The Day After

Auf dem Foto ist ein Teil meiner Familie in den USA zu sehen, die das Schicksal vieler europäischer Emigrantenfamilien teilten: Entweder mussten sie irgendwann aus ihrer Heimat fliehen, wegen Verfolgung, wegen Unfreiheit oder Krieg - oder sie gingen freiwillig, um bitterster Armut und Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Für sie bedeutete das etwas, womit ich als Kind regelrecht geimpft wurde: The American Dream. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und schier endlosen Freiheit, in dem jeder etwas werden konnte. Manchmal sogar, wie der Tellerwäscherspruch lautete, Präsident.


Diejenigen, die es bis nach Ellis Island schafften, nahmen viel auf sich, auch die Demütigungen der Emigranten. Erst kürzlich habe ich die inzwischen freigegebenen Schiffspapiere online einsehen können, die eine beredte Sprache sprechen von den Untersuchungsprozeduren. Der Augenuntersuchung, dem Griff in die Zähne wie beim Sklavenmarkt, um den begehrten Stempel zu bekommen, der einen von denjenigen schied, die zurück aufs Schiff verfrachtet wurden. Mich hätten sie damals nicht genommen, ich sehe zu schlecht. Diese Emigranten haben an den American Dream geglaubt und durchgehalten, obwohl das gelobte Land alles andere als Milch und Honig bereit hielt. Die Leute auf dem Foto haben es schon zu einem gewissen Wohlstand gebracht, durch Maloche auf einer Farm oder in den Fabriken Ohios. Sie haben auch die Weltwirtschaftskrise irgendwie überlebt.

Dem Teil der Familie, der in Europa verblieben war, galten sie als Vorbild. Schaut, was der Mensch schaffen kann! Er kann beengten und auch lebensgefährlichen Situationen entgehen und in völliger Freiheit leben, bei unveräußerlichen Grundrechten. Er kann diese Werte hochhalten und verteidigen: Freiheit, das Recht auf ein Streben nach Glück, Gleichheit aller und doch auch Individualismus. Demokratie vor allem. Der Preis, der dafür zu zahlen war, hieß Leistung. Der Self-made man als Vorbild. Wer sich anstrengte, wer genügend arbeitete, dem standen theoretisch alle Türen offen. Auch wenn das eher Ideal und Traum als Realität für sämtliche Bevölkerungsschichten war. Die wenigen Ausnahmen, die es schafften, trieben das System der Hoffnung an.

Und sie schafften es auch irgendwie. Eine Familie briet jahrelang in körperlicher Selbstaufopferung massenweise Hamburger in einem kleinen Verschlag und verkaufte American Icecream - irgendwann konnten sie als Pächter ein großes Flughafenrestaurant übernehmen. Einer der Fabrikarbeiter, Stahlarbeiter, war so kreativ, dass man ihn ein Kirchenportal in Detroit gestalten ließ. Die Kinder und Enkelkinder schwärmten aus ins ganze Land - an die Universitäten. Deren Kinder und Kindeskinder wählten zum Großteil Donald Trump.

Diesen Leuten wirft man heute alles Mögliche vor: dass sie knalldumm seien, unberechenbare Wutbürger, Primitivlinge, Verblendete. Letzteres ja. Aber der Rest? Ich würde sie eher als verletzte Kinder sehen, die aus einem Nest von Illusionen gefallen sind. Menschen, die seit Jahrzehnten bereits hohl gewordenen Träumen nachjagten. Die Ent-Täuschung war nur eine Frage der Zeit.

Angefangen hat das in meinen Teeniejahren, als ich noch fleißig Briefe in die USA schrieb. Ich staunte über das mangelnde Wissen über Europa, aber es erschien mir logisch: Eine Weltmacht konnte es sich leisten, sich nur um die eigenen Achse zu drehen. Es passierte die erste Katastrophe in der US-Familie: Chemieunfall im Werk, viele Arbeitnehmer verletzt, beeinträchtigt. Die meisten gezwungenermaßen nicht in der Gewerkschaft, krankenversichert keiner. Und so habe ich praktisch zuschauen können, wie eine Familie alles verlor, was ihren American Dream ausmachte. Zuerst das Haus, um die Arztrechnungen bezahlen zu können. Unvorstellbar in dem Sozialstaat, in dem ich damals lebte.

Es gingen weitere Jahrzehnte ins Land und es wurde schlimmer. Ich weiß nicht, ob jene Kirchentür jenes Onkels noch steht, denn weite Teile der gelobten Stadt Detroit sehen heute aus wie nach einem Krieg, wie in einem Dritte-Welt-Land. Wo meine Familie einst stolz ihre Häuser errichtete und tolle Jobs fand, sind heute nur noch Zerfall, Armut, Arbeitslosigkeit, kaum Bildungschancen, Kriminalität übrig - wer kann, ist längst geflohen. American Dream? Eher American Horror Story. Nur etwas ist seltsam: Dieser langsame Untergang begann in genau der Zeit, als meine Familie dort am meisten träumte: in den 1950ern. Seither: Versäumnisse. Bei Regierungen, Gewerkschaften, Autofirmen, den Bürgern selbst, dazu der Druck des globalen Wettbewerbs. Und niemand wollte oder konnte aufwachen.

Keiner hat den Traum umgeträumt. Keiner hat gesagt: Stop, haltet mal kurz an, da stimmt mit unserer Art des Wirtschaftens etwas nicht. Auch nicht nach der Immobilienkrise, der Finanzkrise, als sich für immer mehr Menschen das Leben tatsächlich nicht mehr wie in einem fortschrittlichen modernen Industrieland anfühlte. Illusionen wiegen oft schwerer als die raue Wahrheit. Und ein völlig neuer Traum in einer globalisierten Welt, in dem man vielleicht das Teilen hätte neu lernen müssen? Man war fromm, oft zu fromm, nämlich fundamentalistisch. Dann hat man selbst in kirchenfernen Kreisen einen wie den Messias gefeiert, der alles richten werde. Aber Obama wurde durch die Republikaner immer wieder ausgebremst, verlor seinen Nimbus am Tagesgeschäft. Wie hätte auch ein einziger Präsident allein richten können, was seit Jahrzehnten schief lief?

Ich versuche auf diese Weise, zu verstehen, zu begreifen. Auch diejenigen in meiner Familie, die jetzt den Abgrund gewählt haben, sind alles andere als dumm. Die wenigsten fuchteln einem wie im schlechten Krimi mit der Waffe vor der Nase herum. Die meisten sind müde. Verwirrt. Orientierungslos. Viele von ihnen haben Angst. Manchen von denen macht es Angst, dass sie nicht einmal benennen können, was genau ihnen Angst macht. Da zecken sich die Populisten an. Die Leute, die noch können, klammern sich an ihren alten 1950er Traum, geben weiter ein Vermögen für Abschlussballkleider aus und träumen von intakten Familien, die es nicht einmal mehr in Fernsehserien gibt. Sie schotten sich ab, weil alles, was anders ist, was fremd ist, was von dieser quirligen Welt da draußen kündet, die sie nicht mehr berechnen können, verunsichert, Angst macht. Weil niemand sie gelehrt hat, mit Offenheit umzugehen. Weil fundamantalistische Prediger ihnen schon lange jenen anderen Traum herausgepeitscht haben, den Amerika auch einmal hatte: Unity in Diversity. Gemeinsam sind wir stark, aber nur in unserer bunten, individuell unterschiedlichen Mixtur, die auch das vermeintlich Fremde annimmt.

Längst habe ich keinen Kontakt mehr zu den Verwandten, weil mir jenes Denken bald zutiefst fremd war. Weil mir dieses "Ich bete für dich, auf dass du erkennen mögest" so fürchterlich auf den Nerv ging. Ich glaubte, wenn ich mich von all dem fernhielt, müsste ich mich nicht mehr damit auseinandersetzen. Als Deutsche hätte ich Amerika ohnehin nichts zu sagen. Oder vielleicht doch?

Einer jener ausgewanderten Onkels war bei der Befreiung Deutschlands von Hitler und den Nazis dabei. Und er hat uns als stolzer Amerikaner eingeschärft, was seine Familie in Europa so bitter lernen musste: "Wehret den Anfängen. Nie wieder Faschismus! Schützt und pflegt die Demokratie, denn deren Freiheit ist euer höchstes Gut."

Er ist längst gestorben und Nachkommen von ihm haben heute Nacht den großen Abgrund gewählt. Unbegreiflich. David Remnick hat heute im New Yorker alles gesagt, was gesagt und gehört werden muss, in einem großen Kommentar, in dem es u.a. heißt: "That the electorate has, in its plurality, decided to live in Trump’s world of vanity, hate, arrogance, untruth, and recklessness, his disdain for democratic norms, is a fact that will lead, inevitably, to all manner of national decline and suffering."

Sie haben sich instrumentalisieren lassen. Haben den schnellen Emotionen nachgegeben, anstatt Energie in die Arbeit des Verstandes zu stecken, den sie alle haben. Sie wollten und wollen von etwas träumen und sind Versprechungen und Illusionen, ja dreisten Lügen auf den Leim gegangen. Ich bin fassungslos und eigentlich sprachlos wie viele meiner Freunde, zumal dieser Abgrund in der eigenen Familie klafft. Und auch ich habe Angst.

Angst, weil all das längst in Europa an der Tagesordnung ist. Auch uns hat das Wirtschaftssystem in seiner modernsten Ausprägung des Börsenzockens und der wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten geprägt und wir retten weiter fleißig lieber Banken als Menschen. Man gibt sich streng mit Ländern wie Griechenland, das uns einiges vom Hals hält, obwohl dort so viele so verzweifelt sind, dass sie öfter als zuvor den Freitod wählen. Man schweigt Bewegungen wie Nuit Debout im eigenen Land tot, obwohl dabei inzwischen auch Wissenschaftler und Ökonomen an Zukunftskonzepten herumexperimentieren. Auch unsere Gesellschaft ist zutiefst gespalten, redet nicht mehr wirklich miteinander. Statt Fakten zu suchen, gibt man sich "postfaktisch" - die Lüge beruhigt oder putscht auf, die Lüge schafft Emotionen. Und das ist es, was manchen Menschen das Gefühl gibt, endlich wieder lebendig zu sein: Je extremer die Emotion, desto besser.

Wann sind wir zu einer Gesellschaft geworden, die sich selbst verletzt? Die sich lustvoll in den eigenen Arm schneidet, nur um endlich mal wieder etwas zu spüren in einer Ellenbogenwelt, in der diejenigen am weitesten kommen, die am wenigsten spüren? Individuelle Spiritualität ist oft zur Lachnummer verkommen, menschliche Werte werden von sogenannten christlichen Parteien zur Leitkultur zerschreddert, der alte faschistische Traum von der "reinigenden Übergangsphase", vom Zusammenbruch vor der "Erneuerung" wird selbst bei Linksintellektuellen hoffähig. Man kann sich doch so trösten, sagte mir heute einer.

Nein. Die Zeit des Trostes ist vorbei. Meine Vorfahren, die mit dem Dampfer in die Freiheit fuhren und auf Ellis Island landeten - die durften sich trösten, der Verfolgung entkommen zu sein. Weil aber ihre Nachfahren denselben gefährlichen Kräften auf den Leim gehen, heißt es nun, wachsam zu sein, sich zu engagieren für das Gute. Wir können bei Facebook mit Populisten nicht mehr diskutieren? Warum leben wir nicht einfach in der gleichen Zeit vor, wie man auch Mensch sein kann: in Mitmenschlichkeit, in Solidarität. Warum nutzen wir unsere Energien so wenig in positiver Weise: als Vorbild vielleicht? Indem wir nach Lösungen suchen, anstatt uns in Konfrontation aufzureiben? Ja, man muss das Schlimme benennen und Stellung beziehen! Aber der American Dream, wie er in meiner Kindheit noch lautete, setzte darauf die Handlung. Eben nicht nur reden, debattieren, kommentieren, sondern machen. Sich engagieren. Etwas tun. Den Hintern hochkriegen. Aus den Pantoffeln schlüpfen ins echte Leben da draußen.

David Remnick schreibt etwas, wo sich der American mit dem European Dream trifft, wo wir gar nicht so weit voneinander entfernt sind: "Late last night, as the results were coming in from the last states, a friend called me full of sadness, full of anxiety about conflict, about war. Why not leave the country? But despair is no answer. To combat authoritarianism, to call out lies, to struggle honorably and fiercely in the name of American ideals—that is what is left to do. That is all there is to do."

Ich finde keine besseren Worte, denn noch bin auch ich fassungslos und wie gelähmt. Dieser Beitrag ist lediglich ein stümperhafter Versuch, die eigenen Verwirrungen zu sortieren, indem ich laut nachdenke. Ich weiß nur eins: Gräben haben wir genug geschaffen. Wir haben aber auch diese Ideale, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Demokratie. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Jener amerikanische Onkel, der mit anderen gegen Hitler gekämpft hatte, hätte dies auch dann getan, wenn er gewusst hätte, dass seine Kindeskinder den Abgrund wählen würden. Dann erst recht.

PS: Ein interessanter englischsprachiger Artikel in Le Monde Diplomatique versucht politisch zu analysieren, worüber ich hier im Kleinstgefüge nachdenke.

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2 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    dieser Kommentar war das Beste, was ich in den beiden letzten Tagen gehört habe -und ich kann ihm auch nichts hinzufügen.

    Herzlichst
    Christa

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