Mann zittert vor Heuschrecke

Hier im Dorf gibt es jemanden, der wöchentlich seinen Rasen saugt. Die Kinder dürfen nur in den Garten, wenn makelloses Wetter über 18 Grad herrscht. Dass er damit das Bodenleben zerstört und Humus abträgt, will oder kann er nicht verstehen, trotzdem klagt er darüber, dass in seinem Garten alles eingeht, inzwischen sogar der Rasen. Die "Dreckspflanzen" sind seiner Meinung nach schuld daran. Und überhaupt, all das "Kroppzeug macht ja nur Dreck!". Sicherlich ein Extremfall, der Mann hat wahrscheinlich nicht nur einen Putzfimmel.



Aber ich begegne immer mehr Menschen, die Angst vor der Natur haben und sich in künstliche Räume zurückziehen. Ich muss es anders formulieren: Ich begegne diesen Menschen weder im Wald noch auf Wiesen.

Angefangen hat die Schieflage m.M.n. durch zwei Entwicklungen. Die eine kenne ich selbst: Wenn die Maisbauern hier mit Schmackes ihre Pestizide spritzen, meist sogar wider jedes besseres Wissen mit voller Abdrift, dann verrammle auch ich meine Fenster. Ich habe keinen Heuschnupfen, aber in diesen Zeiten eine übel schlimme Allergie. Die Landtierärzte berichten von zunehmenden Allergien bei Hunden und selbst Viehherden, die oft durch solche Felderlandschaften laufen. Unsere industrialisierte Landwirtschaft der heutigen Zeit lässt aufmerksame Beobachter tatsächlich Gebiete des Ackerbaus nicht mehr als segensreiche Natur empfinden. Es macht keine Freude, totgespritzte, blutrote Flächen oder Ackerrandstreifen mit chaotisch sich totwachsenden Wildkräutern zu sehen, die irgendwann als schwarze Leichen auf dem Boden rotten. Solche "Natur" weckt Ekel und Abscheu. Und viele Menschen vergessen dabei leider, dass es nicht die Natur ist, sondern das Pestizid, der betreffende Landwirt, das Turbosystem, dass uns die Billigstpreise garantieren soll. Wir Menschen machen das! Vor der Natur muss man sich nicht fürchten, wohl aber vor solcher Naturmanipulation.

Die andere Entwicklung in die Schieflage hat mit Bildung und Wissen zu tun. Ich weiß nicht mehr, wann das angefangen hat, dass Eltern ihren Kindern nicht mehr beibrachten, wie Blumen und Wildkräuter und Tiere heißen, wie schön sie sind, wie man gärtnert, wie nützlich sie sind. Dass man sie achtet. Aufgefallen ist es mir vor knapp 20 Jahren zum ersten Mal, als mich ein zehn Jahre jüngerer Mensch erstaunt fragte, was denn diese komischen gelben Blüten seien, die in seiner Wiese überall hochkämen. Das sehe zwar hübsch aus, aber sei doch bestimmt ekliges Unkraut, das er vernichten müsse.

Ich erklärte ihm damals, wie man Löwenzahn erkennt und was man alles Wunderbares damit machen kann. Wie nützlich er für Bienen und Käfer, für Insekten überhaupt sei. Und als ich ihm von meinem selbstgemachten Löwenzahnlikör anbot, verzichtete er zum Glück darauf, seine Freilandwiese zu spritzen. Seine Eltern, denen die Wiese gehörte, haben ihm als Kind nie auch nur eine Pflanze erklärt. Die Wiese war "Erbschaft", Besitz, ein Ding. Und heute? Dürfen Kinder mit Helikoptereltern noch unbeschwert in der freien Natur "herumdrecken"?

Irgendwann kam die Generation "Herz und Seele aus Stein". So stelle ich mir das jedenfalls vor, wenn man Steine statt Grün im Garten "pflanzt", also noch nicht mal Sandwüste züchtet, sondern Schotterbetten - Geröll als Selbstausdruck. Ganz besonders extrem empfand ich das im nahen Städtchen. Da gab es an der Hauptstraße ein wundervolles wildes, buntes Blumenbeet im Gehsteig. Kinder hatten Holzbienen und Schmetterlinge hineingesteckt, um den Passanten zu erklären, dass dies eine Bienenweide sei. Endlich. Es war das Prachtvollste an Straßenbegrünung, das es im ganzen Ort gab - und es war richtig professionell gemacht, mit echten Wildbienenleckereien der Region.

Im nächsten Frühjahr freuten wir uns schon auf die neue Blüte. Aber es kam ein Kleinbagger, der trug die Erde ab. Arbeiter breiteten die obligatorische Kunststofffolie aus, die verhindern soll, dass auch nur das kleinste Fitzelchen von unten nachwächst. (Die gleichen Leute regen sich manchmal über Plastikmüll in den Weltmeeren auf). Der Bagger schüttete spitzen, kantigen Schotter aus China darauf; Gestein, das weder von der Farbe noch vom Material her in die Region mit den rosigen Sandsteinfelsen passt. Aber es ist billig, weil China - und man trägt nun überall grau. Ich musste an die grauen Herren in Michael Ende "Momo" denken. Die schwatzten den Menschen auf, sie könnten Zeit sparen, wenn sie sich ihnen unterwürfen:
Während sie versuchen, Zeit zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben und das Schöne im Leben zu genießen. Die Welt wird kalt.
Die grauen Steingärten müssen von den grauen Herren der Zeitbank erfunden worden sein, keine Frage!

Aber all das sind nur Symptome eines wachsenden Missstandes: Immer mehr Menschen haben keine Ahnung mehr von Natur. Während wir von Artenvielfalt reden und vom Insektensterben, wissen sie nicht einmal, was eine "Art" ist und könnten auch keine bestimmen. Insektensterben erscheint ihnen als etwas Nützliches: Die Windschutzscheibe bleibt sauber und auf der Terrasse muss man nicht mehr so viel "Dreckzeug" vernichten. Auch darum wird Gartenarbeit von so vielen als nicht mehr zuträglich empfunden. Es könnte ja ein winziges Insekt hochfliegen. Insekten könnten einen stechen, annagen, zwicken. Manche bekommen schon Panik, bevor sie überhaupt eines sehen.

Die Zusammenhänge sind nicht mehr klar. Wenn ich Menschen vom Bodenleben erzähle, schauen sie mich manchmal an, als sei ich irre. Boden - ist das nicht diese cleane, desinfizierte oder supererhitzte Erde aus dem Plastiksack? Ist ja eklig, was da alles im Boden kreuchen und fleuchen soll! Denn Bodenleben besteht aus Flora und Fauna, aus Pilzen, Algen, Ein- und Wenigzellern - also auch Bakterien. An der Stelle beginnen manche, sich unwillkürlich zu kratzen.

Warum hat diesen Menschen noch nie jemand erklärt, dass ein intaktes Bodenleben im Gleichgewicht überlebenswichtig für die Menschheit ist? Nur dann ist ein Boden wirklich fruchtbar und gesund. Aber Bakterien finden sie eklig. Ob sie wüssten, dass auch sie nicht nur aus "Mensch" bestünden, sondern eher wie ein Planet von "Aliens" besiedelt seien, die man das Mikrobiom nennt? Staunen. Denn ohne das Mikrobiom, diese fantastische Mischung aus Mikroorganismen, die vor allem unseren Darm, aber auch die Haut und Schleimhäute besiedeln, wären wir nicht lebensfähig. Unsere "Mitbewohner" halten uns gesund und am Leben. Die Mikrobiomforschung boomt nicht nur, weil sie spannend ist und viel über dieses Ökosystem in unserem Körper herausfindet. Sie ist wichtig, weil auch hier, in unserem Inneren, die Artenvielfalt abhanden kommt!

Unwillkürlich kommt einem der Gedanke über die Parallelen von Mikrokosmos und Makrokosmos, wie sie die frühen Alchemisten und die Forscher der Renaissance dachten.

Wie geht einer mit seinem inneren Mikrobiom um, der in der Natur jegliche Mikroorganismen am liebsten ausschalten würde? Zum Glück brauchen wir heute keine Esoterik, um Zusammenhänge zu erklären, Wissenschaft kann das oft viel faszinierender. Da haben gerade WissenschaftlerInnen der Uni Graz Äpfel auf ihr inneres Mikrobenleben untersucht und festgestellt, dass ein Apfel etwa 100 Millionen Bakterien enthält, Bioäpfel übrigens in größerer Artenvielfalt. Und ausgerechnet diese Mikroben helfen unserem inneren Mikrobiom auf die Sprünge! "An apple a day keeps the doctor away", ein Apfel am Tag hält gesund - ein uraltes englisches Sprichwort, das plötzlich einen neuen Sinn bekommt. An dieser Stelle staunt der Mensch wahrscheinlich, der eben noch sein Bodenleben vernichten wollte. Er beginnt, die Erde in seinem Garten mit neuen Augen zu betrachten. Denn in der steht sein Apfelbaum, aus der ernährt er sich.

Zusammenhänge werden deutlich. Vor allem aber: verstehbar!

Und dann ist da die Meldung, die mich gestern fassungslos gemacht hat, weil sie in diese Reihe der irrationalen Naturängste passt. In Baden-Baden hat ein Mann die Polizei gerufen, weil er sich bedroht fühlte. Bei akuter Bedrohung ist das ein richtiger Schritt.

Die Bedrohung saß in seinem Schlafzimmer. Nicht etwa ein Einbrecher. Auch kein potentieller Mörder. Es sei "hereingeflogen" erklärte er, wohl eine Spinne. Dass Spinnen nicht fliegen können, hat dem Mann wohl nie jemand erklärt. Und dann sprudelt die Angst aus ihm, es könnte doch eine eingeschleppte Spinne sein, eine ganz gefährliche. Man möchte fast ergänzen: Man liest ja so viel von so etwas! Sensationsnachrichten aus der Tierwelt verkaufen sich gut, vor allem, wenn sie einen Ekel- oder Bedrohungsfaktor haben!

Möglich, dass die Polizisten innerlich feixen mussten. Vielleicht hätten sie an diesem Nachmittag auch Wichtigeres zu tun gehabt. Aber natürlich helfen sie, müssen sie helfen, nehmen die Menschen ernst. Im Polizeibericht muss launig gestanden haben, die Polizisten "setzten das Tier wieder auf freien Fuß", denn das zitieren alle Presseberichte so. Das Tier war weder mysteriös noch gefährlich, sondern eine völlig harmlose "Heuschrecke". Zur Ordnung Heuschrecken oder Orthoptera zählt auch das wunderschöne heimische Grüne Heupferd, das Hitze und Trockenheit liebt.

Was kann man tun? Der Mann hatte Angst vor einem schönen Tier, das wir als Kinder immer bewundert und beobachtet haben. Er hatte Angst vor dem "Fremden", das in seine Welt eindringt, das er nicht zu definieren weiß. Es fühlt sich feindlich an, invasiv. Und wie so vieles, was in unserer hochkomplexen, unübersichtlichen Welt zum Sündenbock gemacht wird, kommt es in seinen Augen als "Fremdes" von Außen. Parallelen zu anderen gesellschaftlichen irrationalen Ängsten, die man herrlich schüren kann, sind sicher nicht zufällig, sondern Ausdruck einer Denkweise unserer Zeit.

Die Menschheit erlebt eine unwahrscheinlich tiefe Spaltung. Viele von uns erleben sich selbst nicht mehr als Natur, als Bestandteil der Natur, als natürlich. Aber wir optimieren uns ja auch längst von der Natur weg. Und da können leider auch Fridays for Future oder fröhliches Aussähen von Bienenweidesamen in der Gruppe nicht darüber hinwegtäuschen, wie viele Menschen entfremdet sind, wieviele kein Wissen mehr um die Zusammenhänge haben. Natur wird als beherrschbar gedacht.

Ich mache mir im Naturpark, weil es hier im Gespräch besonders extrem auffällt, viele Gedanken darum, wie man gegensteuern könnte. Die Naturparkverwaltung versucht das über die Schienen spielerischen Lernens, sozialen Miteinanders und vor allem: über das Fühlen. Diese Veranstaltungen sind schnell ausgebucht, das macht Hoffnung. Die Menschen haben einen immensen Hunger nach solchen Erlebnissen.

Vor allem das Fühlen ist ein großer Faktor, den wir gar nicht wichtig genug erachten können. Menschen, die Natur als "Außen", als schmutzig oder bedrohlich empfinden, berühren sie nicht. Und sie lassen sich selbst also auch nicht berühren.

Der Mann, der anfing, über das Bodenleben zu staunen, nahm vorsichtig und fast ängstlich eine Handvoll Erde, fühlte sie, zerkrümelte sie. Eine Ameise rannte weg, Winzigkeiten bewegten sich in seiner Hand. Lernen, Wissen und Fühlen schließen sich nicht aus. Einem Kind würde man jetzt ein Mikroskop in die Hand drücken, um jenen Mikrokosmos zu entdecken, der seinen Apfelbaum versorgt, bis die Mikroben in den Äpfeln sein Mikrobiom nähren.

Es gibt kein Happy End. Die Berührung war wohl nicht nachhaltig genug und er saugt weiter. Ein wenig hält er Abstand vom Stamm seines Apfelbaums, immerhin.

Aber ich mache mir weiter Gedanken, wie man naturängstliche oder einfach nur unwissende Menschen erreichen und berühren kann mit Natur. Ich warte noch auf die richtige Eingebung, wie ich das mit einem künstlerischen Workshop erreichen könnte ...

2 Kommentare:

  1. "Heupferdchen" habe ich als Kind geliebt, aber ich habe schon lange keines mehr gesehen.
    lg
    geschichtenundmeer

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    1. Hier sind sie leider auch eher selten geworden, obwohl es jede Menge kleinerer Hüpfer gibt. Das ist mein Traum: Mal eins aus Papier schaffen. :-)

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