Renn über die Linie!
Es wird allerhöchste Zeit: Madame schraubt und feilt an einem Ende für ihr Stück "Jeux. Russische Spiele in Baden-Baden", das am 27.5. als szenische Lesung mit Schauspielern des Theaters Baden-Baden Premiere haben wird. Es ist eine völlig neue Erfahrung für mich, direkt für die Bühne zu schreiben. Und ich habe es mir nicht unbedingt einfach gemacht: Aus Finanzierungsgründen läuft das wie bei einem Dreh zum "Tatort". Personen und teure Orte streichen - übrig bleibt ein Kammerstück zwischen zwei Personen, Vaslav Nijinsky und Sergej Diaghilew. Kammerstücke sind bekanntlich schwieriger als Massenaufgebot auf der Bühne zu gestalten.
Ein nicht nur fiktives Stück über zwei nicht fiktive Personen der Geschichte, mit fiktiven Dialogen und möglichen Emotionen. Irgend ein Schlaule hat einmal behauptet: "Es ist ganz einfach, Theaterstücke zu schreiben. Man muss nur vom Roman alles weglassen, was nicht Dialog ist." Aber klar doch. Und weil man einfach alles weglässt, muss das Publikum dann lachen oder heulen.
Ganz ehrlich: Nichts scheint mir persönlich schlimmer, als zwei Figuren der Weltgeschichte auf einer winzigen Bühne zuerst so in Wut zu versetzen, dass sie sich fast Hass entgegenspucken, um sie dann über eine tieftraurige Phase in eine Szene zu treiben, die ein völlig neues Bild ergibt. Und das auch noch so, dass die Zuschauer wissen, worum es geht, obwohl sie die Dinge nicht kennen, die ein Roman so gemütlich über Hunderte von Seiten erzählen kann. Ich gebe zu: Ich bin ein Weichei. Ich leide mit meinen Figuren oft allzu sehr mit. Wenn sie mir derart ans Herz gewachsen sind, sowieso. Da müssen dann Tricks her, um nicht selbst in Schwermut zu verfallen.
Man macht im Leben bekanntlich nichts umsonst. So bewährt es sich derzeit, dass ich fleißig am Theater in Baden-Baden Laienkurse belegt habe. Ursprünglich, um meine Lesungen noch besser und lebendiger gestalten zu können. So manche Übung kommt mir wieder in den Sinn. Etwa diese: Der Saal ist mit Kreidestrichen in vier Quadrate aufgeteilt, die für Emotionen stehen: Glück, Trauer, Wut, leise Freude. Je näher man an die Linie kommt, desto unverfälschter prallen die Emotionen aufeinander. Alle laufen im Kreis, eine Trommel regelt die Geschwindigkeiten. Zuerst ganz langsam, schreitend. Ohne Worte und Text, ohne Stück und Geschichte mimt man die Emotionen aus dem Viereck, in dem man sich gerade befindet. Mit dem Gesicht, den Armen, dem ganzen Körper. Und das geht immer schneller, bis man über die Linien rennt, von höchstem Glück in tiefste Trauer fällt, sich leise freut oder wütend wird. Es gibt auch Paarübungen, wo man auf Fremde prallt, die eine andere Emotion verkörpern als man selbst.
Im Geist lasse ich meine zwei Pappkameraden durch den Raum laufen. Renn über die Linie!, rufe ich ihnen zu. Diaghilew schreitet ins Feld väterlicher Gefühle, er will bewahren - Nijinsky kämpft um Freiheit. Der eine wird wütend, der andere ist beleidigt. Der Beleidigte wird noch wütender als der Wütende, der Wütende dagegen traurig. Unerbittlich treibe ich sie mit meiner Trommel an, bis sie sich Dinge sagen, die sie nie aussprechen wollten. Entsetzen und dann diese lähmende Stille.
Da ist noch ein anderer Sog, der an mir reißt. Jeder Satz bekommt in der derzeitigen Weltsituation plötzlich einen Beigeschmack, eine doppelte Konnotation. Der schwule Nijinsky ist wegen eines unzüchtigen Kostüms aus dem Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg herausgeflogen. Damals hat er es absichtlich darauf angelegt, um im freien Paris auftreten zu können. Jetzt sehnt er sich plötzlich wieder nach Russland. Werden ihn die Russen je zurückkehren lassen? Die beiden sind Gefangene ihrer Freiheit: Im eigenen Land hätten sie sich nie derart austoben und entwickeln können wie in Paris, aber Paris hätten sie nicht aufgemischt, wenn sie nicht diese urrussische Kultur im Hintergrund gehabt hätten. Ob am Ende das bestimmt, was auch heute zu bestimmen scheint: das Geld?
Es ist die große Chance für einen Text, wenn er plötzlich weitere Ebenen entwickelt. Es kann ihm allerdings leider auch zum Verhängnis werden, wenn man nicht einen kühlen Kopf bewahrt. Jaja, Stückeschreiben ist ja so einfach: Man muss nur alles Unwichtige weglassen.
Professioneller Abstand zur Figur im Stück? |
Ein nicht nur fiktives Stück über zwei nicht fiktive Personen der Geschichte, mit fiktiven Dialogen und möglichen Emotionen. Irgend ein Schlaule hat einmal behauptet: "Es ist ganz einfach, Theaterstücke zu schreiben. Man muss nur vom Roman alles weglassen, was nicht Dialog ist." Aber klar doch. Und weil man einfach alles weglässt, muss das Publikum dann lachen oder heulen.
Ganz ehrlich: Nichts scheint mir persönlich schlimmer, als zwei Figuren der Weltgeschichte auf einer winzigen Bühne zuerst so in Wut zu versetzen, dass sie sich fast Hass entgegenspucken, um sie dann über eine tieftraurige Phase in eine Szene zu treiben, die ein völlig neues Bild ergibt. Und das auch noch so, dass die Zuschauer wissen, worum es geht, obwohl sie die Dinge nicht kennen, die ein Roman so gemütlich über Hunderte von Seiten erzählen kann. Ich gebe zu: Ich bin ein Weichei. Ich leide mit meinen Figuren oft allzu sehr mit. Wenn sie mir derart ans Herz gewachsen sind, sowieso. Da müssen dann Tricks her, um nicht selbst in Schwermut zu verfallen.
Man macht im Leben bekanntlich nichts umsonst. So bewährt es sich derzeit, dass ich fleißig am Theater in Baden-Baden Laienkurse belegt habe. Ursprünglich, um meine Lesungen noch besser und lebendiger gestalten zu können. So manche Übung kommt mir wieder in den Sinn. Etwa diese: Der Saal ist mit Kreidestrichen in vier Quadrate aufgeteilt, die für Emotionen stehen: Glück, Trauer, Wut, leise Freude. Je näher man an die Linie kommt, desto unverfälschter prallen die Emotionen aufeinander. Alle laufen im Kreis, eine Trommel regelt die Geschwindigkeiten. Zuerst ganz langsam, schreitend. Ohne Worte und Text, ohne Stück und Geschichte mimt man die Emotionen aus dem Viereck, in dem man sich gerade befindet. Mit dem Gesicht, den Armen, dem ganzen Körper. Und das geht immer schneller, bis man über die Linien rennt, von höchstem Glück in tiefste Trauer fällt, sich leise freut oder wütend wird. Es gibt auch Paarübungen, wo man auf Fremde prallt, die eine andere Emotion verkörpern als man selbst.
Preiswerter: Wenn man bis auf die zwei Figuren links alle anderen streicht |
Im Geist lasse ich meine zwei Pappkameraden durch den Raum laufen. Renn über die Linie!, rufe ich ihnen zu. Diaghilew schreitet ins Feld väterlicher Gefühle, er will bewahren - Nijinsky kämpft um Freiheit. Der eine wird wütend, der andere ist beleidigt. Der Beleidigte wird noch wütender als der Wütende, der Wütende dagegen traurig. Unerbittlich treibe ich sie mit meiner Trommel an, bis sie sich Dinge sagen, die sie nie aussprechen wollten. Entsetzen und dann diese lähmende Stille.
Da ist noch ein anderer Sog, der an mir reißt. Jeder Satz bekommt in der derzeitigen Weltsituation plötzlich einen Beigeschmack, eine doppelte Konnotation. Der schwule Nijinsky ist wegen eines unzüchtigen Kostüms aus dem Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg herausgeflogen. Damals hat er es absichtlich darauf angelegt, um im freien Paris auftreten zu können. Jetzt sehnt er sich plötzlich wieder nach Russland. Werden ihn die Russen je zurückkehren lassen? Die beiden sind Gefangene ihrer Freiheit: Im eigenen Land hätten sie sich nie derart austoben und entwickeln können wie in Paris, aber Paris hätten sie nicht aufgemischt, wenn sie nicht diese urrussische Kultur im Hintergrund gehabt hätten. Ob am Ende das bestimmt, was auch heute zu bestimmen scheint: das Geld?
Es ist die große Chance für einen Text, wenn er plötzlich weitere Ebenen entwickelt. Es kann ihm allerdings leider auch zum Verhängnis werden, wenn man nicht einen kühlen Kopf bewahrt. Jaja, Stückeschreiben ist ja so einfach: Man muss nur alles Unwichtige weglassen.
Keine Kommentare:
Deine Sicherheit:
Mit restriktiven Browsereinstellungen kannst du nur als "Anonym" und mit "Namen / URL" kommentieren. Möchtest du dein Google-Profil verwenden, musst du aktiv im Browser unter "Cookies von Drittanbietern" diejenigen zulassen, die nicht zur Aktivitätenverfolgung benutzt werden. Nur so kann das System dein Profil nach Einloggen erkennen.
Mit der Nutzung dieses Formulars erkläre ich mich mit der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten durch Google einverstanden (Infos Datenschutz oben im Menu).
(Du kannst selbstverständlich anonym kommentieren, dann aber aus technischen Gründen kein Kommentarabo per Mail bekommen!)
Spam und gegen die Netiquette verstoßende Beiträge werden nicht freigeschaltet.
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.