Wie hält man das alles aus?

Darf ich den Helden des Tages vorstellen: Bilbo von Butterblum, Hüter der verlorenen Schafe. Eigentlich ist er ja eine Jagdhundkreuzung aus Beagle und wahrscheinlich Bracke - und von Natur aus mampft er für sein Leben gern Lammfleisch. Aber die Tiere in der Koppel unten am Hügel, an der wir täglich vorbeikommen, haben es ihm angetan. Ich habe ihn als Welpen langsam an die Ziegen und Schafe gewöhnt und seither sind die "seins". Sprich, er bekommt mit, wenn einen Kilometer weiter etwas nicht stimmt und ruft mich dann. Bisher haben wir nur ausgebüxte Tiere zurück ins Gatter getrieben, weil der Besitzer ja nicht immer da ist. Heute gab es einen Notfall. Und wieder dieses ganz bestimmte "Beffzen" (kein Bellen) von Bilbo, das heißen soll: Du, da stimmt was nicht, ich muss da jetzt sofort hin!

Schafe sehen ziemlich robust aus. Aber sie dürfen niemals umfallen! Dann sofort einschreiten und schubsen!


Ich will nicht ins Detail gehen, denn mir selbst wurde bald schlecht in meiner Hilflosigkeit. Eins der Schafe war umgefallen, hatte einen Maschenzaun mitgerissen und sich in Panik völlig darin eingewickelt. Und ich hatte bei Schafzwitschern gelernt, dass Schafe nicht auf dem Rücken liegen dürfen, weil sie sonst ziemlich schnell sterben. Schafeschubsen (Anleitung) hilft und das kann jeder lernen und beherzt eingreifen, wenn es passiert! Nur hier war das Tier so in Draht verheddert, dass Schubsen nicht ging. In der Panik habe ich abgewogen, wie lange es dauern würde, bis ich nach Hause gerannt wäre und eine Drahtschere gefunden hätte, also probierte ich es mit dem Telefon und wir hatten Glück, der Besitzer war da, samt Kenntnissen und Spezialwerkzeug. Das Schaf, das schon Schaum vor dem Maul gehabt hatte, war zumindest vorhin auf dem Heimweg noch lebendig. Und stand aufrecht.

Bilbo, der Held des Tages. Ein Jagdhund, der mit Lust Lammfleisch frisst, aber Nachbars Schafe hütet, als seien es Welpen.

In solchen Situationen jagen einem die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Tiere verhalten sich wie Menschen, fand ich: Die anderen Schafe kümmerten sich kein bißchen und zockelten auf die untere Weide. Bei den Ziegen war es zweigeteilt. Die große alte, weiße Ziege, die vom Krebs ganz dick ist und den Bock hat sterben sehen, schien Bescheid zu wissen. Andere Ziegen standen herum wie Schaulustige an der Autobahn. Bei einigen von ihnen hat man hinterher gesehen: Sie waren schlicht überfordert und hilflos. Als das Schaf wieder freigeschnitten war, stupsten sie es, begrüßten es. In dem Moment begannen sie auch wieder zu spielen. Vorher war es totenstill.

Und natürlich bin ich stolz auf Bilbo, diesen immer wieder verblüffend sorgenden und liebevollen Hund. Und ich staune immer wieder neu über die Sinnesorgane von Tieren. Mit einem Extrawürstchen im Bauch schnarcht er jetzt den Schlaf des Gerechten, wie man so schön sagt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm von seinem Schafspansen etwas abzugeben. Nicht heute.

Es liegt in solchen Situationen ein Moment, wo man glaubt, es nicht aushalten zu können. Und dann doch funktioniert, handelt, hilft. Und hoffentlich die Wendung zum Guten erlebt, die Rettung.

Sofort dachte ich an das, was nicht nur mich seit Tagen bis an die Grenze der Erträglichkeit beschäftigt: der verbrennende Regenwald. Mit dem so viel mehr verbrennt: ein Biotop voller Lebewesen, Pflanzen, Tiere, Pilze, das Bodenleben in der Erde - und der Lebensraum indigener Völker. Ich habe gestern bei Twitter in die Runde gefragt: "Wie haltet ihr das aus? Was macht ihr, um das zu ertragen?" Dass ich absolut keine Antwort bekam, war vielsagend. Ich hatte ja selbst keine!

Ich halte es nicht wirklich aus und obwohl ich mich damit beschäftige und bei Twitter auch in Propagandablasen hinein Aufklärung streute, spalte ich meine Gefühle davon ab, lasse es nicht wirklich an mich heran. Das ist ungesund auf die Dauer, aber eine bewusste Dissoziation ist auch eine Hilfe für die Seele, die am liebsten schreien würde. Als Schriftstellerin kann ich mir Dystopien ausdenken, aber auch saftige Agententhriller, in denen keiner mehr von denen übrig bliebe, die derzeit der Erde, der Menschheit und dem Frieden schaden. Ich bin ein Mensch, der eigentlich nicht hassen kann. Aber gewissen Politikern sind all meine Verwünschungen sicher, derer ich fähig bin. Es ist ein Maß überschritten.

Die Schriftstellerin und Journalistin Laurie Penny hat es bei Twitter auf den Punkt gebracht, was ich so oft denke:
Unfortunately, this means that on top of having to save the world, many of also now have to handle major depression. (Thanks a lot, capitalist patriarchal death cult, you’re a gem). And when you are depressed, pushing through it can feel as impossible as saving the world.
Das ist es, was ich derzeit so hasse: diesen zutiefst turbokapitalistischen, misogyn patriarchalischen Todeskult von Rechtsradikalen, von pathologischen Narzissten an der Macht. Typen, denen es nur um Macht, vermeintliche Potenz und Reibach geht und denen alles andere und alle anderen egal sind. Bolsonaro und Trump sind nur die besonders auffälligen Zerrfiguren von Leuten, die auch in Ungarn und Italien, in Polen und in unseren eigenen Wahlumfragen mit ihren banal bürgerlichen Fratzen machtgeil eine Politik des Spaltens und Zerstörens betreiben. Faschismus ist ein Todeskult, auch wenn er sich schönfärberisch anders nennt. (Umberto Eco hat ihn in seinem bahnbrechenden Essay "Ur-Fascism" definiert).

Das ist es, was mich so wütend macht, unendlich wütend: Ich will nicht mit solchen auf diesem Planeten leben, ihnen nicht so viel Macht überlassen, wie sie schon viel zu viel haben. Das da draußen ist eigentlich längst Krieg, ein Krieg mit modernen Mitteln, ein Krieg der Todesgeilen gegen die Vernunft. Sie halten die Natur nicht aus, weil die Natur am Ende immer mächtiger sein wird als sie. Sie sind den "Fliegenschiss" einer Dungfliege nicht wert, mit dem so mancher Verächter schon metaphernhaft herumoperierte.

Und wenn ich darüber nachdenke und in dystopischen Gedanken verschwinde, dann komme ich an meine Grenzen und halte es eben nicht mehr aus. Deshalb möchte ich den ganzen Thread von Laurie Penny zum Lesen empfehlen, es lohnt sich (Triggerwarnung: Thread über psychische Probleme). Sehr klarsichtig stellt sie die Parallelen zwischen "kultureller Depression" und einer echten Depression heraus (sie selbst ist depressionserfahren). Und spricht darüber, dass wir im Moment tatsächlich auch ähnliche Methoden brauchen, um aus dem Dunkel herauszufinden, um wieder handlungsfähig zu werden.

Ich bin dann unversehens wieder bei dem namenlosen Schaf, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Ich habe kurz weggeschoben, dass ich es eigentlich nicht einmal schaffe, hinzuschauen. Weil ich es nicht mitansehen konnte, wie das Schaf leidet, jämmerlich stirbt. Ich habe mich überwunden, hingeschaut, schnellstens die Lage analysiert, Wege berechnet, telefoniert und die nötigen Informationen gegeben. Damit der Besitzer, wenn er käme, gleich die Drahtschere dabei haben würde.

Ich denke, das ist es, was wir im Moment machen müssen: Hinschauen, schnell die Lage erfassen, handeln. Nicht warten, bis der Planet röchelt und Schaum vor dem Maul hat. Sofort helfen. Alles andere muss einfach mal solange warten. Ein Notfall hat absolute Priorität. Helfen, und wenn es nur ein winziger Schritt zu ein scheint, z.B. die eigene Regierung mit einer Petition unter Druck zu setzen, sich Frankreich und Irland anzuschließen. Die wollen Mercosur, den Handelsvertrag, aussetzen, weil sich Brasilien nicht an die Vorgaben hält.

Wir können als Einzelpersonen nicht die ganze Welt retten, nicht einmal eine ganze Schafherde. Ohne Drahtschere und Knowhow hätte ich nicht einmal ein einzelnes Schaf retten können. Ich kann mir nur ein Beispiel am "edlen Ritter" Bilbo von Butterblum nehmen. Der steht einfach für das ein, was er liebt. Zeigt mir jeden Tag von neuem, was Sozialverhalten ist. Tut einfach.

Und er macht das, was in diesen Tagen genauso wichtig ist: Er freut sich unbändig über "le Knack", die Straßburger Variante eines Wienerle, als Belohnung. Lässt sich mit Wonne durchkraulen und schnarcht gemütlich in den Kissen. Wer aktiv ist, muss auch zur Ruhe kommen. Wer aufregende Rettungsaktionen initiiert, muss auch genügend Schlaf haben.

Viele Menschen, die sich beruflich mit der Weltlage beschäftigen, äußern, dass sie unendlich müde sind, eine ungeheure Erschöpfungsmüdigkeit verspüren. Am liebsten alles nur noch wegschlafen würden. Mich selbst dürstet nach Schönheit in kleinen Dingen und nach Bildermalen in herrlichen Farben. Das gehört dazu, zum Kampf gegen das Schwarzbraunblau. Wenn wir danach dürsten, brauchen wir es auch. Es hält uns am Leben, weil es Leben ist.

Ein Grünes Heupferd war in Bilbos Wassernapf gefallen. Es ist wieder wohlauf.


Irgendwie war heute der Tag der Rettungsaktionen. Als ich morgens vor die Tür trat, lag ein großes Grünes Heupferd in Bilbos Trinknapf, offenbar ertrunken. Ich habe es herausgefischt und es war noch nicht zu spät. Das Heupferdweibchen ließ sich erst einmal ausführlich auf meinem Arm wärmen und putzte sich dann zutraulich auf meiner Hand sämtliche Gliedmaßen und Fühler trocken. Spreizte die Flügel und schüttelte sie aus. Und wenn einem dann so ein Tier in die Augen blickt (oder war es umgekehrt oder beides?), dann weiß man wieder, was auf dieser Erde zählt und was wir mit aller Kraft verteidigen müssen. Die Welt, wie sie Lebensverächter wie Trump oder Bolsonaro und all die anderen winzigen Rechtsradikalen erträumen, ist es nicht. Denn das sind die Typen, die heute achtlos Heupferdchen zertreten und morgen Menschen.


Unvergesslich: Einmal einem solch faszinierenden und schönen Wesen in die Augen schauen.

4 Kommentare:

  1. Danke für die Schafs- und Heupferdrettung (sowohl in der Sache als auch für den nachdenklichen Beitrag darüber). Da hat Bilbo sich sein Belohnungswürstchen redlich verdient.

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    1. Er bekommt auch heute wieder seinen Pansen, das ist halt der Lauf der Natur ... Und morgen beklagt er sich sicher wieder, dass "Widderchen" (Foto Mitte) es nicht so lustig findet, Nase an Nase zu schnüffeln. Widderchen ist ein ganz durchtriebener, bettelt wie blöd, dass ich ihm Luzernebündel rüberwerfe und dann zeigt er wie ein Kasper, was Hörner sind ... Wenn Majestät einen guten Tag hat, darf man ihm die Stirn kraulen.

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  2. Kompliment an die beiden Lebensretter Bilbo und Petra.
    Ja, wir können nicht die ganze Welt retten, aber dieses Schaf und das Heupferdchen habt ihr gerettet und somit einen Unterschied gemacht.
    Ich hab übrigens auch einmal ein nasses - sprich: schweres - Schaf auf einem Deich umgedreht. Nicht ganz ungefährlich, wenn es dich tritt. Aber hier ist alles gut gegangen.

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    1. Danke. Man bewertet selbst den winzigen Unterschied oft nicht groß genug. Dabei ist es eine Haltung - und wenn die ganz viele Menschen haben, kann etwas bewirkt werden. Gerettet haben übrigens ausschließlich Bilbo und der Besitzer, ich hab nur hilflos telefoniert. ;-)

      Deshalb hatte ich übrigens solche Angst, das Schaf war völlig panisch und hielt natürlich alles andere als still. Fürs "Schubsen" fand ich das Video ganz hilfreich, ich hätt mich nur auf die Seite des Rückens gestellt. Aber das lernt man wohl erst in vivo ...

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