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31. August 2019

Klatsch'n'Tratsch

Ein kleines Lebenszeichen aus einer Hitze, bei der ich leider nicht mehr zufriedenstellend funktioniere und sich das Hirn viel zu oft in in Träumen von Vanilleeis mit Erdbeeren ergeht, anstatt rasant Daten zu verarbeiten. 33 bis 34 Grad im Schatten und nie Regen in Sicht - ich bin neidisch auf Nachbarn, die das gern das ganze Jahr hätten. Denke aber, irgendwann werden sie ihren Willen wohl bekommen. Ich schreibe auch fast keine Mails zur Zeit, telefoniere lieber. An der Tastatur kommt man zu sehr ins Schwitzen. Die ist für den Job reserviert, der mir viel Spaß macht, weil ich jeden Tag etwas dazulerne.

Das Foto ist alt. Die Wiesen sind schon lang nicht mehr grün, aber der Himmel bleibt unerbittlich wolkenlos.


Viel Arbeit habe ich im Moment. Und es macht mich unzufrieden, dass die langen Hundeläufe ausbleiben - der Hund knatscht auch. Als wir das letzte Mal vor acht Uhr morgens, also mitten in der Nacht, losliefen, stieg das Thermometer binnen 40 Minuten auf 28 Grad. Bilbo wetzt sich beim Buddeln nach Mausnestern die Krallen ab, der Lehmboden ist wie Beton. Immerhin ist er nasal gesehen glücklich. Bock- und Fuchsmarken stinken bei dieser Hitze so, dass auch ich sie rieche.

Aber ich will nicht jammern. Hitze ist gut fürs Gären im Innern. Da gärt so einiges, wo ich bewusst die Luft rauslasse. In nächster Zeit keine Wettbewerbe mehr, keine Veranstaltungen, die ich nicht selbst genügend vorgeplant habe - es bringt mich aus dem Tritt mit meinen Kunstprojekten. Ja, ich bin recht unsichtbar diesbezüglich, aber nur, weil Neues wächst. Manche fragten schon, ob ich denn überhaupt noch Papierschmuck verkaufe, im Shop bei Etsy tue sich nichts. Auch das hat einen Grund: Es werden inzwischen zu 95% Maßanfertigungen bestellt, also Schmuck, den ich speziell für jemanden schaffe, sei es passend zu einem Anlass, einem Kleid oder einer Persönlichkeit. Das ist meine Spezialität - man muss mich da nur kontaktieren und eine Budgetvorstellung haben, ab 20 E geht es los. Ich mag das, denn die Stücke im Shop sind natürlich auch immer ein Lagerrisiko. Auf lange Sicht will ich mich mit einem Shop auf der Website außerdem unabhängiger machen, aber das ist ein juristisches Spießrutenlaufen und will gut durchdacht sein. Da wird dann auch die Website vorher neu gemacht werden müssen.

Vielleicht veranstalte ich im Herbst eine Art Online-Markt für ein paar ältere Stücke, das lasse ich dann via Newsletter wissen. Selbst für eine neue Ausgabe ist es einfach zu heiß ...

Ich sitze viel an meinen wunderschönen Sketchbooks, die ich im Ausverkauf erstanden habe. Führe ein Herbarium wie in Schulzeiten und genieße die Langsamkeit. Wie lange es dauert, Pflanzen nach einem Spaziergang zu pressen, mit Papierstreifen einzukleben, zu bestimmen und zu beschriften - es tut gut. Und weil ich auch Umstände notiere, wird das ein kleines Erinnerungsbuch, ein Spurensammeln vom eigentlichen Finder - Bilbo. Es macht sich bezahlt, dass ich nicht nur ein Buch für Entwürfe habe, sondern eins für das Zeichnen von Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Ich habe bemerkt, dass selbst so einfache Dinge wie eine Biene oder ein Vergissmeinnicht aus Glasperlen schnell vergessen sind, was die Arbeitsschritte betrifft. Und den fertigen Formen sieht man leider die Windungen und Fädelungen des Drahts nicht an. Was aufwändig wirkt, spart Zeit: Ich muss nur "Biene" aufschlagen und kann wieder loslegen. Da entstehen derzeit kleine Frustrationen: Im Kopf habe ich einen Schmuckentwurf der besonderen Art, Textiles, Papier und Glasperlen kombiniert, Bienen auf Waben. Bis allerdings die Realität so aussieht wie das Bild im Kopf, das kann anstrengend sein. Die Materialien wollen nicht, wie ich es will. Es heißt, weiter testen, probieren, wegwerfen.

Ich sticke neuerdings, obwohl ich es eigentlich gar nicht kann. Mit Spaß. Hier gibt's am Ende des Artikels neue Bilder vom "Visible Mending" an Jeans und einem mottenzerfressenen Pullover. Es geht nahtlos über von meinen Experimenten, pflanzenbedrucktes Papier als Schmuck zu besticken. Passt darum irgendwie modisch zu mir, auch wenn so mancher auflachen mag. Immerhin, in Frankreich kann man individuell herumlaufen, von KünstlerInnen erwartet man fast ein schräges Outfit. Und wenn ich solche Jeans im Museum bei der Arbeit trage, sind sie der perfekte Öffner für Fragen und Gespräche. Apropos Museum - auch dort lerne ich eine Menge Neues ... und meinen Fähigkeiten zu vertrauen. Es gibt wieder eine Premiere - sie lassen mich zum ersten Mal an eine französischsprachige Führung ran. Im Moment pauke ich Biergeschichte, denn ich führe auch in einer Sonderausstellung und mein Publikum kennt sich mit der elsässischen Biergeschichte sicher besser aus als ich.

Zurück zum Sticken, zur Verbindung zwischen Papier und Textilem:  Darum soll auch der Bienenschmuck in diese Technikrichtungen gehen. Und irgendwann gelingt er. Vom letzten Honorar habe ich mir britische Perlenstickerei-Nadeln geleistet, schnell noch einmal vor dem Brexit einkaufen ... Noch ist es mir ein Rätsel, wie man anders als durch Zufall mit dem Spezialfaden ins Nadelöhr treffen kann, aber auch das ist ein Vergnügen an Langsamkeit.

Ich stelle immer mehr fest, welch schlimme Stressfaktoren ständig erwartete Dauerverfügbarkeit, soziale Medien in ihren Auswüchsen (!) und der steigende, immer wirrere Amtskram sein können. Es tut unendlich gut, sich immer mal wieder zu verweigern, die Bremse reinzuhauen.

Darum werde ich auch nicht mehr zu Facebook zurückkehren, sondern den schönen Hashtag wahr machen: #deleteFacebook. Ich habe noch zweimal reingeschaut, um zu testen, was mir fehlt, ob ich einer Sache nachtrauere, was mich aufregt, ob es mir etwas bringt. Was mir fehlt, sind zwei, drei Organisationen, die das Internet mit Facebook verwechseln, sprich, ihre Websiteinhalte nicht pflegen und nur noch bei FB Inhalte raushauen. Die müssen das lernen. Was mir fehlt, sind manche Kontakte, das schnelle und einfache "mal kurz was sagen." Letzteres hat sich zu Twitter verlagert und in die Tiefe geht's per Mail oder Telefon. Mir ist aufgefallen, dass ich speziell bei Facebook mit so vielen Menschen nicht wirklich kommunizierte - es ist ein öffentlicher Auftritt, mehr nicht. Ich kann mir bis heute so viele Namen nicht merken und bin bei Profilbildwechseln hilflos verloren - ich erkenne manche Leute dann nicht wieder. Ob es an der Austauschbarkeit der Inhalte liegt? Ganz sicher an der Zahl der "Freunde". Man ist auch sozial gesehen endlich.

Als ich das letzte Mal reinschaute, kam mir das Posten auch wie ein Erwartungsabfragen vor. Fährt jemand in Urlaub, wird erwartet, dass man gute Wünsche schickt. Wird Arbeit gepostet: Loben! Wird gestöhnt: Trösten! Wird geschimpft: Mitschimpfen! Und wehe, es bricht einer aus und antwortet ganz anders als erwartet ... Nicht, dass solches soziales Miteinander nicht auch virtuell wichtig wäre, aber die Struktur aus Emotikons und Technik macht es vorhersagbar, multipliziert die Aufgaben, lässt wahre Gefühle abflachen. Ich weiß nicht, wie andere es aushalten, wenn in einer Timeline zwei Menschen den Tod von geliebten Menschen beklagen, Bomben hochgehen, Leute verhungern, drei an der Arbeit zusammenbrechen, eine Angst hat und eine andere Wut. Es ist die flachgehaltene Empathie der Journalistin früher am Katastrophenticker, die ich dann verteilen könnte, damit ich selbst nicht draufgehe. Stattdessen habe ich jetzt Zeit, mit einer trauernden Frau einfach mal eine Stunde zu verplaudern, kann sie real in den Arm nehmen. Es ist eine andere Rhythmik im Leben außerhalb dieses Clickdom. Andere erleben das natürlich ganz anders. Aber ich muss ja auf mich achten.

So, wie ich im Unterschied zu anderen gern twittere. Es ist schnell und knapp, ich muss nicht viel herumlabern. Und habe mir das Ding so konfiguriert, dass ich mehr Inspirationen abrufe als all das, worauf ich verzichten möchte. Ich habe dort inzwischen so viele interessante Themenplattformen und Medien kennengelernt, dass ich die besten in einem eigenen Artikel vorstellen werde. Trotz der kritischen Weltlage explodieren an so vielen Orten derzeit die Kreativität, die Forschung, das Weiterdenken. Da gibt es so viele kluge Köpfe ...

Und das tut mir bei einem anderen Gären äußerst gut. Ich will wieder schreiben. Blöder Satz, weil ich ja täglich schreibe. Also noch einmal: Ich will wieder in einer längeren Form schreiben. Ich weiß nur noch nicht ganz wie. Über die vergangenen Monate hat das Thema sich als tragfähig erwiesen. Ich möchte sogar frech behaupten, es kommt genau zur richtigen Zeit. Ganz anders als bisher bei meinen Büchern benutze ich für die Vornotizen ebenfalls ein Sketchbook - so vieles zeichne ich lieber, als dass ich es notiere. Oder Bild und Notiz ergänzen sich zu etwas Neuem. Übrigens in schönstem dreisprachigen Europlais. Manche Fachbegriffe habe ich erst in Frankreich gelernt, meine Recherchematerialien sind fast ausschließlich englischsprachig, die Muttersprache ist Deutsch, das ich in reiner Form nur noch beim Telefonieren höre oder im Fernsehen.

Auch professionell habe ich mich diesbezüglich umgetan, wie es denn wäre, wenn. Wenn ich mich z.B. damit irgendwann bei einer Agentur bewerben würde. Und da sehe ich trotz aller Entwicklungen in Deutschland schwarz. Keine Handvoll Verlage käme dafür in Betracht; etwas, vor dem mich meine Agenten immer gewarnt haben. Soll ich mir das wirklich noch einmal antun, wo ich mir den Schreibvorgang selbst ja finanziell gar nicht leisten kann, zeitlich also auch nur extrem begrenzt?

Ich muss das für mich selbst ausloten. Das erste Kapitel möchte ich auf Englisch versuchen. Und dann noch einmal auf Deutsch. Hinspüren, in welcher Sprache es erzählt werden will und überhaupt erzählt werden kann. Meine sprachlichen Fähigkeiten kann ich kaum selbst beurteilen. Ich weiß nur, ich mag diesmal nicht in Einsamkeit schreiben. Ein Jahr verschwinden und dann erst zur Buchmesse mit Infos rauskommen. Die Journalistin in mir zappelt, weil sie Leserschaft am liebsten immer gleich hätte.

Und so gärt es. Mache ich ein eigenes, zweites Blog dafür auf? Erzähle ich in einem Ein-Frau-Podcast davon? Oder veröffentliche ich zuerst Essays und literarische Reportagen, um das dann zum Buch "umzustricken"? Ich formuliere gern solche Sätze im Indikativ, als Zielvorstellung. Denn bis zu einem Veröffentlichen eines Essays ist es vielleicht weit.

Das ist das Schöne an diesem viel zu untätigen und viel zu heißen Sommer: Ich kann mir alle Zeit der Welt fürs Gären nehmen. Surfe herum, lasse mich inspirieren, quatsche mit Leuten, die Ahnung haben. Zumal ich ja jetzt diese Facebookzeit übrig habe. Längst habe ich mir bestimmte Ziele gesetzt. Über die rede ich nicht, weil man die nicht zerreden darf. Auch das ist eine Gefahr in Social Media: Man kann sich in der Tat Projekte totreden. Weil sie im ersten empfindlichen Stadium wie junge Pflänzchen sind. Sie müssen gehegt und gegossen werden, im eigenen Treibhaus. Erst wenn sie auch kalten Wind vertragen, kann man sie zur Ansicht in die Ausstellungshalle bringen.

Und das hat einen anderen Vorteil: Man kann im Fall des Scheiterns das Pflänzchen auch einfach auf den Kompost kippen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, ohne Worte des Bedauerns liken zu müssen, ja sogar, ohne Häme zu erfahren. Wenn es nichts ist, wenn die Idee nicht mit der Realität deckungsgleich gestaltet werden kann: Mülleimer. So, wie ich derzeit einen Untergrund mit Bienenwaben nach dem anderen wegwerfe. Ich weiß ganz genau: Irgendwann habe ich genau den Durchbruch zur Entwurfszeichnung. Oder es gibt eben genau diesen Schmuck nicht. Und dafür einen anderen. Kompost macht Erde fruchtbar.

24. August 2019

Wie hält man das alles aus?

Darf ich den Helden des Tages vorstellen: Bilbo von Butterblum, Hüter der verlorenen Schafe. Eigentlich ist er ja eine Jagdhundkreuzung aus Beagle und wahrscheinlich Bracke - und von Natur aus mampft er für sein Leben gern Lammfleisch. Aber die Tiere in der Koppel unten am Hügel, an der wir täglich vorbeikommen, haben es ihm angetan. Ich habe ihn als Welpen langsam an die Ziegen und Schafe gewöhnt und seither sind die "seins". Sprich, er bekommt mit, wenn einen Kilometer weiter etwas nicht stimmt und ruft mich dann. Bisher haben wir nur ausgebüxte Tiere zurück ins Gatter getrieben, weil der Besitzer ja nicht immer da ist. Heute gab es einen Notfall. Und wieder dieses ganz bestimmte "Beffzen" (kein Bellen) von Bilbo, das heißen soll: Du, da stimmt was nicht, ich muss da jetzt sofort hin!

Schafe sehen ziemlich robust aus. Aber sie dürfen niemals umfallen! Dann sofort einschreiten und schubsen!


Ich will nicht ins Detail gehen, denn mir selbst wurde bald schlecht in meiner Hilflosigkeit. Eins der Schafe war umgefallen, hatte einen Maschenzaun mitgerissen und sich in Panik völlig darin eingewickelt. Und ich hatte bei Schafzwitschern gelernt, dass Schafe nicht auf dem Rücken liegen dürfen, weil sie sonst ziemlich schnell sterben. Schafeschubsen (Anleitung) hilft und das kann jeder lernen und beherzt eingreifen, wenn es passiert! Nur hier war das Tier so in Draht verheddert, dass Schubsen nicht ging. In der Panik habe ich abgewogen, wie lange es dauern würde, bis ich nach Hause gerannt wäre und eine Drahtschere gefunden hätte, also probierte ich es mit dem Telefon und wir hatten Glück, der Besitzer war da, samt Kenntnissen und Spezialwerkzeug. Das Schaf, das schon Schaum vor dem Maul gehabt hatte, war zumindest vorhin auf dem Heimweg noch lebendig. Und stand aufrecht.

Bilbo, der Held des Tages. Ein Jagdhund, der mit Lust Lammfleisch frisst, aber Nachbars Schafe hütet, als seien es Welpen.

In solchen Situationen jagen einem die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Tiere verhalten sich wie Menschen, fand ich: Die anderen Schafe kümmerten sich kein bißchen und zockelten auf die untere Weide. Bei den Ziegen war es zweigeteilt. Die große alte, weiße Ziege, die vom Krebs ganz dick ist und den Bock hat sterben sehen, schien Bescheid zu wissen. Andere Ziegen standen herum wie Schaulustige an der Autobahn. Bei einigen von ihnen hat man hinterher gesehen: Sie waren schlicht überfordert und hilflos. Als das Schaf wieder freigeschnitten war, stupsten sie es, begrüßten es. In dem Moment begannen sie auch wieder zu spielen. Vorher war es totenstill.

Und natürlich bin ich stolz auf Bilbo, diesen immer wieder verblüffend sorgenden und liebevollen Hund. Und ich staune immer wieder neu über die Sinnesorgane von Tieren. Mit einem Extrawürstchen im Bauch schnarcht er jetzt den Schlaf des Gerechten, wie man so schön sagt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm von seinem Schafspansen etwas abzugeben. Nicht heute.

Es liegt in solchen Situationen ein Moment, wo man glaubt, es nicht aushalten zu können. Und dann doch funktioniert, handelt, hilft. Und hoffentlich die Wendung zum Guten erlebt, die Rettung.

Sofort dachte ich an das, was nicht nur mich seit Tagen bis an die Grenze der Erträglichkeit beschäftigt: der verbrennende Regenwald. Mit dem so viel mehr verbrennt: ein Biotop voller Lebewesen, Pflanzen, Tiere, Pilze, das Bodenleben in der Erde - und der Lebensraum indigener Völker. Ich habe gestern bei Twitter in die Runde gefragt: "Wie haltet ihr das aus? Was macht ihr, um das zu ertragen?" Dass ich absolut keine Antwort bekam, war vielsagend. Ich hatte ja selbst keine!

Ich halte es nicht wirklich aus und obwohl ich mich damit beschäftige und bei Twitter auch in Propagandablasen hinein Aufklärung streute, spalte ich meine Gefühle davon ab, lasse es nicht wirklich an mich heran. Das ist ungesund auf die Dauer, aber eine bewusste Dissoziation ist auch eine Hilfe für die Seele, die am liebsten schreien würde. Als Schriftstellerin kann ich mir Dystopien ausdenken, aber auch saftige Agententhriller, in denen keiner mehr von denen übrig bliebe, die derzeit der Erde, der Menschheit und dem Frieden schaden. Ich bin ein Mensch, der eigentlich nicht hassen kann. Aber gewissen Politikern sind all meine Verwünschungen sicher, derer ich fähig bin. Es ist ein Maß überschritten.

Die Schriftstellerin und Journalistin Laurie Penny hat es bei Twitter auf den Punkt gebracht, was ich so oft denke:
Unfortunately, this means that on top of having to save the world, many of also now have to handle major depression. (Thanks a lot, capitalist patriarchal death cult, you’re a gem). And when you are depressed, pushing through it can feel as impossible as saving the world.
Das ist es, was ich derzeit so hasse: diesen zutiefst turbokapitalistischen, misogyn patriarchalischen Todeskult von Rechtsradikalen, von pathologischen Narzissten an der Macht. Typen, denen es nur um Macht, vermeintliche Potenz und Reibach geht und denen alles andere und alle anderen egal sind. Bolsonaro und Trump sind nur die besonders auffälligen Zerrfiguren von Leuten, die auch in Ungarn und Italien, in Polen und in unseren eigenen Wahlumfragen mit ihren banal bürgerlichen Fratzen machtgeil eine Politik des Spaltens und Zerstörens betreiben. Faschismus ist ein Todeskult, auch wenn er sich schönfärberisch anders nennt. (Umberto Eco hat ihn in seinem bahnbrechenden Essay "Ur-Fascism" definiert).

Das ist es, was mich so wütend macht, unendlich wütend: Ich will nicht mit solchen auf diesem Planeten leben, ihnen nicht so viel Macht überlassen, wie sie schon viel zu viel haben. Das da draußen ist eigentlich längst Krieg, ein Krieg mit modernen Mitteln, ein Krieg der Todesgeilen gegen die Vernunft. Sie halten die Natur nicht aus, weil die Natur am Ende immer mächtiger sein wird als sie. Sie sind den "Fliegenschiss" einer Dungfliege nicht wert, mit dem so mancher Verächter schon metaphernhaft herumoperierte.

Und wenn ich darüber nachdenke und in dystopischen Gedanken verschwinde, dann komme ich an meine Grenzen und halte es eben nicht mehr aus. Deshalb möchte ich den ganzen Thread von Laurie Penny zum Lesen empfehlen, es lohnt sich (Triggerwarnung: Thread über psychische Probleme). Sehr klarsichtig stellt sie die Parallelen zwischen "kultureller Depression" und einer echten Depression heraus (sie selbst ist depressionserfahren). Und spricht darüber, dass wir im Moment tatsächlich auch ähnliche Methoden brauchen, um aus dem Dunkel herauszufinden, um wieder handlungsfähig zu werden.

Ich bin dann unversehens wieder bei dem namenlosen Schaf, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Ich habe kurz weggeschoben, dass ich es eigentlich nicht einmal schaffe, hinzuschauen. Weil ich es nicht mitansehen konnte, wie das Schaf leidet, jämmerlich stirbt. Ich habe mich überwunden, hingeschaut, schnellstens die Lage analysiert, Wege berechnet, telefoniert und die nötigen Informationen gegeben. Damit der Besitzer, wenn er käme, gleich die Drahtschere dabei haben würde.

Ich denke, das ist es, was wir im Moment machen müssen: Hinschauen, schnell die Lage erfassen, handeln. Nicht warten, bis der Planet röchelt und Schaum vor dem Maul hat. Sofort helfen. Alles andere muss einfach mal solange warten. Ein Notfall hat absolute Priorität. Helfen, und wenn es nur ein winziger Schritt zu ein scheint, z.B. die eigene Regierung mit einer Petition unter Druck zu setzen, sich Frankreich und Irland anzuschließen. Die wollen Mercosur, den Handelsvertrag, aussetzen, weil sich Brasilien nicht an die Vorgaben hält.

Wir können als Einzelpersonen nicht die ganze Welt retten, nicht einmal eine ganze Schafherde. Ohne Drahtschere und Knowhow hätte ich nicht einmal ein einzelnes Schaf retten können. Ich kann mir nur ein Beispiel am "edlen Ritter" Bilbo von Butterblum nehmen. Der steht einfach für das ein, was er liebt. Zeigt mir jeden Tag von neuem, was Sozialverhalten ist. Tut einfach.

Und er macht das, was in diesen Tagen genauso wichtig ist: Er freut sich unbändig über "le Knack", die Straßburger Variante eines Wienerle, als Belohnung. Lässt sich mit Wonne durchkraulen und schnarcht gemütlich in den Kissen. Wer aktiv ist, muss auch zur Ruhe kommen. Wer aufregende Rettungsaktionen initiiert, muss auch genügend Schlaf haben.

Viele Menschen, die sich beruflich mit der Weltlage beschäftigen, äußern, dass sie unendlich müde sind, eine ungeheure Erschöpfungsmüdigkeit verspüren. Am liebsten alles nur noch wegschlafen würden. Mich selbst dürstet nach Schönheit in kleinen Dingen und nach Bildermalen in herrlichen Farben. Das gehört dazu, zum Kampf gegen das Schwarzbraunblau. Wenn wir danach dürsten, brauchen wir es auch. Es hält uns am Leben, weil es Leben ist.

Ein Grünes Heupferd war in Bilbos Wassernapf gefallen. Es ist wieder wohlauf.


Irgendwie war heute der Tag der Rettungsaktionen. Als ich morgens vor die Tür trat, lag ein großes Grünes Heupferd in Bilbos Trinknapf, offenbar ertrunken. Ich habe es herausgefischt und es war noch nicht zu spät. Das Heupferdweibchen ließ sich erst einmal ausführlich auf meinem Arm wärmen und putzte sich dann zutraulich auf meiner Hand sämtliche Gliedmaßen und Fühler trocken. Spreizte die Flügel und schüttelte sie aus. Und wenn einem dann so ein Tier in die Augen blickt (oder war es umgekehrt oder beides?), dann weiß man wieder, was auf dieser Erde zählt und was wir mit aller Kraft verteidigen müssen. Die Welt, wie sie Lebensverächter wie Trump oder Bolsonaro und all die anderen winzigen Rechtsradikalen erträumen, ist es nicht. Denn das sind die Typen, die heute achtlos Heupferdchen zertreten und morgen Menschen.


Unvergesslich: Einmal einem solch faszinierenden und schönen Wesen in die Augen schauen.

20. August 2019

Typisch Frauenkram?

Seit ich nicht mehr bei Facebook bin, habe ich Zeit und Muße, mich in den unendlichen Weiten des Internets nach dem umzuschauen, was die Welt konstruktiv befruchtet oder / und was mich persönlich jenseits der Algorithmenenge interessieren könnte. So stieß ich zufällig auf einen Professor im Ruhestand, der sich "bibprofessor" nennt und seine Overalls tauscht und sie fleißig flickt - und zwar irre bunt. Weil meine Hosen auch immer öfter Löcher haben, folgte ich der kuriosen Spur und landete in einer höchst interessanten Welt, die mit Handarbeiten im herkömmlichen Sinn nur wenig zu tun hatte. Plötzlich wurde es sozial, politisch, umweltrelevant und manchmal sogar ein wenig revolutionär! (Die Links führen wie immer vertiefend in die Thematik oder zu Bildern.)

Endlich dazu stehen, dass man nicht wirklich akkurat und perfekt handarbeiten kann und Löcher sichtbar stopfen, die Szene findet sich unter Visible Mending - sichtbares Flicken - im Internet. Auf Instagram trifft sich die Community unter dem gleichnamigen Hashtag. Die Ursprünge sind weitaus älter - sie gehen u.a. auf das japanische Kintsugi, auf Sashiko und Boro zurück, diese alten Techniken werden inzwischen weltweit erlernt und auf moderne Weise adaptiert.

Frauenkram oder Instrument des Aufruhrs?

In meiner Generation waren Handarbeiten noch streng zweigeteilt. Mädchen durften erst spät in den 1970ern am "Werkunterricht" teilnehmen, dem typischen "Jungshandarbeiten" bis dahin. Wir wurden mit Perfektion für die ach so erstrebenswerte Heirat und Hausfrauentätigkeit traktiert, denn an Schulen wurde die Befreiung der 1960er lange ausgeklammert: Nähen, Stricken, Häkeln, Sticken und natürlich auch die entsprechenden Reparaturarbeiten wie Stopftechniken standen auf dem Stundenplan. Für mich eine doppelte Qual, denn neben der militaristischen Lehrerin war meine Mutter unerbittlich. Als gelernter Schneiderin machte es ihr niemand recht. Ich durfte zeitlebens nie an ihre Nähmaschine; die würde anders laufen, wenn jemand anderes daran gesessen sei, behauptete sie. Ich hasste Handarbeiten heiß und innig.

So kam es, dass sich meine Schränke mit lustlos liegengelassenen, unfertigen Handarbeiten füllten: die "weiblichen" Skills kotzen mich, gelinde gesagt, an. Ich spielte schon als kleines Kind den Robin Hood und nicht die Maryann. Lieber strickte meine Mutter ein Stück für eine Hausaufgabe selbst, schimpfend natürlich, als dass sie mich mit Unperfektem in die Schule ließ! So wurde aus mir ein Mädchen, das mit Hingabe hämmerte und feilte, mit der Bohrmaschine und später der Motorsense arbeitete. Da redete mir niemand dumm rein. Ich habe natürlich trotzdem leidlich häkeln gelernt und manchmal heimlich nette Bildchen gestickt. Als es dann angesagt war, während des normalen Schulunterrichts frech und provozierend zu stricken, lernte ich auch das.

Ein Lehrer nannte mich "die Tricoteuse von der Hinterbank", weil, wie er meinte, von mir ähnlich wie bei den Tricoteuses der Französischen Revolution scharfe und oft ironische Bemerkungen kämen. So erfuhr ich, dass Stricken politisch sein konnte. Wie politisch, erlebte ich später, als die Mitglieder einer neuen Partei plötzlich provozierend im Bundestag strickten. Das war auch die Zeit, als wir "Gegenuniversitäten" gründeten, in denen vor allem Männer in vermeintlich weiblichen Handarbeiten unterwiesen wurden.

Dabei waren Handarbeiten nie ausschließlich Sache von Frauen gewesen, wie Susanne Schnatmeyer in ihren kulturgeschichtlichen Untersuchungen herausgearbeitet hat. Hier in einem Überblick zu lesen - hier in aller Ausführlichkeit in ihrem Blog "Textile Geschichten". Die Zeitschrift Emma, die 2017 feststellte, wie politisch Stricken wieder ist, schreibt ebenfalls über die wechselvolle Geschichte dieser Handarbeitstechnik.

Aber machen wir uns nichts vor: Männerdomäne war Stricken, als es lukrativ und ehrenvoll war. Die wenigen Männer, die heute in Aktionen die Nadeln z.B. zum Kampf gegen das Patriarchat in die Hand nehmen, wie die Hombres Tejedores mit Anzug und Krawatte aus Santiago de Chile, sind keine gesellschaftliche Mehrheit. Und Frauen hielt man mit dem Klischee der sittsam, brav und fleißig handarbeitenden Dame vor allem im 19. Jahrhundert lange dumm und still. Aber wie sich so manche Dame damals mit selbst verdientem Nadelgeld ein wenig befreite, wie noch ein Jahrhundert früher Frauen sich fürs politische Agieren sogar bezahlen ließen, so ist auch heute längst nicht mehr alles rosige heile DIY-Welt. Ein rosa Strickteil hat den Muff sogar aus der Wollfarbe genommen: der Pussy Hat, der ab November 2016 im PUSSYHAT PROJECT™ Frauen weltweit zusammenbrachte. Selbst im Schweizer Bundeshaus wurde mitgestrickt.

Und was hat jetzt bitte dilettantisches Stopfen mit Politik zu tun?

Zuerst einmal fängt die Sache dort zu gären an, wo Handarbeit allein im stillen Kämmerlein langweilig wird. (Abgesehen davon, dass die meisten Leute heute wegwerfen statt reparieren oder selbst machen.) Vor der politischen Aktion steht ein soziales Miteinander, man trifft sich im realen Leben. Noch kann man keine Avatare zu Demos auf die Straße schicken und darum lässt sich das Bilden von politischen Interessensgruppen durchaus mit der Bildung von Handarbeitszirkeln vergleichen und annähern.

Auch wenn ich etwas lernen will, ist "Abschauen" bei den Könnerinnen in der Realität immer hilfreicher als Youtube-Tutorials oder Online-Webinare. Man kann unterbrechen, sich die Rückseite zeigen lassen oder einfach mal fragen, wo man die tolle Wolle in der Region bekommt, kann sich vielleicht sogar bei Unsicherheit die Hand führen lassen. Man kann beim Machen miteinander schwätzen und Kaffee oder Härteres trinken. So bilden sich Handarbeitzirkel, die natürlich  nicht zwingend zu politischen Keimzellen werden müssen. Die meisten sind harmlos und nett. Trotzdem - oder auch gerade deshalb - wirken sie gesellschaftlich als Kitt, sie schaffen soziale Bindungen und die wiederum Rückhalt.

Einige Handarbeitskreise arbeiten sozial. In meiner Region gibt es z.B. einen Strickzirkel, wo Frauen für Obdachlose warme Kleidungstücke stricken. Es gibt Handarbeitsgruppen für sehr arme Menschen, denen Teilhabe an gesellschaftlichem Miteinander sonst kaum noch möglich ist. Sie spüren hier wieder ihre Würde. Egal wie - ein Handarbeitszirkel ist gelebtes soziales Miteinander und nicht das narzisstische Hinklatschen von "I made this!", in dem irgendwann jede noch so ambitionierte Facebookgruppe versumpft und so manches Instagram-Acount dazu. So jemand würde im realen Leben ganz schnell geschnitten. Die Frauen und Männer, die sich hier zusammenfinden, legen ihr soziales oder politisches Engagement keinesfalls mit den Nadeln weg.

Was passiert beim Tauschen?

So entstand in den Bereichen DIY und Handarbeiten schnell eine Tauschkultur, die inzwischen immer öfter auch politisch eindeutig positioniert ist. Je nach Gruppe kämpft man gegen Verschwendung oder gleich gegen den Kapitalismus, engagiert sich für die Umwelt, für Zero Waste oder Degrowth und vor allem gegen Fast Fashion. So gibt es bereits Menschen, die keine eigenen Kleidung mehr besitzen möchten.

Damit es nicht ausufert, bleibe ich beim Beispiel mit den Flicken. Menschen tauschen handgearbeitete Flicken so wie es Swaps (Online-Tauschzirkel) fürs Art Journaling gibt, online und im echten Leben. Online geht das über Hashtags bei Instagram wie z.B. #mendandmakefriends oder #patchswap oder in Facebookgruppen. Voraussetzung für die Flicken ist dabei:
  • Sie müssen selbst gemacht sein,
  • sie werden verschenkt und dürfen nicht verkauft werden,
  • es wird immer getauscht,
  • man verschickt die Flicken per Snailmail,
  • es liegt ein meist liebevoll gestalteter, handgeschriebener Brief bei,
  • die Tauschpartnerinnen leben auf der ganzen Welt.
Mich erinnert das an meine Zeit, als ich gerade genügend Englisch für Briefe konnte (Internet gab es noch nicht). Wir waren wild darauf, uns mit Brieffreundschaften aus aller Welt auszutauschen, es gab damals eigens Vermittlungsstellen für so etwas. Ich liebte den Gang zum Briefkasten: Stets war ein anderes Stück Welt darin, aus den USA und England, aus Frankreich und der Türkei, aus Irland und Südkorea. Wir schickten uns Fotos und erzählten uns von unserer Kultur, unserem Leben, schenkten uns zum Geburtstag klitzekleine Kleinigkeiten, die typisch waren für unser Land. Ich liebte es, weil es mir zeigte, dass Menschen noch so verschieden sein können - es bewegen sie die gleichen Gefühle, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen.

Unity in Diversity wurde später ein Motto unseres Denkens. Was zunächst einfach nur Spaß machte, bildete uns, veränderte uns. Und es ist heute nicht nur Motto der EU, sondern auch Grundlage der Arbeit der UN, geht vielschichtig und integrativ in die Tiefe, wie dieser Text zeigt. So war übrigens ursprünglich auch "Multikulti" gedacht, ein Begriff, der heute derart von der rechten Szene falsch interpretierend annektiert ist, dass man ihn besser nicht mehr verwendet.

Wenn ich also heute auf Augenhöhe einen bunt gestalteten Flicken mit irgendeiner fremden Frau (oder einem Mann) irgendwo auf der Welt teile und diese mir ihren schickt, passiert einiges, mit dem wir uns selbst aus der schnelllebigen eigenen kleinen Welt herausholen:
  • Wir fertigen etwas, das Zeit und Mühe kostet.
  • Wir geben unsere Gedanken und Energie in die Gestaltung.
  • Wir schenken ein Stück von uns selbst, zeigen uns oder unsere Welt.
  • Wir können wertschätzen, was andere kreieren.
  • Wir berühren Stoffe und Muster, die wir vielleicht noch nie zuvor gesehen haben.
  • Wir nehmen uns aus dem Geldkreislauf und Geben wird seliger als Nehmen.
  • Wir treten in eine "langsame" Beziehung außerhalb von Social Media, lernen uns vielleicht näher kennen, es entstehen manchmal längerfristige Bekanntschaften.
  • Das "Slow" auf allen Ebenen wird zurück in Social Media getragen. Und wir zeigen immer zuerst die Werke der Partnerin, nicht die eigenen.
Genau deshalb ist die Szene längst im echten Leben und sehr politisch unterwegs. Second Hand zum Kaufen war gestern, könnte man frech sagen. Längst gibt es außerdem Klamottentauschbörsen nicht nur für arme Menschen. Vor allem junge Leute haben die Idee salonfähig gemacht, dass ich Kleidung nicht mehr dauerhaft selbst besitzen muss. Damit sie lange tauschbar bleibt, muss sie allerdings auch von besserer Qualität sein als das Fast Fashion meist bietet. Der Guardian und viele andere Zeitungen geben inzwischen Lifestyle-Tipps zum richtigen Tauschen und Reparieren. Überall auf der Welt werden Tauschmärkte mit Repair-Cafés verbunden, zeigen die Erfahrenen den Neulingen, wie man einfache, schöne Stiche macht, wie man sichtbar und schnell oder langsam und kunstvoll Stoffe und Gewirktes stopft.

Es verändert die Menschen

Infiziert vom Tausch- und Repariervirus sind alle "Biotope" menschlichen Lebens. In abgelegenen Dörfern gibt es Tauschtreffen für Babykleidung. Emmaus verkauft (für einen geringen Obolus) nicht nur Second Hand für einen guten Zweck, sondern veranstaltet inzwischen eigene Modeschauen mit Upcycling und Repariertem, soziale Arbeit wird nicht nur hier gefördert. Live-Swaps gibt es aber genauso in hippen oder schicken Milieus in New York oder Paris.

Keine Ressourcen mehr verschwenden ist das eine - wie bei den Brieffreundschaften verschiebt sich dabei langsam der eigene Fokus: Es geht darum, möglichst ethisch und umweltbewusst einzukaufen, auf Nachhaltigkeit zu achten. Es geht darum, sich aus dem überhitzten Konsumkarussell herauszunehmen. Sei es gezwungenermaßen aus Armut, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer schlimmer aufklafft; sei es, dass man seinen Geldfluss bewusst und sinnvoll lenken will: die Kritik an der heutigen Form des Kapitalismus ist unüberhörbar. Was mir dabei besonders gefällt: Das Konzept ist offen für alle. Man tauscht, egal, wieviel Geld man hat. Arme werden nicht mehr isoliert in Veranstaltungen gelenkt, das hilft auch, Würde zu bewahren.

Ist es nicht außerdem unerhört, das Smartphone aus den Händen zu legen, um etwas heutzutage scheinbar völlig "Unsinniges" zu fertigen und darauf auch noch Mühe und Zeit zu verwenden? Sich womöglich in regionalen Communities zu treffen, so ganz und echt im Kohlenstoffleben, um sich dann global auszutauschen? Was macht es mit mir, wenn ich eine Jeans nicht mehr wegwerfe, sondern neu haltbar mache, sie aufwerte, wertvoll mache? Die Narben und Verletzungen unserer Kleidung erzählen Geschichten, von uns, von anderen Menschen. Wie gehe ich mit der Arbeit derer um, die einmal diese Jeans zu wahrscheinlich nicht schönen Konditionen fertigten? Ihrer Hände Arbeit ist die Grundlage, die "Leinwand" für die Flickenkunst! Wie verändere ich mich bei dieser Arbeit selbst?

Man kann das natürlich alles lediglich als nettes Hobby machen, sich ein wenig den Kick holen, bis man gelangweilt das nächste Hobby sucht. Man kann es sogar zur Selbstdarstellung missbrauchen, auch wenn es eigentlich so gedacht ist, dass wir unsere Partnerinnen und ihre Arbeit zeigen. Es geht aber irgendwann um mehr!

Die politische Seite beim Stopfen und Handarbeiten

Ich möchte hier stellvertretend ein paar Aktionen, Vereinigungen oder Methoden nennen, um zu inspirieren. Denn schon morgen können wir selbst damit anfangen! Repair-Cafés, Veranstaltungen für den Umweltschutz oder Unterricht in der Makerszene sind inzwischen vor allem in den Städten etabliert und lassen sich leicht übers Internet finden. Etwas weniger bekannt:

Kintsugi, Sashiko und Boro sind japanische Techniken des Stopfens, Flickens und Reparierens, die zunächst unpolitisch sind. Am bekanntesten ist wohl das Kintsugi, bei dem zerbrochenes Geschirr mit einer Kittmasse geklebt wird, in die echtes Gold, Silber oder Platin eingestreut werden. Den Makel hervorheben; das, was für andere Müll ist, mit Edelstem ehren - dieses Prinzip haben die Visible Menders übernommen. Und so heißt es dann kämpferisch: 
Nähen ist ein radikaler Akt. Es bedeutet: Ich habe Zeit mit etwas Unnötigem verschwendet. Es bedeutet: Ich wertschätze die Dinge. Ich pflege sie. Ich kümmere mich darum.
Auf diese Weise kam auch Boro, das Reparieren durch aufgesetzte Flicken und Stoffstücke, zu neuen Ehren, genauso wie Sashiko, eine Technik mit Vorstichen. Anders als in rein dekorativen Quilts dient diese Art des Stickens wieder der Verstärkung von morschem Gewebe, dem Versiegeln von löchrigem Stoff. Kurse und Treffen werden weltweit veranstaltet - und wer nicht die Chance hat, lernt es einfach via Youtube.

Subversive Cross Stitch ist das älteste politische Beispiel, das ich finden konnte und das 2003 auf eine recht verbreitete Weise begann: als Selbsttherapie nach Mobbingerlebnissen. Julie Jackson, die sich spontan mit Kreuzstich selbst helfen wollte, stickte als Anfängerin das berühmte Wort f**k - und steckte so viele Frauen an, dass ihre späteren Bücher in mehreren Sprachen erschienen. Sie ermuntert Mädchen und Frauen, aus dem braven rosa Klischee auszubrechen und wurde damit zur Unternehmerin.

Badass HERstory machte zur gleichen Zeit Furore wie der Pussy Hat. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet ein erschreckend misogyner und rassistischer Mann Frauen zum subversiven und hochpolitischen Handarbeiten brachte. Shannon Downey stickte ein Banner für den Women's March und das Bild ihrer roten Wut ging um die Welt. Kreuzstich wurde nicht nur für sie plötzlich zur feministischen Kampftechnik, zum Ausdruck für soziale Gerechtigkeit und den Kampf gegen die Politik unter Trump.
Heute arbeitet sie mit anderen Frauen an einem partizipativen Kunstwerk, der HERstory, bei der man immer noch mitmachen kann. Ihre Gedanken über Veränderung, Change und Transition, gelten nicht nur für die Lebensbedingungen von Frauen - sie können ein Konzept für unsere Zeit sein.

Craft for Change geht den Weg, Handarbeiten gegen Spenden zu tauschen. Diese Spenden werden allerdings nicht irgendwem geschenkt, sie werden wohlüberlegt politisch eingesetzt.

Craftivists, Craftivistinnen, nennen sich die stickenden Aktivistinnen übrigens, von craft = Handarbeit und activist = Aktivistin.  Zu ihnen gehört auch Hanna Hill, die sich stickend mit den Themen Gender, Sexualität, psychische Krankheit und Rassismus beschäftigt. Sie hat zum Craftivism auch eine Linkliste. Craftivism funktioniert auch andersherum: Eine der größten Strickcommunities weltweit hat inzwischen Werbung für einen gewissen Präsidenten verbannt.

2016 kann als das Jahr gelten, als Sichtbares Flicken und Craftivism so richtig berühmt wurden. Langsam, nur allzu langsam schwappt das auch in deutschsprachige Bereiche. Aber auch deutsche Artikel stützen sich eher auf die englischsprachigen Beispiele. Der DLF berichtete über Anti-Trump-Kunst durch Handarbeiten, das Innenansicht-Magazin bemängelte 2017 ein Fehlen von Beispielen in Deutschland. Die Zeitschrift Emma stellte im vergangenen Jahr die Tiroler Künstlerin Katharina Cibulka vor, die Baustellen-Planen gegen den Backlash bestickt, im Großformat. Etwas trocken, aber aufschlussreich ist der längere Artikel über sogenannte Konflikttextilien in der politischen Arbeit. Aber auch der wurde aus dem Englischen übersetzt. Und die Zeitschrift, die einmal drei politische Stickerinnen interviewt hat, das Intro Magazin, existiert nicht mehr.

Ob die europäische Szene so brav ist, weil kein Mr Orange droht? Dabei wäre der Kampf gegen weibliche Klischees längst wieder angesagt, zumal auch die Rechtsradikalen mit einem unmöglichen Frauenbild werben, das einer 1950er-Hölle entsprungen scheint, die gentechnisch mit übelster Historie gekreuzt wurde. Betätigungen hätten wir genug. Immerhin eine nennenswerte Gruppe habe ich noch gefunden:

Das Radikale Nähkränzchen in Innsbruck beschäftigt sich mit Gewalt gegen Frauen und mit Mädchenkultur.

Angesprochen wurde bereits eine Form des Miteinander, über die ich gern extra mal einen Beitrag schreiben möchte. Partizipative Kunst oder auch Crowdsourcing in der Kunst. Das sind Werke, die den Urheberbegriff aufweichen, weil sehr viele Menschen daran beteiligt sind als Schöpferinnen und Schöpfer. Viele dieser Kunstaktionen oder Ausstellungen sind aus der Tauschszene entstanden.
Hier möchte ich das Projekt #mendtheworldtablecloth der norwegerischen Textilkünstlerin Eline Medbøe nennen, das sie auf Instagram laufen hat. Leider ist mir nicht gelungen, herauszufinden, was daraus genau werden wird.

Übrigens freue ich mich bei solch aufwändigen, rechercheintensiven Artikeln jederzeit über eine kleine Spende in die Kaffeekasse - das Formular gibt's rechts im Menu unter "Wer liebt, gibt!" Einfach auf den Paypal-Button klicken, ab 2 Euro seid ihr dabei.
Und Medien: Wenn ihr einen Artikel braucht, bestellt ihn ordentlich bei mir, ich bin nämlich Journalistin. Was ich gar nicht abkann, ist Abschreiben und Ideenklau. Das ahnde ich, wie es Journalistinnen so machen. Muss man leider heutzutage explizit sagen, weil's zu oft vorkommt.

Update 1.6.2020: Ein Interview mit Annie Taylor von PEG (Profanity Embroidery Group auf WomensArt.

Ein paar Fotos von eigenen Stücken gibt's auf Instagram:

Jeans Nr 1 (meine Lieblingshose)
Jeans Nr 2
Pullover - meine neueste Errungenschaft. Es war ein recht teurer Lieblingspulli aus einer wunderbar weichen Wolle gewesen, den die Motten zerfressen haben. Ich bekam es nie übers Herz, ihn wegzuwerfen, aber leider waren die Löcher zu groß, um sie unsichtbar kunstzustopfen. Jetzt bin ich richtig glücklich, dass ich ihn so verziert habe, ein paar Motten werde ich noch dazusticken!

16. August 2019

Voller Genuss

Kürzlich hat sich bei Twitter eine Deutsche, die offenbar ins Elsass gezogen ist, sehr ereifert, dass alles so schrecklich teuer sei in Frankreich und dass deshalb "alle" in die deutschen Discounter flüchten müssten. Ich habe versucht, sie ein wenig aufzuklären, wie es tatsächlich ist, stieß aber leider auf taube Ohren. Tatsache ist: Wir sind in diesem Landstrich ähnlich wie die Badner und Pfälzer und andere Menschen an Binnengrenzen der EU unwahrscheinlich privilegiert! Keine nervigen und restriktiven Zollgrenzbezirke mehr wie früher (3 Flaschen Alkohol pro Person), eine gemeinsame Währung - und viele alte Zollstationen sind heute Einkaufszentren. Wir können vom Besten profitieren, was die Regionen bieten. Und damit die abgelegeneren Gebiete nicht ganz abgehängt sind, gibt es längst Aldi und Lidl auch in Frankreich.

Ich bin verrückt nach guten Gewürzen. Salz und Pfeffer würden mir in der Küche nie reichen.


Die wirklich feinen, frischen Sächelchen aber kaufen wir auf dem Markt. Dort ist Gemüse und Obst nicht nur frischer und aus der Region, es ist vor allem um ein Mehrfaches billiger als die Spanienware in den Hypermarchés. So kann man dann sogar beim Biobauern einkaufen, das kostet nicht so viel mehr als im Supermarkt. Es hat sich dabei sehr viel getan in den letzten Jahren. Viele Bauern haben auf "bio" umgestellt, Einzelkämpfer haben Cooperativen gebildet, Netzwerke entstanden. Durch die Cooperativen und in den Städten inzwischen sogar Cooperativläden sind die Preise auch für Bioware erschwinglicher geworden. Und es wird kräftig weiter investiert und subventioniert. So fährt im Nordelsass inzwischen ein Biobus über die Dörfer, die weniger Anschluss haben. Bahnhöfe werden zu Versorgungszentren (in Haguenau wird diesbezüglich groß umgebaut). Auch das gibt es inzwischen: Man kauft bei unterschiedlichen regionalen HändlerInnen online ein - und holt die Ware dann einfach am Bahnhof gesammelt bei einer Sammelstelle ab.

Ich liebe Märkte und nehme mir für den unseren immer extra Zeit, ein festes Ritual des Genusses schon beim Einkaufen. Früher musste man noch mühsam mit dem Auto durch die Berge kurbeln, um all die regionalen Spezialitäten direkt einzukaufen, heute haben diese Leute einen Marktstand. Da ist die Familie, die Forellen und andere Fische im Bergwasser züchtet, der Müller bringt sein Mehl, der Ziegenzüchter seine Käse. Es gibt unterschiedliche Gemüsestände, Spezialitäten aus der Provence, Fertigspezialitäten vom Vietnamesen und den Gewürzstand aus Strasbourg. Manchmal kommt ein Imker, manchmal eine Bäuerin, die Äpfel übrig hat. Jemand bringt frisch gepresstes Walnussöl von der Ölmühle. Der Viehzüchter verkauft sein Fleisch, an einem Stand gibt es Tarte Flambée. Und manchmal verkaufen Eltern irgendeiner Schule leckere Kuchen und Waffeln zur Finanzierung von Ausflügen.

Es ist ein anderes Einkaufen, wenn die Pfifferlinge direkt aus dem Wald von Roeschwoog kommen und am Morgen gesammelt wurden. Natürlich würzen wir auch mit Zitronengras aus Thailand, aber unsere thailändisch-elsässische Bauersfrau steht fast in der Nacht schon auf dem Feld, um die regionalen Genüsse zu ernten. Die können manchmal so exotisch sein wie Grünkohl, den ich in diesem Jahr zum ersten Mal im Leben in Händen hielt! Er ist eher unbekannt in Frankreich, entwickelt sich aber gerade zum Hipster-Gemüse.

Zum ersten Mal konnte ich auch völlig plastikfrei einkaufen. Auf dem Markt sauten die Franzosen leider ziemlich herum, Hemdchentüten für alles. Die sind inzwischen verboten, eine Übergangsfrist erlaubt im Moment nur noch Plastik aus Recycling oder biodegradables, dann müssen die Tüten ganz weg. Es ging perfekt ohne: Ich bekomme einen flachen Karton, den ich fülle. Den gebe ich dem Bauern samt riesiger Einkaufstasche oder Korb - er wiegt ab und füllt alles um, lose. Und weil man ja immer dazulernt, habe ich heute entdeckt, dass man inzwischen selbst auf dem Markt mit Kreditkarte zahlen kann. Bisher war das die letzte Bastion für Bargeld, aber seit es die kontaktlosen Karten gibt ... Das hätte ich wissen müssen, als mir schon öfter das Kleingeld ausging und ich noch mehr gebraucht hätte!

Ich kaufe auch gern auf dem Markt, weil schon die Beschreibungen um so viel appetitanregender sind als im Laden. Und die Gespräche dazu sind nochmal so schön. Was denn ein "Ägyptisches" sei, wollte ich am Brotstand wissen und erfahre gleich, dass Kamut, der sogenannte Khorasan-Weizen, ursprünglich aus Ägypten nach Frankreich kam. Das 6000 Jahre alte Getreide wird inzwischen auch bei uns wieder angebaut und schmeckt einfach köstlich in einem "au levain" gebackenen Weißbrot.

Von Ägypten aus ging es dann auf Weltreise am Gewürzstand, den ich viele Wochen verpasst hatte. Ich hatte also Nachholbedarf. Mischungen ohne Geschmacksverstärker, wirklich frisch und einfach köstlich, wie die weltbeste Hühnchenwürze, die auch zu Reis und Gemüse passt. Lavendelblüten aus der Provence, eine Kräutermischung aus Italien - das ist noch einfach. Aber welcher von den vielen Currys könnte der leckerste sein? Einkaufen mit Fachberatung: Ich erfahre die Schärfen, die Unterschiede im Aroma und wage ausnahmsweise Schärfe 4-5 statt 1. Ein Kräutertee klingt von der Zusammensetzung her wie ein Paradies zum Entspannen. "Marchand de sables" klingt exotisch, ich denke dabei an Sandhändler oder Händler auf dem Weg durch endlose Wüsten, aber der Händler kichert. So heiße in Frankreich das Wesen, das den Sand in die Augen streue, das Sandmännchen! Ein leckerer Einschlaftee also.

Es gibt noch ein Ritual am Abend, das für französische Markttage kennzeichnend ist: Man kocht an diesem Abend nicht. Es macht genügend Arbeit, einzukaufen, die Vorräte zu verstauen und andere Dinge zu erledigen, wenn man schon in der Stadt ist. Darum gibt es auf jedem französischen Markt fertige Leckereien, die nur noch warm gemacht werden müssen. Der Vietnamese mit seinen Teigtaschen, Nemröllchen und anderen Spezialitäten ist immer zuerst ausverkauft. Und das gibt es auch heute bei uns im Hause, mit einem schönen gekühlten Weißwein dazu, einem frischen Salat und anschließend Früchten auf Ziegenmilchjoghurt.

Über das Elsass mitsamt seinen Genüssen habe ich auch ein Buch geschrieben: Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt.

15. August 2019

Von Flöhen lernen

Während das ganze Land im eigentlich uralt heidnischen Feiertag schwelgt, sitze ich fleißig am CMS-System eines Kunden im Arbeitsländle. Kontrastprogramm zum ländlichen Markt, aber ich bin heilfroh, dass es so gekommen ist. Ich habe mir nämlich sagen lassen, dort hätte es heftig geschüttet bei 14 Grad. Meinem Schmuck hätte das nichts ausgemacht - außer an Lederteilen, die mögen Wasser auch nicht. Aber meine Kunst hinter Glas wäre aufgequollen. Und das hat mir mal wieder die Augen geöffnet!

So ein Inspirational Manager weiß ganz genau, was wichtig ist im Moment, und wenn es Sch... ist. ;-)


Ich habe festgestellt, dass ich immer noch in die alte Falle von Verhaltensmustern falle, die mir als Kind antrainiert wurde: die Erwartungen anderer zu erfüllen und eine Sache möglichst gut zu machen. Sei es, weil ich mich irgendwie verpflichtet fühle oder der Esel eine Karotte vor der Nase sieht. Damit ist nun Schluss, auch eine alte Eselin lernt dazu. Und so habe ich beschlossen, dass ich schlicht nicht der Typ bin für Märkte unter freiem Himmel oder in Hallen. Als Besucherin sehr, als Ausstellerin oder Händlerin: definitiv nein.

Durch die Doppelbelastung zwischen Brotjob und Atelier (und leben will man ja auch noch), die Hitze obendrein, habe ich mich an den Rand der Erschöpfung gearbeitet. Beigetragen hat auch eine Flohattacke auf Bilbo mit all ihren Folgen; täglich alles absaugen, wo er liegt, bis das Mittel endlich wirkt - und danach auch noch. Das nimmt Zeit. Ich würde mich am liebsten heute neben ihn hinlegen und schlafen, einfach nur schlafen, viel schlafen ...

Es ist mir jetzt herzlich wurscht, ob ich "sichtbar" bin, indem ich irgendwo Prospekte verteile und Zeug zeige, ich habe ja Kundschaft. Und meine ganze Arbeit und das Feedback zeigen mir, dass ich in die Kunstveranstaltungen gehöre, nicht neben Salami und Knöpfe. Mehr fokussieren, deutlicher den eigenen Weg gehen. Das gilt auch für Wettbewerbe.

Als Noname in der Branche muss man mal bei welchen mitgemacht haben, es gehört ins Portfolio. Und als Quereinsteigerin machen sie sich gut, weil man ja kein Fachstudium in Kunst oder in der Modebranche vorweisen kann. Aber es läuft ganz genauso (wenn nicht sogar extremer) wie bei Literaturwettbewerben. Es gibt extrem wenige, die wirklich großes Renommé bringen. Dass ich bei Preciosa Ornela in den Nominierungen gezeigt wurde und hoch nach oben rutschte, ist z.B. mehr wert als ein erster Preis bei XY, weil es weltweit der Marktführer ist.

Also muss man sparsam und gezielt schauen. Und es gibt jede Menge Ausschreibungen, die nur denjenigen nutzen, die die Ausschreibung machen: Sie bekommen Vorleistung, greifen gute Ideen ab und lenken sämtliche Werbung auf sich selbst. Da gibt es auch sehr schwarze Schafe, die sich vorher alle Designrechte sichern - diesbezüglich bin ich zum Glück schon als Buchautorin mit allen Wassern gewaschen, um sie zu vermeiden. Man muss schon sehr genau hinschauen bei diesen Wettbewerben, was einem wirklich selbst nutzt und was nur anderen.

Irgendwie fühlen sich solche Selbsterkenntnisse befreiend an, wenn es auch leider manchmal lange dauert. Diese Frage: Was will ich eigentlich? Wenn ich die gut beantworten kann, fällt mir auch ein, wie ich dahin komme. Und dann muss ich auch die Ohren öfter mal stur auf Durchzug schalten, wenn wieder mal irgendwer den ultimativen Ratschlag haben will, wie man dahin kommen könnte. Entscheidungen sind einsam zu treffen. Ohne Verblendung.

Eben wieder bei Instagram erlebt: Eine Seite (unterstes Influencerlevel) lobt mich für meine Paper Art Schmetterlinge und verspricht "we feature you!". Das kostet Geld, natürlich. Warum sagen die Typen heutzutage nicht offen: Wollen Sie eine bezahlte Anzeige bei uns schalten? Dann würde nämlich jeder vernünftig denkende Mensch sagen: Wenn ich Anzeigen schalte, suche ich mir nach Zielpublikum und Effekt aus, bei wem ich das mache und lasse mich nicht anbetteln! Die ganze Seite solcher Influencer besteht aus bezahlten Anzeigen, selbst steuern sie nichts bei außer einer Kontonummer. Viel wichtiger war mir, dass eine ganz wunderbare Künstlerin den Beitrag völlig still einfach nur likte. Sie ist eine absolute Paper Art Könnerin, die ich sehr bewundere. Und dann weiß ich einfach nur: Ich bin auf dem richtigen Weg. Nicht, dass ich auf Likes viel geben würde, aber sie macht das extrem sparsam. Dann ist es für mich glaubhaft.

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist wichtig, sich immer wieder mal wie der Inspirational Manager ins flauschige Schnarchparadies zurückzuziehen, einfach mal nichts zu tun und sich beim Hinlegen öfter um sich selbst zu drehen. Auf sich selbst zu schauen: Was will ich, was ist mir wichtig? Welchen Weg mag ich dahin gehen und welchen nicht? Wenn Bilbo einer Wildschweinfährte folgt, lässt er sich von keiner Karotte der Welt ablenken.

So pappt nun ein Achtung-Schild vor meinem geistigen Auge: Kunst! Nur nicht von Flöhen ablenken lassen! Und für den Winter will ich mal in Angriff nehmen, mich in die komplizierten Gegebenheiten eines eigenen Shops einzulesen. Ich hab das bisher wegen des Risikos gescheut, aber ich will auch hier unabhängiger werden. Maßanfertigungen werden eh schon direkt bei mir bestellt, per Mailkontakt. Aber ich bemerke auch, wie schwer sich manchmal Menschen tun ohne Fotos und Vorstellhilfen, wie etwas ausehen könnte.

Es steht dann ohnehin eine Großbaustelle auf der Website an. Sie ist schon wieder veraltet und hat Macken. Zumindest eine Zentralseite muss mehrsprachig werden. Das Design steht schon im Kopf. Und da wäre ich dann bei einem anderen Projekt: Ich will wieder englisch schreiben.

Zufällig fielen mir vorgestern uralte Briefe in die Hände. Sie kamen von der amerikanischen Verwandtschaft, ich war etwa fünfzehn. Und wurde gelobhudelt, wie fließend ich englisch schreiben würde. Nun lobhudeln die Amerikaner gern, aber eine Cousine hat damals meine Briefe als Unterrichtsmaterial benutzt für Gleichaltrige - im Fach Englisch. Weil ihre SchülerInnen allesamt schlechter seien. Mir fiel dann wieder ein, wie ich in Warschau für eine amerikanische Zeitung gearbeitet hatte. Die lobhudelten nicht einfach, die druckten das Zeug ab. So fragte ich mich, wieso ich das alles habe brachliegen lassen außer dem Sprechen und dem bißchen Schreiben im Internet.

Ich werde dann, wenn die Zeit reif ist (äh, ich Zeit zum Installieren habe), ein zweites Blog aufmachen, auf Englisch. Soll's ruhig fehlerhaft sein, aber so komme ich wieder in Übung.

Die Pause ist zuende, es geht wieder ans Content Management System. Ich suche ja immer nach einer passenden Berufsbezeichnung, was ich da mache, mein Kunde hat das nun ganz nett so benannt: Das "Petra-Rundum-Sorglos-Paket". Eine Spezialität von mir.

Ach ja, falls jemand fragt, ob jetzt nicht die Sommerpause bei Facebook zuende wäre: Ich gehe da nicht mehr zurück. Ich bin weder süchtig noch sehe ich irgendeinen Sinn darin. Irgendwann blogge ich mal einen Abschlussbericht, der zeigen soll: Die Leute, die einem wichtig sind und denen man wichtig ist, verliert man nicht aus den Augen. Und bei allen anderen war's oft nur der Schein von Kommunikation. Man kann ja auch unmöglich Hunderten nahestehen. Es tut gut, weniger Kontakte zu intensivieren, aus der Oberflächlichkeit herauszukommen. An die Arbeit, allons-y!

12. August 2019

Precious Species - die Schmetterlinge

Es geht schon wieder um Schmetterlinge - oder vielmehr noch einmal neu. Einige werden vielleicht bemerkt haben, dass ich zwei Beiträge gelöscht habe - sie sind nicht mehr aktuell. Ich habe eben erfahren, dass ich am Donnerstag nicht am ländlichen Markt teilnehmen kann - der Brotjob geht vor. Das ist einerseits sehr traurig und kurzfristig, aber andererseits sind die Kunstwerke ja nicht verloren. Das nächste Weihnachten kommt bestimmt.

Die Paper Art Schmetterlinge sind auf sogenanntes Fabric Paper montiert, das ich von Hand herstelle. Es ist eine Mischung feinster Lagen Papier und Stoff. Für letzteres verwende ich Mullkompressen - hier mit weißem Seidenpapier verschmolzen. Bei anderen Schmetterlingen gibt es eine Lage alten Buchpapiers.


Ich möchte die Serie der Schmetterlinge darum trotzdem noch einmal kompakt vorstellen. Und erzählen, wie es dazu kam. Die meisten werden mitbekommen haben, dass sich im Moment all meine Tätigkeiten wohltuend auf meine ganz privaten Spezialinteressen zubewegen: die Natur mit allem, was kreucht und fleucht und wächst. Als Fachwissen im Brotjob für ein digitales Lern-Management-System eines großen Fachverlags, vom Leben her im Naturpark mit wunderbaren Wanderungen an der Seite des Inspirational Managers Bilbo. Schreibend: Ich führe privat ein paar Sketchbooks zu Naturthemen und schreibe hier Im Blog zum Thema Natur. Während beim Schmuck sich im Moment alles auf Maßanfertigungen konzentriert, habe ich meine Papierkunst erweitert auf Assemblage: Objekte hinter Glas oder in Schachteln und Dosen.

Der echte Bücherwurm - hier stimmt die lateinische Bezeichnung korrekt - lebt nun in allen Entwicklungsstadien hinter Glas: Ei, Larve, Vollkerf, nebst Nahrungssorten. Die Larve lebt von Buchpapier, der Vollkerf saugt Nektar aus Buchblumen.


Obwohl - oder gerade weil - ich derart privilegiert in einer noch intakt erscheinenden Natur in einem Naturpark lebe, mit vielfältigen wertvollen Biotopen, machen mir das Arten- und Insektensterben der letzten Jahre nicht nur zu schaffen, sondern manchmal regelrecht Panik. Ich kann das Schwinden jeden Tag bei meinen Wald- und Wiesengängen hautnah erleben. Ich weiß zu genau, welche Tiere und Insekten ich seit vielen Jahren überhaupt nicht mehr gesehen habe, obwohl sie in meiner Kindheit das Üblichste waren. Es zerreißt mich manchmal fast. Kunst ist für mich dann einerseits ein Mittel des Kraftschöpfens, vielleicht sogar des Überlebens, obwohl mir das zu theatralisch klingt. Aber ich bin immer auch auf der Suche nach einer Kunst mit Außenwirkung.

Mindestens die Form ist von realen Insekten abgenommen. Hier die Anfangsphase des Käferprojekts. Die Käfer müssen in alte Zigarettendosen passen, jede wird anders.


Mein Weg ist vielleicht ungewöhnlich, weil ich nicht mit drastischen Bildern oder Schock arbeite, keine politische Kunst mache. Ich persönlich denke, wir werden derart von täglichen Schockern in Social Media bombardiert, dass es nicht einfach ist, jenseits des Monumentalen dem noch etwas draufzusetzen, das sich nicht abschleift, sondern uns erweckt. Mir ist auch etwas anderes wichtig, das mir im Umgang mit der Natur bei so vielen Menschen abhanden zu kommen scheint: das Berührtwerden, die Gefühle. Ich schrieb bereits über die erschreckende Entfremdung.

Die Körper der Schmetterlinge entstehen aus Fundstücken, wie hier aus einem Rest glitzernden Geschenkbands. Für die Perlage verwende ich feinste Glasperlchen, maximal 2 bis 2,5 mm im Durchmesser.


Es gibt einen extremen Gegensatz zu den hässlichen Gefühlen, zu den Bildern von Untergang und Apokalypse genauso wie zu den Memen von Hass und Extremismus: Schönheit.

Das fertig gerahmte Bild mit den drei Schmetterlingen misst ca. 42 x 23 cm.


Als ich Anfang der 1990er im ehemaligen "Ostblock" in Warschau lebte, habe ich spürbar, erlebbar gelernt, dass die diktatorischen Systeme, egal ob von links oder rechts, Unterdrückung und Gleichschaltung auch dadurch erreichen, dass sie die Schönheit ausschalten. Sie ersetzen sie durch Pseudodekoration. Wer je unter dem Zuckerbäckerstil der stalinistischen Protzbauten stand und sich dann in die Massenplattenbauten mit den "Arbeiterkäfigen" bewegte, der spürt schon rein körperlich: Das ist Dekoration im Dienst der Macht, das sind Farben (oft fehlend) und Formen der Unterdrückung. Ich habe erlebt, was passiert, wenn in einem solchen Angstumfeld plötzlich Street Art KünstlerInnen Fassaden verändern, wenn Gärten und Parks wachsen. Schönheit wird oft belächelt, aber sie macht etwas mit uns. Echte Schönheit kann für solche Machthaber gefährlich werden, weil sie sich nur in Freiheit entfaltet, wild ist, unberechenbar. Sie bricht die gleichgeschalteten und ideologischen Ideale. So, wie sich die Schönheit in der Natur nicht darum schert, was den Menschen gefallen könnte. Sie entsteht nicht, um vor Instagram zu bestehen.

Legeprobe für einen Riesenschmetterling, Spannweite ca. 11 cm. Rahmen 23 x 18,5 cm. Er sieht jetzt schöner aus, montiert auf Fabric Paper aus alten Buchseiten, hinter Passepartout, in einem schwarzen Rahmen. Bestickt mit Preciosa-Perlen und Stickgarn.


So entstand die Idee zu den "Precious Species", auch "kostbare Arten" oder "espèces précieuses". Nicht für den Verkauf, sondern hoffentlich einmal für eine Ausstellung entstehen dabei die Paper Art Käfer in alten Zigarettendosen. Die Sammlungen alter Wunderkammern und kostbare Taschenreliquare früherer Jahrhunderte lassen grüßen.

Dose aus dem Käferprojekt, in dem ich auch kunsthandwerkliche Techniken alter Reliquare aufnehme. Hier ist es das sogenannte French Beading, eine Technik, mit der vor allem im 19. Jhdt. in Frankreich Blütenkränze hergestellt wurden.


Für den Verkauf habe ich die Pflanzen und Schmetterlinge entwickelt, die hinter Glas gerahmt werden als Objektbilder. Schmetterlinge gehören zu den Tieren, die fast alle Menschen mögen und kennen. Und die genauso vom Artensterben bedroht sind. Die eine Richtung der Serie orientiert sich am naturalistischen Aussehen, den echten Farben und Größenverhältnissen. Sie erscheinen nur leicht gebrochen dadurch, dass man ihnen das Papier ansieht, durchscheinende Buchstaben, Zeichnungen des Ursprungpapiers.

Die naturalistischere Serie zeigt Schmetterlinge in Originalformat wie diesen Zitronenfalter und den Aurorafalter, dazu Blüten und Pflanzen, deren Formen ich von Originalpflanzen abnehme. Jedes dieser Blätter ist also tatsächlich einmal gewachsen! Paper Art und Stickerei.


Die andere Richtung spielt damit, dass auch heute noch viele Spezies unentdeckt, vor allem aber unbenannt sind. Auch hier entsteht Schwund einer anderen Art: Immer weniger Geld wird heutzutage investiert, um seltene Arten zu erforschen, zu katalogisieren, zu benennen, öffentlich zu machen. Nicht umsonst werden auf diesem Sektor schon LaiInnen als NaturforscherInnen eingespannt. Es ist nur so: Was nicht benannt und bekannt wird, wird seltener geschützt. Wieder eine Art weniger, die wir gar nicht kannten? Es macht weniger Aufsehen als ein Pandabär. Keiner wird einer Art nachweinen, die er nicht kannte, oder? Was also geschieht in uns, wenn etwas benannt wird?

Schmetterlinge sind meist starke Kindheitserinnerungen. Die Stoffreste dieser Insekten stammen von einem Kleid, das ich als Kind trug. Stickerei mit Seide und narzissenfarbenen Glasperlchen.


Deshalb benenne ich meine Fantasieschmetterlinge wie bei einer naturkundlichen Schmetterlingssammlung. Die Namen spielen teilweise mit echten Schmetterlingsnamen, sind aber auch lateinische Anklänge an die neue Form, die Farben, meine Ideen. Eine neue Spezies ist da zu sehen und sie sollte wunderschön sein, hat die reale Form real existierender Schmetterlinge. Aber etwas ist anders: Die bunten Papiere, aus denen wir uns so gern eine heile Welt basteln würden, wenn wir nur könnten. Wir wickeln Geschenke in solche Muster, dekorieren damit Mädchenzimmer oder Glückwunschkarten ... Prächtig ausgestattet sind die Schmetterlinge auf der einen Seite: Alles, was ich als Mensch an intensiver Aufmerksamkeit diesem Papier widmen kann: wildes Sticken, Perlenstickerei, feinste Glasperlchen.

Wildes, intuitives Sticken hat nichts mit den akkuraten Stickmustern aus der Kindheit zu tun, aber viel mit Zeichnen und Malen. Es geschieht intuitiv, angeregt durch Formen und Farben des Untergrunds. Durchmesser der Perlchen 2 mm, Spannweite breiteste Stelle 6 cm. Gestickt wird mit extrem feinen Perlage-Spezialnadeln, denn die müssen samt Faden durch die Löcher passen. Als Kind habe ich Sticken gehasst, weil es akkurat sein sollte.


Das ist so aufwändig und groß wie das Staunen über die Natur selbst: Staunen über den Aufbau eines Schmetterlingflügels, seine Flugfähigkeit trotz der Zerbrechlichkeit, die Konzeption der Farben, der Zellen. All meine Energie in diese Flügel ... und dann kommt der Bruch. Auf dem anderen Flügel fehlt all das. Er wird überlagert von etwas, von Menschenwerk, von Buchpapier. Zu feinster Spitze geschnitten, ist es auch "schön". Aber es ist der Bruch: da hat der Mensch seine Spuren hinterlassen, aufgedrückt.

Manchmal ist der Bruch auch unsichtbar. Ich hüte seit meiner Kindheit ein Kistchen mit echter Stickseide, die mir eine damals schon sehr alte Frau schenkte. Sie war um die Welt gereist und hatte Glück: Ihre Fahrt mit der Titanic hatte sie einst verpasst, war stattdessen auf ein anderes Schiff gebucht. Wenn ich mit den äußerst empfindlichen Seidenfäden sticke, die sie damals aus den USA mitgebracht hatte, muss ich daran denken, dass wir uns wohl alle gerade in der Lage befinden, im letzten Moment wählen zu können: Wollen wir wirklich alle die vermeintlich bequeme, moderne, verführerische Reise auf der Titanic antreten oder wollen wir nicht gemeinsam an einem Schiff bauen, das uns Zukunft ermöglicht?


Die gleiche äußere Form, ein völlig anderer Typ. Die Papierspitze wurde aus einem Larousse-Wörterbuch geschnitten.

Viel herumgedacht an so wenig Papier. Es ist auch eher ein nachträgliches Nachdenken, denn die Stücke selbst entstehen sehr spontan und intuitiv. Und tatsächlich hat der Inspirational Manager Bilbo ebenfalls seine Pfoten mit im Spiel. Er führt mich auf Pfade, wo ich bestimmte Pflanzen beobachte, Schmetterlinge entdecke, Insekten bewundere. Die landen dann gezeichnet im Sketchbook, werden ausgeforscht und manchmal zu Prototypen. Und wenn es nur die Form ist, die ich von ihnen abnehme.

2. August 2019

Mann zittert vor Heuschrecke

Hier im Dorf gibt es jemanden, der wöchentlich seinen Rasen saugt. Die Kinder dürfen nur in den Garten, wenn makelloses Wetter über 18 Grad herrscht. Dass er damit das Bodenleben zerstört und Humus abträgt, will oder kann er nicht verstehen, trotzdem klagt er darüber, dass in seinem Garten alles eingeht, inzwischen sogar der Rasen. Die "Dreckspflanzen" sind seiner Meinung nach schuld daran. Und überhaupt, all das "Kroppzeug macht ja nur Dreck!". Sicherlich ein Extremfall, der Mann hat wahrscheinlich nicht nur einen Putzfimmel.



Aber ich begegne immer mehr Menschen, die Angst vor der Natur haben und sich in künstliche Räume zurückziehen. Ich muss es anders formulieren: Ich begegne diesen Menschen weder im Wald noch auf Wiesen.

Angefangen hat die Schieflage m.M.n. durch zwei Entwicklungen. Die eine kenne ich selbst: Wenn die Maisbauern hier mit Schmackes ihre Pestizide spritzen, meist sogar wider jedes besseres Wissen mit voller Abdrift, dann verrammle auch ich meine Fenster. Ich habe keinen Heuschnupfen, aber in diesen Zeiten eine übel schlimme Allergie. Die Landtierärzte berichten von zunehmenden Allergien bei Hunden und selbst Viehherden, die oft durch solche Felderlandschaften laufen. Unsere industrialisierte Landwirtschaft der heutigen Zeit lässt aufmerksame Beobachter tatsächlich Gebiete des Ackerbaus nicht mehr als segensreiche Natur empfinden. Es macht keine Freude, totgespritzte, blutrote Flächen oder Ackerrandstreifen mit chaotisch sich totwachsenden Wildkräutern zu sehen, die irgendwann als schwarze Leichen auf dem Boden rotten. Solche "Natur" weckt Ekel und Abscheu. Und viele Menschen vergessen dabei leider, dass es nicht die Natur ist, sondern das Pestizid, der betreffende Landwirt, das Turbosystem, dass uns die Billigstpreise garantieren soll. Wir Menschen machen das! Vor der Natur muss man sich nicht fürchten, wohl aber vor solcher Naturmanipulation.

Die andere Entwicklung in die Schieflage hat mit Bildung und Wissen zu tun. Ich weiß nicht mehr, wann das angefangen hat, dass Eltern ihren Kindern nicht mehr beibrachten, wie Blumen und Wildkräuter und Tiere heißen, wie schön sie sind, wie man gärtnert, wie nützlich sie sind. Dass man sie achtet. Aufgefallen ist es mir vor knapp 20 Jahren zum ersten Mal, als mich ein zehn Jahre jüngerer Mensch erstaunt fragte, was denn diese komischen gelben Blüten seien, die in seiner Wiese überall hochkämen. Das sehe zwar hübsch aus, aber sei doch bestimmt ekliges Unkraut, das er vernichten müsse.

Ich erklärte ihm damals, wie man Löwenzahn erkennt und was man alles Wunderbares damit machen kann. Wie nützlich er für Bienen und Käfer, für Insekten überhaupt sei. Und als ich ihm von meinem selbstgemachten Löwenzahnlikör anbot, verzichtete er zum Glück darauf, seine Freilandwiese zu spritzen. Seine Eltern, denen die Wiese gehörte, haben ihm als Kind nie auch nur eine Pflanze erklärt. Die Wiese war "Erbschaft", Besitz, ein Ding. Und heute? Dürfen Kinder mit Helikoptereltern noch unbeschwert in der freien Natur "herumdrecken"?

Irgendwann kam die Generation "Herz und Seele aus Stein". So stelle ich mir das jedenfalls vor, wenn man Steine statt Grün im Garten "pflanzt", also noch nicht mal Sandwüste züchtet, sondern Schotterbetten - Geröll als Selbstausdruck. Ganz besonders extrem empfand ich das im nahen Städtchen. Da gab es an der Hauptstraße ein wundervolles wildes, buntes Blumenbeet im Gehsteig. Kinder hatten Holzbienen und Schmetterlinge hineingesteckt, um den Passanten zu erklären, dass dies eine Bienenweide sei. Endlich. Es war das Prachtvollste an Straßenbegrünung, das es im ganzen Ort gab - und es war richtig professionell gemacht, mit echten Wildbienenleckereien der Region.

Im nächsten Frühjahr freuten wir uns schon auf die neue Blüte. Aber es kam ein Kleinbagger, der trug die Erde ab. Arbeiter breiteten die obligatorische Kunststofffolie aus, die verhindern soll, dass auch nur das kleinste Fitzelchen von unten nachwächst. (Die gleichen Leute regen sich manchmal über Plastikmüll in den Weltmeeren auf). Der Bagger schüttete spitzen, kantigen Schotter aus China darauf; Gestein, das weder von der Farbe noch vom Material her in die Region mit den rosigen Sandsteinfelsen passt. Aber es ist billig, weil China - und man trägt nun überall grau. Ich musste an die grauen Herren in Michael Ende "Momo" denken. Die schwatzten den Menschen auf, sie könnten Zeit sparen, wenn sie sich ihnen unterwürfen:
Während sie versuchen, Zeit zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben und das Schöne im Leben zu genießen. Die Welt wird kalt.
Die grauen Steingärten müssen von den grauen Herren der Zeitbank erfunden worden sein, keine Frage!

Aber all das sind nur Symptome eines wachsenden Missstandes: Immer mehr Menschen haben keine Ahnung mehr von Natur. Während wir von Artenvielfalt reden und vom Insektensterben, wissen sie nicht einmal, was eine "Art" ist und könnten auch keine bestimmen. Insektensterben erscheint ihnen als etwas Nützliches: Die Windschutzscheibe bleibt sauber und auf der Terrasse muss man nicht mehr so viel "Dreckzeug" vernichten. Auch darum wird Gartenarbeit von so vielen als nicht mehr zuträglich empfunden. Es könnte ja ein winziges Insekt hochfliegen. Insekten könnten einen stechen, annagen, zwicken. Manche bekommen schon Panik, bevor sie überhaupt eines sehen.

Die Zusammenhänge sind nicht mehr klar. Wenn ich Menschen vom Bodenleben erzähle, schauen sie mich manchmal an, als sei ich irre. Boden - ist das nicht diese cleane, desinfizierte oder supererhitzte Erde aus dem Plastiksack? Ist ja eklig, was da alles im Boden kreuchen und fleuchen soll! Denn Bodenleben besteht aus Flora und Fauna, aus Pilzen, Algen, Ein- und Wenigzellern - also auch Bakterien. An der Stelle beginnen manche, sich unwillkürlich zu kratzen.

Warum hat diesen Menschen noch nie jemand erklärt, dass ein intaktes Bodenleben im Gleichgewicht überlebenswichtig für die Menschheit ist? Nur dann ist ein Boden wirklich fruchtbar und gesund. Aber Bakterien finden sie eklig. Ob sie wüssten, dass auch sie nicht nur aus "Mensch" bestünden, sondern eher wie ein Planet von "Aliens" besiedelt seien, die man das Mikrobiom nennt? Staunen. Denn ohne das Mikrobiom, diese fantastische Mischung aus Mikroorganismen, die vor allem unseren Darm, aber auch die Haut und Schleimhäute besiedeln, wären wir nicht lebensfähig. Unsere "Mitbewohner" halten uns gesund und am Leben. Die Mikrobiomforschung boomt nicht nur, weil sie spannend ist und viel über dieses Ökosystem in unserem Körper herausfindet. Sie ist wichtig, weil auch hier, in unserem Inneren, die Artenvielfalt abhanden kommt!

Unwillkürlich kommt einem der Gedanke über die Parallelen von Mikrokosmos und Makrokosmos, wie sie die frühen Alchemisten und die Forscher der Renaissance dachten.

Wie geht einer mit seinem inneren Mikrobiom um, der in der Natur jegliche Mikroorganismen am liebsten ausschalten würde? Zum Glück brauchen wir heute keine Esoterik, um Zusammenhänge zu erklären, Wissenschaft kann das oft viel faszinierender. Da haben gerade WissenschaftlerInnen der Uni Graz Äpfel auf ihr inneres Mikrobenleben untersucht und festgestellt, dass ein Apfel etwa 100 Millionen Bakterien enthält, Bioäpfel übrigens in größerer Artenvielfalt. Und ausgerechnet diese Mikroben helfen unserem inneren Mikrobiom auf die Sprünge! "An apple a day keeps the doctor away", ein Apfel am Tag hält gesund - ein uraltes englisches Sprichwort, das plötzlich einen neuen Sinn bekommt. An dieser Stelle staunt der Mensch wahrscheinlich, der eben noch sein Bodenleben vernichten wollte. Er beginnt, die Erde in seinem Garten mit neuen Augen zu betrachten. Denn in der steht sein Apfelbaum, aus der ernährt er sich.

Zusammenhänge werden deutlich. Vor allem aber: verstehbar!

Und dann ist da die Meldung, die mich gestern fassungslos gemacht hat, weil sie in diese Reihe der irrationalen Naturängste passt. In Baden-Baden hat ein Mann die Polizei gerufen, weil er sich bedroht fühlte. Bei akuter Bedrohung ist das ein richtiger Schritt.

Die Bedrohung saß in seinem Schlafzimmer. Nicht etwa ein Einbrecher. Auch kein potentieller Mörder. Es sei "hereingeflogen" erklärte er, wohl eine Spinne. Dass Spinnen nicht fliegen können, hat dem Mann wohl nie jemand erklärt. Und dann sprudelt die Angst aus ihm, es könnte doch eine eingeschleppte Spinne sein, eine ganz gefährliche. Man möchte fast ergänzen: Man liest ja so viel von so etwas! Sensationsnachrichten aus der Tierwelt verkaufen sich gut, vor allem, wenn sie einen Ekel- oder Bedrohungsfaktor haben!

Möglich, dass die Polizisten innerlich feixen mussten. Vielleicht hätten sie an diesem Nachmittag auch Wichtigeres zu tun gehabt. Aber natürlich helfen sie, müssen sie helfen, nehmen die Menschen ernst. Im Polizeibericht muss launig gestanden haben, die Polizisten "setzten das Tier wieder auf freien Fuß", denn das zitieren alle Presseberichte so. Das Tier war weder mysteriös noch gefährlich, sondern eine völlig harmlose "Heuschrecke". Zur Ordnung Heuschrecken oder Orthoptera zählt auch das wunderschöne heimische Grüne Heupferd, das Hitze und Trockenheit liebt.

Was kann man tun? Der Mann hatte Angst vor einem schönen Tier, das wir als Kinder immer bewundert und beobachtet haben. Er hatte Angst vor dem "Fremden", das in seine Welt eindringt, das er nicht zu definieren weiß. Es fühlt sich feindlich an, invasiv. Und wie so vieles, was in unserer hochkomplexen, unübersichtlichen Welt zum Sündenbock gemacht wird, kommt es in seinen Augen als "Fremdes" von Außen. Parallelen zu anderen gesellschaftlichen irrationalen Ängsten, die man herrlich schüren kann, sind sicher nicht zufällig, sondern Ausdruck einer Denkweise unserer Zeit.

Die Menschheit erlebt eine unwahrscheinlich tiefe Spaltung. Viele von uns erleben sich selbst nicht mehr als Natur, als Bestandteil der Natur, als natürlich. Aber wir optimieren uns ja auch längst von der Natur weg. Und da können leider auch Fridays for Future oder fröhliches Aussähen von Bienenweidesamen in der Gruppe nicht darüber hinwegtäuschen, wie viele Menschen entfremdet sind, wieviele kein Wissen mehr um die Zusammenhänge haben. Natur wird als beherrschbar gedacht.

Ich mache mir im Naturpark, weil es hier im Gespräch besonders extrem auffällt, viele Gedanken darum, wie man gegensteuern könnte. Die Naturparkverwaltung versucht das über die Schienen spielerischen Lernens, sozialen Miteinanders und vor allem: über das Fühlen. Diese Veranstaltungen sind schnell ausgebucht, das macht Hoffnung. Die Menschen haben einen immensen Hunger nach solchen Erlebnissen.

Vor allem das Fühlen ist ein großer Faktor, den wir gar nicht wichtig genug erachten können. Menschen, die Natur als "Außen", als schmutzig oder bedrohlich empfinden, berühren sie nicht. Und sie lassen sich selbst also auch nicht berühren.

Der Mann, der anfing, über das Bodenleben zu staunen, nahm vorsichtig und fast ängstlich eine Handvoll Erde, fühlte sie, zerkrümelte sie. Eine Ameise rannte weg, Winzigkeiten bewegten sich in seiner Hand. Lernen, Wissen und Fühlen schließen sich nicht aus. Einem Kind würde man jetzt ein Mikroskop in die Hand drücken, um jenen Mikrokosmos zu entdecken, der seinen Apfelbaum versorgt, bis die Mikroben in den Äpfeln sein Mikrobiom nähren.

Es gibt kein Happy End. Die Berührung war wohl nicht nachhaltig genug und er saugt weiter. Ein wenig hält er Abstand vom Stamm seines Apfelbaums, immerhin.

Aber ich mache mir weiter Gedanken, wie man naturängstliche oder einfach nur unwissende Menschen erreichen und berühren kann mit Natur. Ich warte noch auf die richtige Eingebung, wie ich das mit einem künstlerischen Workshop erreichen könnte ...