Das Geheimnis des Bezauberns
"Storytelling" ist in aller Munde. Auch der kleinste Werber glaubt heutzutage, dass er unwiderstehliche "stories" in die Welt setzt, wenn das hochpolierte Auto nur durch die richtigen Landschaften düst. Und in der Folge glauben dann alle, die Social Media nutzen, dass man nur genügend Geschichtchen erzählen muss, damit einem die Leute atemlos folgen. Da ist natürlich etwas dran: Man folgt lieber witzigen Twitterern als denen, die täglich in grauer Routine erklären, wann sie Toilette und Dusche benutzen. Und man hat diese ewigen Fressbilder bei FB am schnellsten satt, wenn sie aussehen, wie schon mal gegessen, und sich nicht wirklich von anderen unterscheiden ... wenn also keine "story" dahinter steckt. Und so pappt man einfach ein Foto mit Botschaft in den virtuellen Raum ... im realen Raum abfotografiert, aufgepeppt mit "story" - mit welchem Effekt?
Gogol hätte womöglich die Nase gerümpft. Der schaffte nämlich eine ganz andere Magie: Er hat "einfach nur" Text verfasst, nämlich die Geschichte von einem Mann, der seine Nase verliert, und einem anderen, der zur Nase wird. Und diese verrückte Erzählung ist so eng mit dem realen Sankt Petersburg seiner Zeit verknüpft, dass man sie ihm einfach abnehmen muss und hineinschlüpft in diese Stadt, die Nase förmlich eine Kutsche besteigen sieht. Wer diese Erzählung liebt, wird die Bilder im Kopf nie mehr los, und seien sie noch so surreal. Sie würden sich bei einem Besuch im Handlungsort womöglich sofort wieder melden!
Nun haben ganze Generationen von Literaturwissenschaftlern versucht, das Rätsel zu lösen, das uns so rückhaltslos in Geschichten fallen lässt, so dass wir die Welten von Büchern fast real erleben. Ich werde den Teufel tun, dieses Geheimnis ebenfalls lösen zu wollen. Die einen Schriftsteller können es einfach und manche Autoren werden es nie richtig lernen. Weil man es nicht komplett lernen kann, niht künstlich erzeugen. Es hat viel mit der eigenen Haltung und Authentizität, den eigenen Leidenschaften und Begeisterungen zu tun.
Mich interessiert dabei ein anderer Aspekt - denn eine ähnliche Bezauberung erlebe ich im Theater. Ich wollte wissen: Was würde passieren, wenn man Geschichten nicht mehr in Büchern erzählt, auch nicht in Social Media, sondern im realen, dreidimensionalen Raum? Sozusagen "back to the roots", wie der Urmensch am Lagerfeuer? Wie würde hier "Bezauberung" funktionieren? Wollen die überkommunikativen Menschen von heute überhaupt noch Geschichten hören? Was macht es mit den Geschichten, wenn sie aus Buchdeckeln und Readern befreit werden ... in die frische Luft, den Straßenlärm, die Hetze einer Stadt?
Nichts ist öder als die herkömmlichen Stadt- und Museumsführungen, wo irgend wer wie eine Wikipedia auf zwei Beinen unaufhörlich schlauschwätzt und mit möglichst vielen Jahreszahlen um sich wirft. Ich konnte und wollte solchen Leuten schon als Kind nicht folgen: Da stand dieser magisch wirkende Gegenstand in einer Vitrine und schrie förmlich nach einer lustvollen Beschreibung und interessanten Geschichten ... und dann musste ich mir im Leierton anhören, dass der Soundso II. das Ding am 24. September Siebzehnhunderttobak gekauft hatte, um es am 25. seiner Frau zu schenken. Warum nicht erzählen, was der Soundso für ein Mensch war, wie seine Ehe lief, warum er seiner Frau ausgerechnet das Ding schenkte und warum er es so spät einkaufte? Und vielleicht steckte hinter dem Ding auch noch eine Geschichte? Oder noch besser: Vielleicht gab es eine Verbindung zu den Zuhörern, die auch manchmal Dinge verschenken oder spät einkaufen?
Ich musste dieses abstoßende Verfahren brechen. Vollkommen in die jeweilige Zeit schlüpfen. Was liegt da näher als eine Kunstfigur, die auch durch entsprechende Kostümierung optisch aus der Zeit fallen könnte? Und wenn es darum geht, sämtliche Jahreszahlen à la Schulunterricht aus einer Veranstaltung zu tilgen, so bin ich als Autorin radikal: Ich erfand Anna Orlando, die den gleichen Tick hat wie einst der Graf von Saint Germain: Sie lebt ewig. Sie könnte sogar, als Hommage an Virginia Woolfs "Orlando" bei Bedarf das Geschlecht wechseln. Hundert Jahre - kein Problem für diese Frau!
Und dann der Härtetest in der Stadt. Wo Glockenläuten einem die Stimme erschlägt, wo der Verkehr brandet und Busse im falschen Moment brummen, da schreien welche beim Fußballgucken und andere tapern einem entgegen, ohne vom Smartphone aufzusehen.
Der Bruch wird mit einem Hut und einer magischen Geste gemacht: Ab jetzt sind wir im 19. Jahrhundert - und was da lärmt, das sind Kutschen und Kaleschen, schreiende Händler und Esel. Es ist nicht einfach, in beweglicher "falscher" Kulisse bei der Rolle zu bleiben! Die unbeteiligten Passanten werden missbraucht, ohne es zu bemerken: Schaut euch um, Leute, schaut euch die Touristen an, die Einheimischen! Könnt ihr die Ganoven erkennen, die Badgäste ums Ohr hauen wollen? Seht ihr diese seltsam bleichen, ultradürren Frauen, die vor der Choleraepidemie geflüchtet sind? Oder die Leute mit dem glasigen Blick, die sich von ihren Notizen fürs Casino gar nicht losreißen können?
So verschiebt sich Wirklichkeit. Und sie verschiebt sich intensiver, wenn aus einem Hauseingang eine streitbare Frauenrechtlerin stürzen könnte, wenn in einem düsteren Keller Carlsbader Wasser gefälscht wird, um Reibach mit dummen Kurgästen zu machen. Da lässt sich spontan alles einbauen: der Reiherbrunnen ohne Wasser? Komische Schläuchlein daran und ein amtlicher Zettel? Da hat doch die sonst so bequemliche badisch-großherzogliche Polizei endlich einmal geschaltet und die Betrüger der Stadt dingfest gemacht! Aus mit dem vermeintlichen Carlsbader Luxussud!
Das sind die Momente, wo der Zauber geschieht. Da hat man sie alle plötzlich am Haken, die Menschen, die von sich glauben, sie lebten im 21. Jahrhundert. Der Brunnen ist ja real, das Amtspapier mit Händen zu fassen! Dass es von Reinigung und irgendwelchen Arbeiten spricht, kann doch nur Fiktion sein!
Und der Mann, der mich immer wieder unterbricht, um sein Wissen von den Häusern aus den 1970ern kund zu tun? Ich fasse ihn plötzlich an der Schulter und quietsche vernehmlich: "Vorsicht, einen Schritt zurück, beinahe hätte Sie die Kutsche auf dem Boulevard erfasst! Nur nicht mit dem Kopf in einem falschen Jahrhundert hängen, hier spielt die Musik, im neunzehnten!" Zweimal muss ich das nicht sagen - die Gruppe verstärkt die Zeitmaschine durch ihre Energien.
Die Menschen kippen. Die unverrückbar erscheinende alltägliche Perspektive ist gebrochen. Wie durch Zauberhand haben sie ihren eigenen Standpunkt verändert. Und so würden sie sich kein bißchen wundern, wenn jetzt vor dem Kurhaus tatsächlich der böse raunzende Mark Twain um die Ecke käme. Seine Geschichte von der Trinkhalle, so erzählt, wie er sie mir, der Anna Orlando, zuerst erzählt hat, beißt sich in den Köpfen fest. Da ist dieser eine Ausdruck, über den er sich lustig macht ...
"Ich werde nie wieder die Trinkhalle anschauen können, ohne sofort an diesen Ausdruck zu denken", gesteht nachher eine Teilnehmerin. Sie haben ein neues Wort geschenkt bekommen, das sie sonst nie benutzen würden. Und dieses Wort hat sich an einem Gebäude festgehakt, ist Teil ihrer Stadt geworden. Es schlägt Wurzeln, bildet Samen. Wenn diese Leute demnächst mit Familie oder Freunden an der Trinkhalle vorbeikommen werden - können sie dann still sein, schweigen? Oder platzt es aus ihnen heraus, dieses neue alte Wort, diese Geschichte? Sie werden die Geschichte weitererzählen, mit eigenen Worten. Mark Twain wird dadurch wieder durch die Stadt geistern.
Und nachher haben sie alle Appetit auf mehr, weil ich sie "ihre" Stadt mit völlig neuen Augen habe erleben lassen. Und weil ich keinen malträtierte mit Jahreszahlen und Wikipediakram. Wann es endlich "dieses Buch" gäbe, wollen einige wissen, mit Stadtplan und tollen Geschichten? Da muss ich allerdings vertrösten. Diesmal schreiben sich die Geschichten nämlich andersherum. Ich will noch viele Spaziergänge machen, zu unterschiedlichen Themen, will umgekehrt hinspüren, welche Figuren und Ereignisse mein Publikum leben lässt und wen es einfach übergehen mag. Ich will diesem Zauber nachspüren und dann den Zauber in ein Buch bannen, aber anders, als eigenes Medium. Jetzt habe ich erst einmal Blut geleckt, noch konsequenter zu Anna Orlando zu werden, noch deutlicher die Zeitmaschine zu betätigen.
Tipps:
Wassili Schukowski - das große Essay über den russischen Dichter in Baden-Baden
Nikolaj Gogol: "Die Nase" bei zeno.org lesen
Stadtspaziergänge in Baden-Baden mit Anna Orlando
Twitter: "Gogol, die olle Nase, hat der Papier geschnieft?" |
Nun haben ganze Generationen von Literaturwissenschaftlern versucht, das Rätsel zu lösen, das uns so rückhaltslos in Geschichten fallen lässt, so dass wir die Welten von Büchern fast real erleben. Ich werde den Teufel tun, dieses Geheimnis ebenfalls lösen zu wollen. Die einen Schriftsteller können es einfach und manche Autoren werden es nie richtig lernen. Weil man es nicht komplett lernen kann, niht künstlich erzeugen. Es hat viel mit der eigenen Haltung und Authentizität, den eigenen Leidenschaften und Begeisterungen zu tun.
Mich interessiert dabei ein anderer Aspekt - denn eine ähnliche Bezauberung erlebe ich im Theater. Ich wollte wissen: Was würde passieren, wenn man Geschichten nicht mehr in Büchern erzählt, auch nicht in Social Media, sondern im realen, dreidimensionalen Raum? Sozusagen "back to the roots", wie der Urmensch am Lagerfeuer? Wie würde hier "Bezauberung" funktionieren? Wollen die überkommunikativen Menschen von heute überhaupt noch Geschichten hören? Was macht es mit den Geschichten, wenn sie aus Buchdeckeln und Readern befreit werden ... in die frische Luft, den Straßenlärm, die Hetze einer Stadt?
Kann man Menschen zum Sehen von Nasen bringen? |
Ich musste dieses abstoßende Verfahren brechen. Vollkommen in die jeweilige Zeit schlüpfen. Was liegt da näher als eine Kunstfigur, die auch durch entsprechende Kostümierung optisch aus der Zeit fallen könnte? Und wenn es darum geht, sämtliche Jahreszahlen à la Schulunterricht aus einer Veranstaltung zu tilgen, so bin ich als Autorin radikal: Ich erfand Anna Orlando, die den gleichen Tick hat wie einst der Graf von Saint Germain: Sie lebt ewig. Sie könnte sogar, als Hommage an Virginia Woolfs "Orlando" bei Bedarf das Geschlecht wechseln. Hundert Jahre - kein Problem für diese Frau!
Und dann der Härtetest in der Stadt. Wo Glockenläuten einem die Stimme erschlägt, wo der Verkehr brandet und Busse im falschen Moment brummen, da schreien welche beim Fußballgucken und andere tapern einem entgegen, ohne vom Smartphone aufzusehen.
Der Bruch wird mit einem Hut und einer magischen Geste gemacht: Ab jetzt sind wir im 19. Jahrhundert - und was da lärmt, das sind Kutschen und Kaleschen, schreiende Händler und Esel. Es ist nicht einfach, in beweglicher "falscher" Kulisse bei der Rolle zu bleiben! Die unbeteiligten Passanten werden missbraucht, ohne es zu bemerken: Schaut euch um, Leute, schaut euch die Touristen an, die Einheimischen! Könnt ihr die Ganoven erkennen, die Badgäste ums Ohr hauen wollen? Seht ihr diese seltsam bleichen, ultradürren Frauen, die vor der Choleraepidemie geflüchtet sind? Oder die Leute mit dem glasigen Blick, die sich von ihren Notizen fürs Casino gar nicht losreißen können?
So verschiebt sich Wirklichkeit. Und sie verschiebt sich intensiver, wenn aus einem Hauseingang eine streitbare Frauenrechtlerin stürzen könnte, wenn in einem düsteren Keller Carlsbader Wasser gefälscht wird, um Reibach mit dummen Kurgästen zu machen. Da lässt sich spontan alles einbauen: der Reiherbrunnen ohne Wasser? Komische Schläuchlein daran und ein amtlicher Zettel? Da hat doch die sonst so bequemliche badisch-großherzogliche Polizei endlich einmal geschaltet und die Betrüger der Stadt dingfest gemacht! Aus mit dem vermeintlichen Carlsbader Luxussud!
Das sind die Momente, wo der Zauber geschieht. Da hat man sie alle plötzlich am Haken, die Menschen, die von sich glauben, sie lebten im 21. Jahrhundert. Der Brunnen ist ja real, das Amtspapier mit Händen zu fassen! Dass es von Reinigung und irgendwelchen Arbeiten spricht, kann doch nur Fiktion sein!
Und der Mann, der mich immer wieder unterbricht, um sein Wissen von den Häusern aus den 1970ern kund zu tun? Ich fasse ihn plötzlich an der Schulter und quietsche vernehmlich: "Vorsicht, einen Schritt zurück, beinahe hätte Sie die Kutsche auf dem Boulevard erfasst! Nur nicht mit dem Kopf in einem falschen Jahrhundert hängen, hier spielt die Musik, im neunzehnten!" Zweimal muss ich das nicht sagen - die Gruppe verstärkt die Zeitmaschine durch ihre Energien.
Die Menschen kippen. Die unverrückbar erscheinende alltägliche Perspektive ist gebrochen. Wie durch Zauberhand haben sie ihren eigenen Standpunkt verändert. Und so würden sie sich kein bißchen wundern, wenn jetzt vor dem Kurhaus tatsächlich der böse raunzende Mark Twain um die Ecke käme. Seine Geschichte von der Trinkhalle, so erzählt, wie er sie mir, der Anna Orlando, zuerst erzählt hat, beißt sich in den Köpfen fest. Da ist dieser eine Ausdruck, über den er sich lustig macht ...
"Ich werde nie wieder die Trinkhalle anschauen können, ohne sofort an diesen Ausdruck zu denken", gesteht nachher eine Teilnehmerin. Sie haben ein neues Wort geschenkt bekommen, das sie sonst nie benutzen würden. Und dieses Wort hat sich an einem Gebäude festgehakt, ist Teil ihrer Stadt geworden. Es schlägt Wurzeln, bildet Samen. Wenn diese Leute demnächst mit Familie oder Freunden an der Trinkhalle vorbeikommen werden - können sie dann still sein, schweigen? Oder platzt es aus ihnen heraus, dieses neue alte Wort, diese Geschichte? Sie werden die Geschichte weitererzählen, mit eigenen Worten. Mark Twain wird dadurch wieder durch die Stadt geistern.
Und nachher haben sie alle Appetit auf mehr, weil ich sie "ihre" Stadt mit völlig neuen Augen habe erleben lassen. Und weil ich keinen malträtierte mit Jahreszahlen und Wikipediakram. Wann es endlich "dieses Buch" gäbe, wollen einige wissen, mit Stadtplan und tollen Geschichten? Da muss ich allerdings vertrösten. Diesmal schreiben sich die Geschichten nämlich andersherum. Ich will noch viele Spaziergänge machen, zu unterschiedlichen Themen, will umgekehrt hinspüren, welche Figuren und Ereignisse mein Publikum leben lässt und wen es einfach übergehen mag. Ich will diesem Zauber nachspüren und dann den Zauber in ein Buch bannen, aber anders, als eigenes Medium. Jetzt habe ich erst einmal Blut geleckt, noch konsequenter zu Anna Orlando zu werden, noch deutlicher die Zeitmaschine zu betätigen.
Tipps:
Wassili Schukowski - das große Essay über den russischen Dichter in Baden-Baden
Nikolaj Gogol: "Die Nase" bei zeno.org lesen
Stadtspaziergänge in Baden-Baden mit Anna Orlando
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