Kartenzauber oder Philosophie?

Ein Thema, das mit Autorenschaft scheinbar nichts zu tun hat - aber ich bin nicht nur fasziniert von Druckwerken mit Schrift, sondern auch von Bildern etwa auf uralten Kartenspielen. Keines hat über die Jahrhunderte so viele Künstler inspiriert wie das Tarot, dessen Karten sowohl für ein weltliches Spiel namens Tarock genutzt wurden wie fürs Wahrsagen. In Frankreich gehört das Spiel mit dem weltberühmten "Marseiller Tarot" zum Kulturgut - und so konnte ich mich nicht zurückhalten, vor Jahrzehnten die Reproduktion der Nationalbibliothek von dessen ältester Ausgabe zu erstehen: das sogenannte Tarot des Jacques Vieville, der zwischen 1643 und 1664 "maitre cartier" in Paris war.

Tarot Jacques Vieville (links), 17. Jhdt., Reproduktion
Dementsprechend neugierig stürzte ich mich gestern auf eine Sendung bei ARTE (noch 7 Tage in der Mediathek): Geheimnisvolles Tarot aus Marseille. Sie versprach wohltuendes Fehlen von esoterischem Klimbim und eine heiße Spur des Ursprungs dieser Karten in der Kunstwelt um Botticelli und die Medicis:

"Die Quellen stammen von Grafiken und Texten aus den Schriften des bekannten Humanisten Marsilio Ficino. Er gehörte zu den von Lorenzo I. de‘ Medici geförderten Persönlichkeiten der Renaissance. Ficino war Übersetzer von Platons Werken, aber auch Priester, Astrologe und Zauberer."
Kurzum - um Botticelli sollte es gehen und um neuplatonische Philosophie.
Anfangs war das auch richtig spannend, wenn der "Tonteppich" nicht permanent genervt hätte (Maschinenlärm ließ grüßen). Die beiden französischen Autoren suchten zunächst folgerichtig im Spielkartenmuseum von Paris nach den Ursprüngen des sogenannten Marseiller Tarot, das natürlich nicht nur in der Hafenstadt hergestellt wurde. Sie sahen sich Einzelheiten an und gingen auf Reisen. Man kennt das von gewissen Dokusendern: Irgendwelche Archäologen haben ein unscheinbares Steinchen gefunden und nehmen die Fernsehzuschauer auf lange und aufwändige Reisen mit, die man geheimnisvoll bis gefährlich oder auch nur als Hindernislauf inszeniert, bis dann im Schlusssatz gesagt wird, was das für ein Steinchen ist. Und natürlich war der Laie baff, als man ausgerechnet in Ungarn vor einem Botticelli zugeschriebenen Fresco stand, auf dem eine Figur den gleichen Hals hatte wie die von der Spielkarte. Trara! Heureka!

Dumm nur, dass die vollmundige Behauptung, das ungarische Fresco stamme von Botticelli, von der im Film gezeigten Restauratorin und einer mit ihr arbeitenden Kunsthistorikerin bereits 2007 aufgestellt wurde, in der Fachwelt jedoch längst völlig umstritten ist und abgelehnt wird. Kein Wort davon im Film. Die Figur auf dem ersten Bild in diesem kritischen Artikel ist laut Filmautoren angeblich deckungsgleich mit der Temperanza, der Mäßigung, im Marseiller Tarot - der Artikel widerlegt jedoch schon die Botticelli-These um das Fresco.

Allzu genau durfte man nicht hinschauen, die Sache mit dem Hals war zwar erstaunlich, aber der Rest des Körpers ... nur mit Fantasie machbar. Warum sollte ausgerechnet Botticelli Tarotkarten entworfen haben? Wäre es nicht viel logischer gewesen, jemand hätte Botticelli nachgeahmt, weil der zu jener Zeit gerade in Mode war? Nein, kritisch prüfte man die Fakten nicht, man wollte ja schnurstracks bei den Medici in Florenz landen.

In dem Moment schüttelte ich dann nur noch den Kopf. Was sollte daran alles so geheimnisvoll und erst jetzt aufgedeckt worden sein? Die meisten Menschen, die sich für Tarotkarten interessieren, kennen doch längst die Ursprünge des Spiels in Norditalien! Die Pariser Nationalbibliothek hatte die Originale in einer großen Ausstellung 1984 gezeigt, Spielkartenhersteller haben seither wunderschöne Repliken auf den Markt gebracht. Wie konnte das den beiden Filmemachern ausgerechnet im Pariser Spielkartenmuseum entgangen sein?
Warum haben sie die anderen italienischen Ursprünge einfach nicht beachtet, die so vielfältig wie längst bekannt sind:

Florentiner Minchiate-Tarot (seit 1543 belegt)


Kartenspiel 15. Jhdt. mit französischen Notizen


Das legendäre Tarot der Familien Visconti und Sforza, seit 1370 belegt

Zugegeben, es war absolut verführerisch und eingängig, in den Darstellungen des Marseiller Tarot die Beschreibungen eines Marsilio Ficino wiederzufinden, der im Kreise der Medici mit anderen Gelehrten und Adligen an einer neuplatonischen Akademie teilnahm. Insofern erschien es auch nur allzu logisch, in dem Spiel pädagogische Lehrkarten sehen zu wollen. Als der Textfund numerologisch und astrologisch wurde, brach die Dokumentation ab. Man wollte ja nicht "esoterisch" werden. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen, was da noch kommen konnte, verschämt auszublenden: In jener Zeit war es keineswegs esoterisch, sondern an der Tagesordnung, sich mit solchen Traditionen und der Alchemie obendrein zu beschäftigen. Wer die Karten verstehen will, darf die Geistesgeschichte der Renaissance nicht ausblenden. Vor allem aber wäre es sehr viel spannender gewesen, die viel älteren Ursprünge des Tarot zu untersuchen.

Der schillernde Ficino aus dem 15. Jahrhundert war nicht nur Humanist und Philosoph, sondern übersetzte vor allem Platon und schrieb medizinische Abhandlungen, er machte sich sogar der Häresie verdächtig. Zauberer, wie vollmundig im Pressetext behauptet, war er jedoch nicht - das haben erst Esoteriker unserer Zeit aus dem Forscher gemacht. Fast mehr als in der Sendung erfährt man über ihn in der Wikipedia. Dass man wortwörtliche Übereinstimmungen zwischen seinen eigenen Texten über Platon und den Karten finden kann, ist gewiss eindrücklich. Aber warum haben die Autoren kein einziges zeitgenössisches Kartenspiel aus Italien damit verglichen, warum schürften sie nicht in anderen neuplatonischen und antiken Texten? Warum schauten sie nicht genauer hin, welche anderen Geistesströmungen sich im Tarot niedergeschlagen haben: aus der mittelalterlichen Astrologie, Alchemie und Numerologie, der jüdischen Kabbala und selbst arabischen Traditionen? Wenn Ficino und sein Kreis das Tarot tatsächlich im 15. Jhdt. als pädagogisches Lehrspiel erfunden hätten ... warum sieht dann das norditalienische Tarot aus dem 14. Jahrhundert fast genauso aus? Da konnte doch nun Botticelli wirklich nicht mitgemalt haben, das war hundert Jahre vor seiner Zeit.

Hätte man die Doku nicht mit Scheuklappen gedreht, wäre das Ergebnis recht lapidar: Ein Spiel, das viele Geistesströmungen der Antike und des Mittelalters absorbiert hatte, musste zwangsläufig in der Renaissance eine Blütezeit erleben. Aber es ist älter, mindestens hundert Jahre älter.

Wunder über Wunder mangelnder Recherche. Und so kam es, dass in einer Sendung, die Esoterik aussparen wollte, ziemlich esoterischer Quark gestampft wurde. Schade, denn ein echter kunsthistorischer Vergleich und Blick in die Geistesgeschichte hätte so spannend werden können. Ich werde mir jetzt eine Lupe suchen und auf meinem Zwergentarot nach Botticelli'schen Schwanenhälsen fahnden!

PS: Eben erst entdeckt - in der französischen Wikipedia wird die Reihenfolge der Auslegung von Ficino genau gezeigt: hier klicken. Das wurde im Film als ach so geheime, eben erst durch die Autoren entdeckte Sensation präsentiert ...

Zwergentarot: Das kleinste Tarot der Welt (Vergleich: normale Karte)

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