Auf die Wiesen hören

Lange vor der Jahrtausendwende hatte ich einen Klartraum, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bilder begleiten mich, so farbig und lebendig, als wäre es echt gewesen. Ich sah mich in dem Traum selbst als alte Frau. Sitzend in einem selbstfahrenden Wagen mit anderen Menschen, die viel jünger waren. Zu der Zeit schien die Erfindung selbstfahrender Autos noch Science Fiction. Ich erinnere mich, dass ich mich im Traum wunderte: über mein Alter, über die Sitzplatzanordnung. Alle schauten zu den Seitenfenstern hinaus, nicht nach vorn.

 



Und was wir sahen, tat mir in Herz und Seele weh. Unendlich weite grüne Flächen, deren Monotonie nur von immensen Strommasten und Überlandleitungen unterbrochen wurden. In dieser Außenwelt schien es nur den Strom zu geben und dieses völlig gleichförmige Grün. Die Mitfahrenden fanden es idyllisch - es habe schon einmal kahler und schlimmer ausgesehen, erzählten sie. Und ich als alte Frau erzählte den Jungen von früher. Von damals, als Wiesen noch bunt waren und aus mehr als einer einzigen im Labor gezüchteten Grassorte bestanden. Ich fand kaum die richtigen Worte: Wie sollte ich ihnen Schmetterlinge und Käfer und Insekten beschreiben, diese vielfältige und bunte, brummende, summende, zirpende Vielfalt? Sie hatten ja noch nie ein Tier gesehen, dass in der Luft fliegen kann! Diese zukünftige Welt war so still, nicht einmal die Fahrzeuge machten Lärm.


Wie gesagt, diesen Traum hatte ich sehr lange vor dem Jahr 2000. Er schien mir zunächst nur deshalb so eindrücklich, weil ich mich selten selbst im Traum sehe und weil das wie Science Fiction wirkte oder wie eine Vision. Aber je mehr wir uns einer solchen Zukunft nähern und täglich beim Artensterben regelrecht live zusehen können, desto weniger lässt er mich los.


Ich will nämlich nicht eines Tages von Wiesen erzählen müssen, weil es sie nicht mehr gibt. Ich will von ihnen erzählen, während es sie noch gibt. Und dann der Klick im Kopf: Ich will jetzt von Wiesen erzählen, um vielleicht etwas dazu beizutragen, dass wir und die Nachkommenden nicht in dieser tristen ausgeräumten und künstlichen Fata Morgana von "Natur" leben müssen. Jetzt können wir nämlich das Ruder noch herumreißen. Aber wir müssen das jetzt tun.


Verrückt, was einem beim Planen eines Projekts so alles durch den Kopf geht. Aber dass ich auf dem richtigen Weg bin, erkenne ich immer daran, dass scheinbar zufällig das Thema überall auftaucht.


Mit Zufall hat das natürlich eher weniger zu tun. Ich nenne es den "Badewanneneffekt", denn Dorothy L. Sayers hat den Vorgang in ihrer Kurzgeschichte "Der Mann, der zuviel wusste" meisterhaft umgesetzt. Ein Mann namens Pender fährt im Zug und ärgert sich über einen schlechten Krimi. Kein Wunder, dass er sich von einem Mitreisenden ablenken lässt, den Krimis anöden. Es entspinnt sich ein Gespräch über schlecht gemachte Kriminalromane - und über den perfekten Mord. Mr Pender ist natürlich ganz der Skeptiker seiner Zeit und steigt irgendwann unbeeindruckt aus. Suspense.

 

Fortan begegnen ihm überall Notizen über Menschen, die immer in der Badewanne sterben. Das hatte ihm doch jener Mitreisende als perfekten Mord angepriesen - ein scheinbar natürlicher Tod in der Badewanne? Mr Pender glaubt derart fest an Zusammenhänge zu den sich mehrenden Zeitungsnachrichten bis ... auch er in der Badewanne liegt. Man nennt das, was ihm zustieß, einen Flow mit verschärftem Fokussieren. Kennen wir alle: Wir lesen etwas scheinbar Kurioses, es berührt uns. Und plötzlich scheint es überall aufzutauchen, wir finden Bücher darüber, Videos, im Bekanntenkreis reden sie auch schon davon. Nun, es war immer da, auch medial. Aber erst jetzt, wo es uns berührt und interessiert hat, achten wir besonders darauf. So funktionieren Kreativität und Suspense (und leider auch Verschwörungserzählungen). Ich benutze es beispielsweise in einer Projektplanungsphase, um die eigenen Ideen zu spiegeln und kritisch zu hinterfragen.


Heute bekam ich via Twitter den Link zu einem taz-Artikel: "Ein ganz normaler Nachbar. Unser gestörtes Verhältnis zur Natur". Der Kolumnist beschreibt eindrücklich die journalistische Déformation professionelle, mit der Natur in den Medien nur noch als Gegenstand von Katastrophen, im Zusammenhang mit Feindseligem (und leider auch als verniedlichter Flausch) vorkommt. Er sucht auf einer Wanderung nach einer neuen Perspektive.


Was mich so erschreckt hat, ist das Ausmaß der Entfremdung von der Natur, das offenbar viele Menschen bereits leben. Als Landei mache ich mir diese Untiefen oft gar nicht bewusst. Und dann erschreckt mich auch ein Satz von ihm als Fazit:

"... sondern sie einfach als Nachbarn wahrnehmen, mal nett, mal nervig, aber man muss mit ihnen auskommen."

Natürlich verstehe ich seine Ironie. Er will die Leute niederschwellig packen. Aber verändern sich so Narrative wirklich nachhaltig? Einen frühmorgens rufenden Kuckuck bringt er dann als Beispiel für so einen "ganz normalen blöden Nachbarn." Er ist damit schon weiter, als viele total Entfremdete, die Natur als schmutzig, gefährlich und störend wahrnehmen, als feindliches Gegenüber - und die gibt es auch auf dem Land. Aber er geht nicht den konsequenten Schritt, sein Urteilen über die Natur zu hinterfragen.


Müssen wir wirklich mit der Natur "auskommen"? Sind wir derart getrennt von ihr? Oder muss nicht vielmehr die Natur ganz schwer mit Homo sapiens auskommen, der einfach ökologische Zusammenhänge nicht kapieren will? Wer nervt und schadet denn hier wem? Wer ist der Eindringling? Und ist nicht alles Teil der Natur?


Der Kuckuck hätte so ein Schlüssel sein können: Wir campen in dessen Revier, stören seine Kreise. Wir sind die nervigen Nachbarn, die diesen Fremdkörper aufgebaut haben. Und jetzt setzen wir uns einfach mal hin und lauschen. Vielleicht hören wir, was uns der Kuckuck zu sagen hat? Der Kuckuck könnte so viel erzählen: Von der Bedeutung seiner Rufe, seinem Revierverhalten. Was Menschen mit ihm machen. Wie und warum sie ihn so schlimm dezimieren, in Großbritannien in den letzten 30 Jahren um 60 Prozent, in Niedersachsen ist er als gefährdet eingestuft. Er steht auf der Vorwarnliste der Roten Liste der Brutvögel in Deutschland. Zuerst musste der Kuckuck in alten Legenden und Sprichwörtern für alles mögliche menschenerdachte Schlechte herhalten. Heutzutage geht ihm die industrialisierte Landwirtschaft viel effektiver an den Kragen.


Es ist nicht einfach, zu einem solchen Perspektivwechsel zu kommen, wenn man in einem System groß wurde, dass Menschen als angebliche "Krone der Schöpfung" stilisiert und Kapital und Wirtschaft als Gradmesser allen Handelns sieht. Aber man kann das lernen und üben. Ganz genau so, wie kleine Kinder beim Geschichtenerzählen lernen, in unterschiedliche Perspektiven zu schlüpfen. Es mag ja tough sein, wenn die Prinzessin den Frosch an die Wand klatscht. Aber hat mal jemand gefragt, wie der Frosch dieses Märchen erzählen würde?


Natürlich sind das im Märchen Metaphern und Symbole - ähnlich wie in Träumen und Mythen. Aber wenn wir hier weitergraben, warum genau welche Metapher verwendet wurde und von wem, dann wird es noch spannender, noch schmerzhafter. Mit dem Rollenspiel, dass jede brave Prinzessin sich gefälligst anzustrengen hat, um einen Prinzen zu heiraten, fallen wir in patriarchale Erzählweisen. Der Frosch als das fremde, ach so eklige Wesen, das Prinzessinnen nur mit viel Überwindung küssen mögen (und weil das Gold winkt), erinnert an die Art und Weise, wie wir auch mit Naturgeschichte aufwuchsen: Es mieft der koloniale Modder! Nicht nur Menschenwesen wurden missbraucht. Und der perverse Umgang mit Natur ist sehr verwickelt mit abstrusen Ideologien, die selbsternannte Herrschende für den Sklavenhandel entwickelten, für Rassismus und die irrsinnige Hybris, irgendein Lebewesen könne wichtiger oder besser sein als andere.


Zu weit hergeholt? Keineswegs, ich bringe es nur etwas salopp und schnell auf den Punkt, wozu es zig wissenschaftliche Studien gibt und kluge Bücher obendrein.


Wir bekommen das mit der Klimakrise und dem Artensterben nicht allein mit Statistiken und Infos in den Griff. Wir müssen an unsere Gefühle ran, auch die verdrängten. Wir bekommen die drängenden Probleme nicht gebacken, solange wir uns als Außenstehende neben einem "Gegenüber" von Natur wahrnehmen. Unsere Kultur hat unwahrscheinlich viel zu tun mit unserer Beziehung zur Natur! Erst wenn wir wissen und fühlen, dass diese wunderbare, faszinierende Diversität des Lebens unser Überleben sichert, wenn sie so reichhaltig divers sein kann, haben wir ökologische Räume verstanden. Erinnern wir uns an Mr Pender: Wir verändern unser Handeln in dem Moment, in dem uns etwas besonders berührt hat. Vorher ist es womöglich nur ein langweiliger Krimi über Badewannentote. Gelesen, weggelegt, abgehakt.


Das Ego zurücknehmen, einfach mal zuhören und verstehen lernen, was uns andere Lebewesen zu erzählen haben. Durch Wissenschaft, durch Mythen, durch Erleben. Käfer, Elefanten, von uns verschiedene Menschen, Blumen, Bäume, Pilze ...

 

Es wird zuerst vielleicht wehtun zu lernen, dass ein Wald perfekt ohne Homo sapiens auskommt und viel besser gedeiht. Aber genau dieser Schmerz ist eine Chance zu lernen, wo eigentlich unser Platz sein könnte in einer Zukunft des Miteinanders. Unity in Diversity ist der Wahlspruch der EU. Den sollten wir endlich leben, weltweit, mit allen Mitwesen. Denn erst dann, wenn die uns sehr am Herzen liegen, bekommen wir auch den Hintern hoch. Bevor wir in laborgemachten Ein-Gras-Steppen leben und uns von alten Leuten erzählen lassen, wie wunderbar und bewahrenswert die Welt vor der großen heißen Stille war. Setzen wir uns in eine Wiese und lauschen und fühlen wir. Sie hat uns eine Menge zu sagen über das Miteinander der Spezies und das, was wir ihr antun und was wir besser machen könnten. Jetzt.

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