber saftig im Regenwasser stehen. Vielleicht verzichtet er auch auf die Flugreisen in den Karibikurlaub, die er früher liebte? Oder von oben filmen: So viel Wasser um den Mann, so wenige Menschen. Ein anderes Bild würde ihn allein im heimischen Kinderschwimmbecken zeigen. Gleiche Szene, wiederholtes Symbol, aber anderes Umfeld. 99% aller Kommentare wären damit das, was sie sind: einfach nur absurd und überflüssig.


Regt sich eine auf, dass ein Politiker frei redet, eine Politikerin ihre Rede abliest. Was will sie damit sagen außer dem beabsichtigten Bashing? Der beginnende Shitstorm spiegelt intelligent das Versagen des Tweets: Obama liest vom Teleprompter ab, der große Redner. Ein berühmter Pianist spielt vom Blatt. Die Bundeskanzlerin redet auch nur ein Weilchen frei. Wie ein Match Cut: Das Motiv wird wiederholt, aber nun in eine völlig andere Szene gestellt. Schon ist der Perspektivwechsel da.


Und das funktioniert auch viel wilder. Erinnern wir uns an die Primaten Kubricks! Was, wenn mir Nachbars Hahn mehr zu sagen hätte als obige Twitterin? Und ist sein Schwein nicht auch genussfähig, wenn es sich bei diesem Wetter genüsslich im Schlamm wälzt und dann in der Sonne liegt? Jemand zeigt das Foto einer Litfasssäule mit einem üblen Spruch. Match Cut denken: Ein Hund pinkelt eben diese Säule an. Schon könnte man auf die Idee kommen, dem Spruch nicht eine extra Bühne zu bereiten (was die Urheber desselben ja provozieren wollen). Und statt dessen vielleicht besser zu pinkeln ... sprich, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, die mehr kann als Social Media.


Öfter mal den Cut im Kopf proben. Mit Bildern spielen. Neue Inhalte schöpfen. Dahinter schauen.

Die Killertomaten von oben. Das Messer. Match Cut. Messer mit Titel.



 

Und die schnöde Tatsache: Dieser Beitrag entstand nur, weil ich in einem Workshop gelernt habe, dass man einen Titel besser vorher testet, indem man ihn sehr oft wiederholt. #qed Worum es geht? Das ist noch ... pssssstttt ....

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