Sprachmarathon
"Speedübersetzung" nennt man das, was ich ab und zu mache, um für den gelangweilten Welpen genug Hundefutter heranschaffen zu können. Ich spiele sozusagen Übersetzungsfeuerwehr. Diesmal habe ich genau sechs Wochen Zeit für eine druckreife Übersetzung ... macht nach Adam Riese bei mir vier Wochen für die Rohübersetzung. Der Rest bleibt fürs Schleifen und als Puffer, falls ich mal krank werden sollte. Für letzteres bleibt eigentlich keine Zeit, denn mein Pensum steht täglich fest. Täglich bedeutet: ohne Wochenende und Feiertage, ich arbeite in diesen sechs Wochen ohne Pausen. Es geht schließlich nicht um irgendeinen Text, sondern um ein ganzes Buch.
Vom sprachlichen Niveau her ist es grundsätzlich nicht zu anspruchsvoll, also zu schaffen. Verfällt meine Autorin mal wieder in Slang, den sie mit superintellektuellen Ausdrücken zu eigenen "lustigen" Metaphern kombiniert, stehen im Rohtext erst einmal rot markierte Platzhalter. Die schaue ich morgens vor der Arbeit oder abends in einer Extraschicht nach. Sehr viel aufwändiger sind ihre spontanen Ausflüge ins Altfranzösische, das ich eigentlich nicht beherrsche ... und all die lateinischen Ausdrücke, die ich öfter nachschlagen muss.
Solches Übersetzen ist Fließbandarbeit. Man hat nicht wie in der Hochliteratur üblich, die Zeit, einen Text sich tagelang setzen zu lassen und mit Formulierungen zu spielen. Ich muss gleich am Anfang erfassen, in welchem Ton das Buch daherkommt, welche Atmosphäre es schaffen will, welche Ausdrucksweise im Deutschen adäquat dafür wäre. Wenn das Buch perfekt wäre, könnte ich "runterübersetzen", aber es ist leider nicht so perfekt. Französische Edelverlage sparen offenbar zunehmend am Lektorat. Die Autorin hat sich selbst öfter kopiert ... manche Texte kommen daher wie in einem Zeitschriftenartikel, manche wirken wie aus Wikipedia geholt, andere sind fast hölzern. Im Deutschen muss ich einen mittleren, durchgängigen Ton finden, der sich "glatt" liest. Und dann sind da Lektoratsfehler: Doppelungen, Ausdrucksschwächen und echte inhaltliche Fehler. Ich bin zum Glück vom Fach und rieche, wenn da etwas nicht stimmt. Eigentlich muss ich jede größere vollmundige Behauptung nachrecherchieren. Zur Übersetzung kommen also Textprüfung und Recherche.
Dann sitze ich mit meinen schlauen und korrekten Erkenntnissen da - aber ich kann nicht einfach einen Originaltext vergewaltigen! Wie korrigiere ich den Inhalt, ohne zu sehr ins Original einzugreifen? Wie formuliere ich ihren Satz ein klein wenig um, ohne dass ich mich zu weit von der Autorin entferne? Man muss da trickreich sein. Eine Aufgabe, die sehr viel Spaß machen kann, weil sie das eigene Sprachvermögen herausfordert. Die aber auch unendlich ermüden kann, weil sie zeitraubend ist und man eben kaum im Fluss übersetzen kann. Einfach die Fehler stehenlassen ... das geht nicht. Leser lasten Fehler ja nie den Autoren, sondern ihren Übersetzern an.
Im Laufe dieser intensiven Arbeit kommt man den Autoren und ihren Texten unwahrscheinlich nah, wahrscheinlich näher als jeder Lektor. An der Art, wie jemand seine Sprache benutzt, kann ich Dinge herauslesen, die mit dem Buch nicht einmal etwas zu tun haben. Manchmal weiß ich, zu welcher gesellschaftlichen Klasse ein Autor gern gehören würde, aber auch, wo seine schriftstellerischen Grenzen liegen. Ich kann sehen, woran er scheitert oder welche persönlichen Komplexe er im Text abarbeitet. Manchmal sehe ich einen Autor vor mir im Bistro und kann hören, worüber er sich auskotzt bei seinen Freunden ... weil er das in seiner Sprache auch im Buch heraushören lässt. Oder ich erkenne Vorlieben, die den meinen diametral entgegenstehen. Sprache verrät so viel über Menschen.
Das ist aber auch das Schwierigste: Ich muss einerseits hochsensibel auf Ausdruck und Autorenstimme achten - andererseits darf ich nicht emotional werden. Ich muss objektiv bleiben, weder meine persönliche Stimmung noch mein Urteil haben in einer Übersetzung etwas zu suchen! Trotzdem - ich kann das natürlich nicht durchweg ... Manchmal kommt ein Punkt, an dem mir ein Autor einfach wirklich auf den Wecker fällt. Wo ich ihn am liebsten schütteln würde. Ich bin schließlich auch nur eine Leserin! Jeder hat hier wohl eigene Techniken, damit umzugehen. Ich schimpfe im Geiste tüchtig mit meinen Autoren: "Hättest du vor diesem Kapitelende nicht mal schlafen können? Musste das so viel schwächer als der Anfang hingehudelt werden?" - "Hat dieser absolut degoutante Seitenhieb auf die Frauen jetzt wirklich sein müssen? Ist doch gar nicht relevant für die Handlung, die Figuren, den Text! Woran hast du dich da wieder abarbeiten müssen?" - "Madame, das Stückchen haben Sie jetzt aber aus dem Internet abgeschrieben. Hatten Sie wirklich keine eigenen Worte dafür? Aber keine Angst, ich verrate Sie nicht. Wir Übersetzer sind ja diskret." - "Oha, du hast die gleiche schlimme Angewohnheit wie ich! Wenn ich mich vor einer Wahrheit drücke, landen auch immer mehr Füllwörter in den Sätzen!"
Nach solchen Tiraden geht es mir wieder besser. Wenn ich mir solchermaßen Luft gemacht habe, kann ich auch einen schwachen Text mit der Wertschätzung behandeln, die jedem Text zusteht: Ich übersetze ihn, als sei er für den nächsten Buchpreis vorgeschlagen. Und ein ganz kleines bißchen erröte ich auch innerlich: Was wohl die Übersetzerinnen über mich geschimpft haben, die meine Bücher ins Spanische, Italienische und Litauische übersetzt haben? Ich kann sie im Geiste fast hören ... ahne, an welchen Stellen sie womöglich einen Extrakaffee brauchten oder das Buch gern an die nächste Wand geschleudert hätten. Ich lerne unwahrscheinlich viel für meine Arbeit als Autorin, bekomme einen neuen Blick für das Funktionieren von Texten, für Sprachnuancen kleinster Art. Eine faszinierende Arbeit ... aber die Uhr tickt!
Das macht sich auch körperlich bemerkbar. An guten Tagen versuche ich, das doppelte Pensum zu schaffen, um mir einen freien Tag herausschaufeln zu können. Das jetzige Buch ist reich an unterschiedlichen Schriftfonts, manche so fein und klein, dass ich eigentlich mit einer Lupe lesen müsste. Wenn ich Feierabend mache, tränen mir die Augen und manchmal ist alles unscharf. Ich kann abends selbst keine Bücher mehr lesen, welch eine Ödnis! Ich will auch nicht über die Muskeln jammrn, die schmerzen können, weil ein großformatiges Buch neben der Tastatur nebst dem Geblättere in Nachschlagewerken nicht unbedingt immer ergonomisch ist. Zu jeder Speedübersetzung sollte es Massagegutscheine geben. Schlimmer jedoch ist dieser andere Muskel, die graue Schwabbelmasse im Kopf, die den Eindruck macht, als turne sie wirklich. Da ist plötzlich ein ungeheurer Hunger auf Proteine und Schokolade. Und nach drei Stunden intensiver Arbeit ist erst mal Schluss. Nichts geht mehr. Ruft mich jemand in dieser Zeit an, lalle ich in hilflosem Europlais herum, finde die Wörter in der eigenen Muttersprache nicht mehr oder kann nicht einmal mehr sagen, in welcher Sprache der Anruf getätigt wurde. Letztens schrie ich eine Frau von einem Callcenter einfach an, sie solle gefälligst logisch stringent auf meine Frage antworten, ihr Geeiere könne man ja nicht mal übersetzen ...
Oft peitsche ich mich dann nach einem erfrischenden Hundelauf trotzdem weiter, über die Zielmarke. Bei fünf Stunden Arbeit ist dann alles aus. Danach will ich nicht mehr sprechen, nicht mehr zuhören, einfach nur sprachlos irgendwohin starren, nie wieder ein Buch in die Hand nehmen. Ich bin dann Gemüse, auch körperlich völlig fertig, als hätte ich mit allen Muskeln geschuftet. Das sind die Tage, wo ich mich freue, wenn sogar der Hund verschläft ... aber es hilft nichts: Das Tagespensum wartet. Es wartet auch jetzt.
Eine herausfordernde, wunderschöne und lehrreiche Arbeit. Weh tut sie erst dann, wenn da draußen manche Leser nicht zu schätzen wissen, wie viele Menschen oft an einem guten Buch arbeiten, für das so viele am liebsten gar kein Geld mehr bezahlen würden. Von Tante Erna ganz zu schweigen. Wenn ich der erzähle, dass ich eigentlich täglich nur drei bis vier Stunden lang hochkonzentriert arbeiten kann, hält sie mich wahrscheinlich für das faulste Ei im Hühnerstall.
Wie kenne ich all die Aussagen von "was machst du eigentlich den ganzen Tag" über "du hast es schön, du sitzt nur zu Hause" bis zu "wann willst du eigentlich mal arbeiten gehen"... und es gab Zeiten, da trafen sie sehr tief. Die gibt es noch, aber sie werden weniger. Wer weiss, vielleicht verschwinden sie mal. Nicht, weil niemand mehr solche Aussagen mehr fallen lässt, denn ich glaube nicht, dass dies passieren wird, sondern, weil ich stark genug bin, für mich hinzustehen und diesen Müll nicht mehr an mich herankommen zu lassen.
AntwortenLöschenLiebe Petra,
AntwortenLöschenaus dem, was du schreibst, kann ich heraushören, dass Übersetzen wesentlich mehr ist als nur Übersetzen, nämlich zusätzlich noch ein Lektorat mitsamt Recherchen. Und auch die Verausgabung, die das erfordert. So bematscht fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich in schwierigen Berufsphasen an einem Wochenende ein Lektorat durchziehen muss. Du liebst diese Arbei, das ist mit jeder Faser zu spüren, und ich wünsche dir weiterhin gutes Gelingen und Fortschritt mit allem, auch mit deinem Bilbo!
Herzlichst
Christa
Liebe Cosima,
AntwortenLöschenzum Glück höre ich so etwas höchstens noch von Tante Erna, die ich nicht ganz ernst nehmen kann ... im Freundeskreis habe ich solche Deppen nicht und wenn ich von meinen Zwölf-Stunden-Tagen (oder mehr) erzähle, will nicht wirklich jemand mit mir tauschen. ;-) Ich denke, das ist eine Frage des Grenzensetzens. Wer meine Arbeit nicht wertschätzt, schätzt denn der mich? Drum gut, wenn du eine Hornhaut entwickeln kannst.
Liebe Christa,
so intensiv mit Textprüfung und Schnelligkeit ist nicht jeder Auftrag. Aber jeder Übersetzer hat Spezialisierungen und die meine ist u.a. die, ziemlich verkorkste Originale zu lesbaren Büchern zu machen ;-) Meine Arbeit als Autorin kommt mir da sehr entgegen. Ich verstehe allerdings nicht wirklich, warum man lieber Lizenzgebühren und Übersetzerhonorar zahlt, anstatt heimische Autoren an Themen zu setzen. Aber da gilt wirklich: Autor XY aus Land XY hat halt schon gute Kritiken und Renommé, den verkaufen wir leichter.
Dir wünsch ich auch mehr Hornhaut, etwa wenn es drum geht, mehr Zeit für ein Lektorat einzufordern.