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30. Dezember 2008

Tennisarm

Geschafft. Ein ganzes Jahr Schreibe ist endlich bei der VG Wort gemeldet und Stunden war ich dafür online. Jetzt schmerzt der Nacken und an der Maus will sich ein Tennisarm entwickeln - noch nie habe ich so viel in so kurzer Zeit geklickt. Ich bin selbst überrascht von den Kilometern, die ich in Buchstaben zurücklege, in diesem Jahr fast wieder mehr im Journalismus als im Buch.

Den Rest des Jahres nutze ich jetzt rasant zum Großputz und Kochen, denn morgen habe ich Silvestergäste. International soll es werden, Deutsche und Franzosen an einem Tisch, und ich dachte daran, nach Omas Art etwas Traditionelles zu kredenzen. Nicht so einfach, wenn man konventionelle Franzosen einlädt. Für einen Franzosen ist Silvester ohne Austern kein Fest. Also bringt der Franzose seine Austern mit, damit er mein Fest überlebt - und ich räume ihm die Spüle zum Arbeiten frei.

Nur mein schöner polnischer Bigos will dazu gar nicht passen, nicht beim besten Willen. Was tun? Nun ... ich schmeiße halt die Rezepte-Oma und den Franzosen noch ein Stück weiter nach Osten und hauche meine polnischen Rezepte russisch an. Statt französischem Weihnachtsglitter gibt's bunte Russenfarben mit einem Schuss Glamour und Kitsch als Deko - und an den Austern räche ich mich mit einem badischen Kartoffelsalat. Statt Bigos gibt's als Mitternachtssuppe Barszcz. Knallrot ins neue Jahr, das schreiberisch ebenfalls unter einem russischen Stern stehen wird. Gar nicht so dumm, das Umdisponieren wegen der Austern...

29. Dezember 2008

Jahreswechselarbeitscrash

Ich will ja nicht jammern, es ist das Los der Freiberufler: Vor dem 31.12., 24 Uhr, muss so viel passieren! Heute bin ich richtig froh, zwei Telefone zu haben, denn der Akku des einen ist restlos leer telefoniert. Zwei Tage Paragraphenlesen und Durchdenken, Verträge werden immer komplizierter, und ohne Anwalts Übersetzung würde ich das machen müssen, was die meisten machen: Blindflug.

Amtsbriefe, auch so ein Vergnügen. Französische Amtsbriefe drohen einem gleich so vergnüglich: Wenn Sie unsere Mitarbeiterin nicht noch in diesem Jahr kontaktieren, um im nächsten den Termin zu machen, lassen wir Ihnen den Himmel auf den Kopf fallen. Natürlich ist die Mitarbeiterin, für die man sich überschlägt, in Urlaub. Heiliger Majestix!

Und dann die VG Wort. Ich liebe deren Technik inzwischen heiß und innig. Ist es nicht schon kompliziert genug gewesen, den Online-Zugang zu bekommen, so kann ich grundsätzlich das, was ich zu melden habe, dann doch wieder nur auf Papier tun, denn das ... geht halt noch nicht online. Dann haben sie jetzt immerhin endlich mitbekommen, dass das bisherige Zählsystem für Onlineveröffentlichungen nicht praktikabel ist. Hätte ihnen jeder Autor sofort sagen können. Nun darf man nachmelden, alles einzeln hinschieben, aber bitte vorher noch die Anschläge zählen. Da brauche ich erst mal einen Kaffee für die Sisyphusarbeit. Und ich wette, das mit dem Onlinezugang klappt dann wieder nicht. Wie schon mal.

Sollte ich wider alles Erwarten einmal reich und berühmt werden, stelle ich einen Privatsekretär ein.

In diesem Sinne: Frohe Endjahresarbeiten mit viel innerem Rutsch!

28. Dezember 2008

Festspeise

Dem Menschen, der heute meine Kolumne fand, weil er "Golfbälle im Kartoffelfeld" hat, sei herzlich gedankt für den Lacher! Die Hobbyköchin empfiehlt: Kartoffelsalat draus machen für Silvester. Und den miesen Golfer als Würstel dazu.

Gimmicks contra Gedächtnis

Die amerikanische Forensikerin, Krimiautorin und Journalistin Sarah Weinman beobachtet mit Sorge die Krise im Buchmarkt, die auch sie für eine geistige hält. In ihrem Blog "Confessions of an Idiosyncratic Mind" schreibt sie, amerikanische Verleger seien so sehr mit den neuesten Techniken, den neuesten Spielereien und einem Vorwärts um jeden Preis beschäftigt, dass "institutional memory" - wir würden eher sagen kulturelles Gedächtnis - völlig verloren ginge.

Sie macht die Entwicklung daran fest, dass man mittlerweile auch berühmte Autoren immer schneller einfach wegwerfe. Der Schriftsteller Ed McBain ist ihr international wohl bekanntestes Beispiel - man ließ den Lesern die Bücher noch bis drei Jahre nach seinem Tod, dann war Schluss. (McBain starb 2005, in diesem Jahr erschien auch in Deutschland sein letztes Buch, das wie alle anderen nicht mehr lieferbar ist). Aber auch vor noch lebenden Bestsellerautoren oder qualitativ hochstehenden Schriftstellern macht der Wegwerfmarkt nicht mehr Halt.

Umgekehrt entwickelt sich der Hype völlig manischer Blurbs, die dem Leser alles versprechen, vor allem schnellen Ersatz für den eben weggesäuberten Schriftsteller. Da werden im Handumdrehen neue Chandlers und neue Hammets angepriesen, während man die Originale missachtet. Klonproduktion, immer schneller, immer neuer, immer jünger.

Sie fragt sich dagegen beim Lesen immer häufiger, wie viele dieser neuen Nachahmerbücher wirklich des Lesens wert waren. In einer Zeit, die sich so schnell dreht, dass der Einzelne nicht mehr die Ereignisse von vor ein paar Wochen vollständig verstehen kann, wäre etwas eminent wichtig: Kontext.

Ich kann nur zustimmen. Kunst, Kultur, Literatur - das alles war immer auch ein Instrument des Menschen, seinen Platz in einer sich verändernden Welt zu reflektieren. Autoren bewegen sich nicht im luftleeren Raum, sie schöpfen auch aus Traditionen heraus. Aber vielleicht ist ja genau das die Zustandsbestimmung unseres derzeitigen Daseins: Herrschaft des Konsumismus über alte verlegerische Eigenschaften, das Buch als Profitcenter - und austauschbare Schriftsteller, die man zur Blurbblase aufbaut, um sie dann wie die heiße Kartoffel fallen zu lassen. Ausgelutscht, diese Kultur.

27. Dezember 2008

Zukunftsmusik Buch

Verunsicherungen im Altgewohnten

Irgendetwas stimmt nicht mehr mit der Verlagsbranche - diese Beobachtung machen seit rund einem Jahr immer mehr Autoren und Agenturen. Noch kennt die wahren Ursachen keiner so richtig, da ist mancherorts sogar von Auswirkungen der Wirtschaftskrise die Rede - für eine Zeit, in der noch keine Krise griff, geschweige denn existierte. Viel mehr spricht für eine Entwicklung, wie sie das Fernsehen längst vormacht. Mit dem Konflikt zwischen Marcel Reich-Ranicki, Elke Heidenreich und dem ZDF wurde die Misere zwischen Stromlinienform und Anspruch sichtbar.

Wir erleben die breit angelegte Verflachung einer übermächtigen Unterhaltungsindustrie, die speziell beim Medium Buch durch die Buchhandelskonzentration dazu führt, dass Autoren und ihre Werke zunehmend als Profitcenter betrachtet und danach ausgewählt werden. Kommt dazu, dass die Buchmesse 2008 neben dem vollmundigem Werbehype der großen Lesegerätehersteller nur noch mehr Verunsicherung gebracht hat: Die Angst vor dem E-book geht um wie anno dazumal die Kassandrarufe, die das Ende der Musik durch die CD beschworen. Ist das unsere schöne neue Buchwelt?

Realität ist heutzutage immer mehr eine virtuelle, gestaltet von Medien und denen, die am lautesten schreien. In die Öffentlichkeit findet das, wofür die größten Werbebudgets zur Verfügung stehen, was die schönsten Angstmeldungen produziert - sprich, wieder nur das, was mit größtem Profit verkauft werden kann. Dass in einer solchen Industrie die Angst vor elektronischen Medien und vor der angeblichen Konkurrenz der Computerspiele umgeht, ist nur zu natürlich. Wer sich nicht bewegt, muss Innovatives fürchten, muss Bedenken gegen "schnelle" Medien haben. Denn heimlich still und leise entwickelt sich um das Thema Buch längst eine Zukunftsmusik, die am allerwenigsten diejenigen produzieren können, die auf altbewährten Abklatsch und Wiederholungsproduktionen setzen.

Computerspiele und E-books: eine Konkurrenz?

Eigentlich müssten Computerspiele-Fans derzeit weinen, dass das Medium Buch das ihre hinterrücks unterwandert. Der gefeierte Spieleentwickler Peter Molyneux hat es vorgemacht, als er seine berühmten Gott-Simulationen schuf. Wenn er sagt, ihm sei die Psychologie der Figuren am wichtigsten und damit ihr Entwicklungspotential, das Gefüge von Entscheidungen innerhalb einer Handlung, dann löst er die eigene Autorenschaft auf und gibt sie den Spielern in die Hand. Seine Gefühle und das eigene Gewissen auf einer mythischen Reise auszuloten, die zum individuellen Abenteuer wird, bei dem man "Welt" beeinflusst, um schließlich durch jene erzählten Geschichten zu einer Läuterung und womöglich Selbsterkenntnis zu kommen, das ist das Wesen von Literatur. Molyneux ist Geschichtenerzähler. Und vielleicht ist er deshalb auf seinem Gebiet so innovativ, weil er keine Angst hat vor Überschneidungen und Durchdringungen unterschiedlicher Medien. Er lässt seine Spieler das tun, was mancher blutige Anfänger unter Romanschreibern mühsam in Seminaren pauken möchte: Plotten, Figuren mit Charakter schaffen - und das lebendige Beziehungsgeflecht des Romanhandwerks verstehen.

Umgekehrt bedienen sich Bücher fleißig bei der Spieleindustrie. Das herkömmliche E-Book, bei dem man ein für Print geschriebenes Buch einfach in Daten umwandelt und Papier in virtuelle Seiten, ist längst eine Totgeburt. Ganz nett für Manager mit Übergepäck, aber schon nicht mehr geeignet fürs Lesen am sandigen Strand sind in pdf oder andere Formate umgewandelte, einst gedruckte Bücher. So viel Technik für so wenig Nutzung ist schlicht stinklangweilig, alter Wein in neuen Schläuchen - denn hier werden die Möglichkeiten und Chancen der Technik vertan. Wenn schon "e", warum dann nicht einbinden, was das Internet längst kann? Verlinkungen nach innen und außen, Hördateien, Videozusätze, Anschluss fürs update. Hier liegt dann tatsächlich für einige gedruckte Bücher die Gefahr des Untergangs. Wer möchte in Zukunft noch einen in immens langen Zeiträumen produzierten Reiseführer auf Papier lesen, wenn er Hoteldaten und Adressen stets auf dem neuesten Stand haben könnte? Oder wäre die CD-ROM im Buch dann nicht angebracht?

Multimediale Bücher sind schon ein alter Hut

Gibt es alles längst - und das gedruckte Buch ist in jenen empfindlicheren Bereichen der Ratgeber erst dann wirklich bedroht, wenn sich die aktive Computernutzung in der breiten Bevölkerung durchsetzt und Bibliotheken wie etwa in Frankreich zu Mediatheken werden, die jedem freien Zugang zu allen Techniken schaffen. Autoren solcher Sachbücher machen sich besser jetzt schon mit neuen Techniken vertraut.

Multimediale Reiseführer haben das E-book-Lesegerät längst hinter sich gelassen. Sie kommen als CD-ROM oder DVD daher, bieten Videos, Spiele, Textinfos und eine eigene Linkbibliothek. Durch die Vernetzung mit dem Internet können solche "Bücher" up-to-date bleiben, die goßen online-Enzyklopädien machen es vor. Ähnlich funktioniert das große Genre der Lern- und Bildungsproduktionen für Kinder und Jugendliche, die dort abgeholt werden, wo sie am liebsten sitzen: vor dem Computer. Eine CD-ROM hat gegenüber dem Buch den Vorteil, dass sie viel größere Datenmengen viel billiger unterbringt und durchsuchbar ist. Wer sich je eine Klassikersammlung der digitalen Bibliothek zugelegt hat oder seine Geschichtstexte mit Original-Filmaufnahmen und Audiodateien genießt, weiß die Vorteile zu schätzen. Er weiß aber auch, dass es nicht den Tod des gedruckten Buchs bedeutet. Das nämlich kann man auch noch bei Stromausfall lesen und muss nicht um Kompatibilitätsprobleme mit neuen Betriebssystemen und Techniken fürchten. Noch ist Papier haltbarer als ein elektronisches Trägermedium. Ein von Gutenberg gedrucktes Buch ist heute noch lesbar. Die Datei aus Computeranfangszeiten nicht unbedingt.

Multimedialität hat es bei Büchern auch früher schon gegeben - nämlich bei den guten alten Blindenbüchern, der Vorform des modernen Hörbuchs. Damals las man noch mit billigen Stimmen Bücher auf Kassette ab und kein Sehender wäre je auf die Idee gekommen, ein Blindenbuch zu genießen. Heute genießen Blinde professionell gestaltete Hörbücher mit Sehenden gleichermaßen, die Qualität hat sich deutlich verbessert. Hörbuchproduzenten wetteifern um berühmte Stimmen, Sehende goutieren Hörbücher sogar beim Bügeln, Autofahren oder einfach entspannt zurückgelehnt mit geschlossenen Augen. Multimediale Bücher wenden sich längst nicht mehr nur an Blinde - Barrierefreiheit sorgt auch hier für völlig neue Verbindungen.

Das EU-Projekt Multireader spricht gleichermaßen Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose und Hörbehinderte, aber auch Menschen mit Leseschwächen an - und der Anteil letzterer steigt. Was hier entwickelt wird, geht weit über die reine Versorgung von Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen hinaus - es bringt Menschen aller Wahrnehmungsformen in einem Medium zusammen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die zunehmende Nutzung solcher Ressourcen auch auf die Wahrnehmungsweise überhaupt auswirkt und in neuen Textformen ihren Niederschlag finden wird.

Die Sinneswonnen von morgen

Wenn Menschen Bilder hören können und Musik sehen, wenn sie Geschmäcker als Formen tasten und Gerüche als Farben wahrnehmen, so wurden sie früher für krank und verrückt erklärt und später immerhin nur noch für begabt und kurios. Der Neurologe Richard Cytowic stellte in seinen Forschungen dann eine bahnbrechende Hypothese auf. Er ist der Meinung, Synästhesie sei ein in der Urzeit überlebenswichtiger, allgemein angeborener Sinn gewesen und habe sich im Lauf der Evolution lediglich zurückgebildet, zumal man ihn kulturell vernachlässigt und schließlich unterdrückt habe. Was sich im Bereich "Multimedia" tut, hat natürlich nichts mit Synästhesie zu tun, denn man hat sie oder man hat sie nicht. Technisch lassen sich allenfalls Ahnungen von Sinnesüberschneidungen provozieren, aber Synästhesie ist nicht erlernbar.

Multimedia ist jedoch nicht nur für Synästhetiker interessant, sondern für alle, weil der Mensch ein Sinneswesen ist. Wir erfahren uns und die Welt durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Unser Hirn wird durch unterschiedlich genutzte Sinne erst so richtig lebendig. Je mehr Sinne und damit Emotionen gleichzeitig angesprochen werden, desto größer ist der Gewinn an Genuss, desto größer sind Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen. Warum diese Erkentnisse nicht auch für Bücher nutzen?

Vor allem an Universitäten experimentiert man längst mit neuen Formen, die e-Reader wie mittelalterliche Maschinen aussehen lassen. So haben Studenten des HPI-Instituts in Potsdam mit dem "Sophie Server" ein Onlineportal für Multimediabücher entworfen, das eine völlig neue Form von Bibliotheksverhalten erprobt. Multimediale Bücher werden mit einer genormten Software in wenigen Schritten entwickelt, Texte ergänzt durch Film, Sprache und Animation. Neu ist, dass Experten via Audiokommentar direkt Anmerkungen in die Bücher sprechen können. Studenten ermöglicht die Bibliothek, Bücher in Gruppen zu besprechen und zu bearbeiten - und zwar vernetzt von jedem Punkt der Erde aus.

Wie Science Fiction wirkt dagegen die Erfindung "Das lebende Buch", das aufgrund des technischen und finanziellen Aufwands nichts für Privatleute werden wird, sondern z.B. Museen und Firmen als Zielkundschaft anvisiert. "Das lebende Buch" besteht aus Papierseiten und einem Coverdeckel wie jedes herkömmliche Buch und unterscheidet sich nur dadurch, dass man es nicht von seinem Terminal heben darf. Der Leser wendet ganz normal die Seiten um, liest und wundert sich. Denn die Bilder vor seinem Auge bewegen sich und es gibt etwas zu hören (Leseprobe). Was man sonst im Reich Harry Potters vermutet, wird durch eine Spezialbeschichtung des Papiers und Filmprojektion möglich gemacht. Zukunftsmusik der besonderen Art, aber sie zeigt, dass eines Tages mehr denkbar sein wird, als wir uns heute vorstellen können.

Zukunftsproduktionen von heute

Viel bescheidener kommen Produktionen daher, wie sie bereits jetzt von innovativen Verlagen angeboten und weiterentwickelt werden. Noch sind die Anbieter alles andere als Mainstream, nicht selten stehen dahinter kleinere oder sehr junge Verlage. Aber sie machen von sich reden und die Dichte der Preisträger bei solchen Risikoprojekten, die goße Verlage noch scheuen, gibt zu denken. Während Multimediaverfahren auf CD-ROM und DVD bisher vorwiegend auf Sachtexte angewiesen waren, erobert der Wachstumsmarkt der Hörbücher die Belletristik. Bei herkömmlichen Hörbüchern wird ein bereits im Print erschienenes Buch, meist ein Roman, von einem Schauspieler gelesen oder von professionellen Sprechern als Hörspiel inszeniert. Wer sich mit den Unterschieden von gesprochener und geschriebener Sprache beschäftigt hat, kennt die Schwächen einer solchen Unternehmung: Nicht jeder gute gedruckte Text hört sich auch gut an.

Deshalb gehen einige Hörbuchverlage dazu über, ihr Medium intensiver in seinen eigenen Chancen zu nutzen. Das Publikum weiß es zu schätzen. Welcher herkömmliche Verlag hätte je zu vermuten gewagt, dass das Rilke-Projekt in seiner Verbindung von Dichterlesung und Musik zu einem solchen Erfolg werden würde, dass man in gleicher Manier ein Hesse-Projekt anbietet? Die beiden Macher wurden zunächst belächelt - bis ein Schallplattenlabel die zaudernden Verlage rechts überholte. Und prompt wurde eine ähnlich innovative Produktion aus dem Supposé-Verlag zum Hörbuch des Jahres 2008 gewählt: "Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit." Das Feuilleton überschlug sich, eine neue Gattung Buch wurde gefeiert, denn hier entstand aus dem Gespräch heraus in Echtzeit erinnerte Erzählung, hört man die Entstehung des fertigen Romans. Projekte, für die sich große Publikumsverlage nie hergegeben hätten, für die auch die Produktion von Hörbüchern billig, glatt und supermarktkompatibel laufen muss.

Wann ist ein Buch eine Schallplatte? Preisverleihern ist das mittlerweile ziemlich egal, der Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik 2008 ging an den kleinen, aber feinen Silberfuchs-Verlag für ein einzigartiges Konzept. Bei Silberfuchs kann man nämlich "Länder hören". Es gibt Mythen und Geschichte, Biografien und Ereignisse, Literatur und Musik unterschiedlicher Länder als Hörerlebnis auf die Ohren. Dabei gehen nicht nur Sprache und Musik eine enge Verbindung ein, es wird auch das große Erzählen wiederentdeckt, die Authentizität von Augenzeugenberichten, die Kraft gesprochener Sprache.

Der HörBild-Verlag geht einen Schritt weiter in Richtung CD-ROM. Bisher für HörBilderbücher bekannt, wagt er sich in diesem Jahr an ein außergewöhnliches Projekt. E.T.A. Hoffmanns "Die Automate" wird als "illustriertes Hörbuch" erscheinen, eindimensional hörbar im CD-Player, multimedial zu sehen und zu hören im Computer. Außergewöhnlich ist dabei, dass das klingende "Bilderbuch" nicht nur durch die Qualität der künstlerischen Illustrationen besticht, sondern sogar Hoffmanns märchenhafte Instrumente hörbar machen wird (Hörprobe derzeit nicht online).

Fazit

Eines ist gewiss: Das gedruckte Buch wird nicht sterben, es wird ergänzt werden. In bestimmten Sachbuch-Genres könnte es durch bessere technische Möglichkeiten zwar eng werden, aber der Mainstreammarkt der billigen Papierlektüre von Romanen braucht aufgrund des technischen und finanziellen Aufwands nichts zu befürchten. Multimediabücher sind sehr viel teurer in der Herstellung als gedruckte Ware und erreichen noch nicht deren Massenauflagen.

Die Wiedererfindung des Erzählens und die Rückbesinnung auf mündliche Erzähltechniken könnte jedoch umgekehrt das geschriebene Buch beeinflussen und auch buchferne Mediennutzer wieder an "ganz normale" Romane heranführen.

Während der Buchmarkt auf der herkömmlichen Seite enger wird, steigt die Textproduktion bei Multimedia sprunghaft an - bis hin zu schreiberischen Einflüssen in der Spieleentwicklung der Computerindustrie. Doch Schreiben ist nicht gleich Schreiben. Ein zu hörender Text muss anders konzipiert werden als einer, bei dem man zurückblättern und nachlesen kann. Wer mit Musik textet, muss zumindest Gespür für Musik haben, wer Audio oder Video in Texte einbindet, braucht Kenntnisse in multimedialer Dramaturgie. Zwar wird es in Zukunft mehr Textermöglichkeiten für Autoren geben, zwar werden Fachautoren vielleicht sogar gesucht werden, doch werden sich Autoren auch ungleich stärker als bisher fortbilden und ausbilden müssen. Multimediales Schreiben will gelernt sein.

Darüberhinaus verändert die Multimedia-Industrie auch die wirtschaftlichen Bedingungen, so dass Entlohnungkonzepte neu überdacht werden müssen. Dr. Walther Umstätter von der Humboldt Universität in Berlin stellte im Spektrum der Wissenschaft fest: "Ohne jede Übertreibung kann hier von geistigem Raubrittertum und von Anarchie im Informationsmarkt gesprochen werden. Bis in die Wissenschaft hinein konnten wir in den letzten Jahrzehnten massive Versuche der politischen und industriellen Einflußnahme beobachten, die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit im Wissenschaftsmanagement gefährden." Das muss sich ändern, damit Autoren auch morgen noch von ihrer Arbeit leben können und damit unzensierte Qualität von Informationen gewährleistet bleibt, so beschreibt er in seinem Artikel die Zukunft des Buches und der Bibliotheken.

(c) by Petra van Cronenburg, all rights reserved
Die Autorin entwickelt derzeit ein Sprach-Musik-kombiniertes Hörprojekt für den Verlag Der Diwan, das im Herbst 2009 erscheinen soll.

26. Dezember 2008

Warm anziehen!

Haben Sie Nierensteine oder ein Pinguinbaby im Gefrierfach? Wenn nicht, sehen Sie sich unbedingt vor! Nicht nur das neue Jahr, nein, die Zukunft des Planeten steht auf dem Spiel, möchte man den Journalisten glauben. Fox News hat eine Top Ten an Wahnsinn aus global erwärmten Journalistenhirnen gesammelt, die auch dem Hoffnungsvollsten die Fußnägel kräuseln wird.

Mein ganz persönliches Fazit: Lieber lasse ich mich von einem Hai fressen, als dass ich solche Medienspinner mariniert an Preiselbeeren serviere! Da scheinen manche gar nicht erst den Klimawandel abwarten zu wollen - sie haben längst den Kopf in der Mikrowelle.

24. Dezember 2008

Alle Jahre wieder

Es geht wieder los. Ich bin als eine bekannt, die sich Rummel, Stress und Konsum an Weihnachten konsequent verweigert. Und während man sich hier in Frankreich die Crise de Foie, die Leberkrise, anfrisst, packe ich lieber meinen Rucksack und meinen Hund für einsame Bergwanderungen. Herrliche Tage, um das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und sich Gedanken zu machen, wie man das nächste gestalten will. Im familienzentrierten Frankreich gelte ich deshalb offiziell als eine Verrückte, eine Ausgestoßene. Hier auf dem Land fühlt sich das manchmal an, als sei man die Dorfhexe, weil man einen Leberfleck hat und das Leben genießt.

Und dann kommen sie plötzlich heimlich. So wie man sich früher zur Dorfhexe geschlichen hat, weil es der Mann, die Kinder, die Eltern nicht wissen durften. Auf den ersten Blick suchen sie Rat. In Wirklichkeit Erlösung. Jedes Jahr machen sie mich zur Zuschauerin ihrer Abgründe, ihrer Kleinkriege und Verzweiflungen. Heimlich, hinter der Fassade, gestehen sie ihre Angst vor dem Fest, vor der gespielten Liebe. Zum Pfarrer können sie nicht mehr, entweder haben sie längst ihren Glauben verloren oder der. Du hast doch mal Seelsorger gelernt... Kann man das lernen, sich um Seelen zu sorgen?

Der eine hat seine Frau verlassen. Am Tag vor Heilig Abend. Sie haben sich schon lange nicht mehr richtig ausgehalten, aber unterm Weihnachtsbaum gibt es kein Entrinnen. Da blieb nur die Flucht nach vorn. Und dann brechen die Schleusen, weil man ja emotional sein soll in diesen Tagen, und es spült ein ganzes Leben hervor von inneren Qualen. Redlich hat er sich abgestrampelt, immer funktioniert - und so hat er sich die Kräfte aus dem Leib herausgestrampelt. Hat nie innegehalten, weil immer irgendwer irgendwas von ihm verlangte. Wie machst du das, dass du einfach dein Leben lebst, fragt er.

Da ist eine, die in meinen Augen märchenhaftes, gemütliches, traditionelles Weihnachten feiert, geborgen im Kreis einer Großfamilie. Wie im Film sieht es bei ihr aus, wie man sich als ganz kleines Kind Weihnachten noch vorstellte, bevor das große Nachdenken kam. Manchmal beneide ich sie fast, weil ich diese Idylle nie kannte und ich denke: Wie muss das schön sein, wenn man solch einen dekorierten Traum wirklich spüren kann. Und dann kommt sie, bevor die Familie eintrifft, atmet schwer und klagt. Dass sie nicht mehr weiß, woher die Kraft nehmen, dass es ihr jedes Jahr schwerer fällt, das Glück und die allumfassende Liebe aufrechtzuerhalten. Dass sie sich so sehnlich wünscht, ein anderer würde einmal die Foie Gras bereiten und am Kochtopf stehen. Dass sie nach den Festtagen erschöpft ist und leer, mit einer unbestimmten Angst im Bauch vor dem nächsten Fest. Denn sie kauft ganzjährig Geschenke vor, um an Weihnachten nicht mit leeren Händen dazustehen. Wie machst du das nur, dass du auf die Gans verzichten kannst? Und man muss doch schenken, sonst sind doch die anderen enttäuscht!

Wenn Weihnachten anfängt und die Läden schließen, muss ich aufpassen, dass ich nicht zum Mülleimer werde. Manche laden ihren Seelenmüll schnell mal ab, wie man sich nach dem Festtagsbraten den Mund mit der Serviette abwischt. Das Schlimme aber ist, dass die meisten innerlich echt verzweifelt sind, nicht mehr aus noch ein wissen. Die kitschigen Fassaden zeigen ihnen die Risse im eigenen Gebälk nur um so deutlicher. Der Leistungsdruck, jetzt ganz besonders funktionieren zu müssen, lässt manche zusammenbrechen, nicht selten reif für die Klinik. Und dann der Erwartungsdruck...

Der erwartet das von mir. Die erwartet aber, dass ich... Wenn ich das nicht tue, sind sie enttäuscht. Ich muss so sein, damit sie mich lieben. Ich erwarte ja auch...
Wie machst du das?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe nur diese verrückte Ansicht, dass Liebe gleich welcher Art mit Erwartungen nichts zu tun haben darf. Man sagt oft, ein Tier empfinde die reinste Liebe zu einem Menschen. Da ist was dran. Ein Tier ist nämlich einfach da. Es liebt. Bedingungslos. Und das ist der Punkt: Bedingungslos heißt, dass weder die Erwartungen des einen noch die des anderen eine Rolle spielen dürfen. Das ist einfach gesagt, Menschen sind ja bekanntlich viel fieser geboren. Mit Erwartungsdruck lässt sich nämlich so herrlich Macht ausüben. Der Wolf beißt seinen Kontrahenten kurz weg und es ist gut. Der Mensch tritt nach. Manche sind gerade an Weihnachten wahre Meister in der Kunst der emotionalen Erpressung, dieses perfiden Spiels mit dem Schuldbewusstsein.

Und dann suchen die, die es nicht mehr aushalten, die es zerstört, Erlösung von ihren eingeimpften oder selbst antrainierten Schuldgefühlen, als sei Ostern. Wie soll ich es anders machen? Die anderen wollen doch von mir... Ich schaffe es nicht...

Wenn man nicht gleich wagt, etwas anders zu machen, kann man sein Leben umschreiben. Schreiben als Testlauf für den Ernstfall. Warum nicht sich einmal für eine Stunde zurückziehen, sich die Ruhe gönnen, die jeder braucht - und seine ganz eigene Weihnachtsgeschichte schreiben? Nicht die, die abläuft. Sondern die umerfundene. Was passiert, wenn ich wage? Was passiert, wenn ich mein Leben lebe und nicht das der anderen? Was passiert, wenn ich meine Bedürfnisse und Grenzen äußere, anstatt mich dem unterzuordnen, was andere von mir erwarten? Was passiert, wenn ich agiere statt immer nur zu reagieren?

Was soll ich denn da schreiben? Na ja, stell dir vor, was wäre, wenn du rechtzeitig vor dem Fest sagst, dass du keine Kraft hast, die Familie zu beköstigen. Wie wäre es, wenn du darum bittest, dass jemand anderes kocht? Oder stell dir vor, ihr teilt euch die Aufgaben, die Festorte? Schreib dein Wunschweihnachten auf! Wie sähe es aus, wenn du wirklich ganz und gar frei wärst? Vielleicht verlässt du deine Frau nicht einfach holterdipolter? Warum schreibst du nicht stattdessen einen Weihnachtsbrief, zunächst nur für dich ganz allein - in dem du nachdenkst, was in diesem Jahr alles falsch gelaufen ist? Kannst du eine Geschichte entwerfen, in der es mit euch funktionieren würde? Was müsste sich verändern? Was geschehen ist, ist geschehen. Aber wenn man die Geschichte einfach umerfindet, kann man verblüffend neue Geschichten entdecken... Geschichten verändern ihre Protagonisten. Und Veränderung birgt Chancen.

Wirklich, ich gebe das im Moment jedem als Hausaufgabe, der sich bei mir ausweint. Weil ich glaube, dass man sich selbst erlösen muss, auch wenn es weh tut und Mühe macht. Es lässt sich nur lieben, wenn man "ganz" ist, eine eigenständige, unabhängige Persönlichkeit, die sich befreit von lebenserdrückenden Erwartungsspielchen. Liebe geben zu können, wenn es keiner erwartet - sich Ruhe und Besinnung zu gönnen, wenn die anderen anderes erwarten - das ist wirklich ein Geschenk. Weil es bedingunglos von Herzen kommt.

23. Dezember 2008

Heute ist Fluchen noch erlaubt...

...und deshalb erklang auch einer von mir, absolut nicht veröffentlichungsfähig in polnisch-französischem Mix, weil man da besser die Sau rauslassen kann als im Deutschen.

Ich hatte einen richtig ausführlichen Artikel verfasst, der sich mit der Zukunftsmusik des Schreibens befasste, Pseudoneuerungen analysierte und tragfähige multimediale Produktionen unter die Lupe nahm. So richtig schön mit Links und Querverweisen zum Eigenstudium. Hat also Arbeit gemacht.

Bei einer multimedialen Hörsehprobe für einen Link ist dann still, heimlich und plötzlich Firefox abgestürzt. Inklusive seines Zwischenspeichers.

Ich nehme es nun lässig: Sprachlich war der Artikel 2. Klasse. Und weil ich die Tage erst mal für Geld arbeiten muss, verspreche ich: Das Thema ist noch nicht gegessen! Demnächst in dieser Klause...

Den Leserinnen und Lesern meiner Kolumne wünsche ich fluchursachenfreie, entspannte und bereichernde Feiertage! Und bedanke mich ganz herzlich für die Treue und das Interesse, das diesen Laden am Dampfen hält!

22. Dezember 2008

Zwiesprache mit den Guglhupfern

Wahahahainachtszeit - allezeit hilfsbereit ... nach diesem Motto möchte ich mich nun doch noch einmal um die armen irregeleiteten Guglhupfer kümmern, die nach ihren Suchmaschinenanfragen auf "cronenburg" wahrscheinlich die Enttäuschung des Jahres erleben.

Hörbuchtipp Hörbuch Tipp Hörbuchtip

Egal, wie man es schreibt, ich freue mich natürlich, dass "cronenburg" hier bereits eine Hilfe sein kann, zumal es im Herbst 2009 ja auch von mir ein Hörprojekt geben wird. Wem das zu lang wird, dem empfehle ich völlig uneigennützig das Gesamtprogramm des Hörhaus-Verlagsverbunds zum Vorschnüffeln (eben ist das Frühjahrsprogramm frisch eingetroffen!). Mein Hör"buch" wird nämlich bei "Der Diwan" erscheinen.

Sinngeschichte Neujahr

Sinnsprüche sind Sache von Viola Beer, die Zitatebücher verfasst hat, wenn ich nicht zugeschaut habe. Ansonsten treibe ich viel zu viel Unsinn und suche Sinn im ganz alltäglichen Wahnsinn.

kolumne neues jahr neue liebe

Die alte liegt hoffentlich schon im Müll? Und bitte alte Lieben immer als Sondermüll entsorgen, wegen der Rückstände!

friseure in rastatt falsch gefärbt

Wer war's? Zufällig geh ich nämlich im gleichen Kaff zum Friseur. Aber meine Friseuse hat noch keine grüne Haut.

prämisse zum roman manuskript

Völlig falsch hier. Heiß ich Frey? Ich backe Kuchen, keine Manuskripte.

mehltau rauchen

Nicht schon wieder. Nicht immer noch. Könnt ihr euch nichts anderes leisten? Wie wär's mit Rosenrost rauchen, Rosenmilben essen, Blattläuse sniffen oder 'ner Linie E 605?

abfluss literatur

Nennt man Dichten.

geschichte über heidenreich

Es war einmal eine Heide, die das reiche Blühen einstellte, als ein Flugzeug voller Fernsehintendanten über ihr abstürzte.

winterparfum

Ich empfehle Karl Valentin, passend zum Winterzahnstocher.

entwicklungsland deutsch

Ja.

rechtefreie weihnachten

Geht nur wenn Mr. Santa schon über 70 Jahre tot ist und Christkindl nicht bei der GEMA gemeldet.

pfusch bei verlag

Wer war's? Bitte das nächste Mal unbedingt Namen nennen!

deutsche geruch

Ich glaube, die Stasi hat sowas früher auf Gläser aufgezogen?

teuer schreiben schuhe

Schuhe lohnen sich nicht als Abschreibungsobjekt, als Autor sollte man jedoch besonders haltbare kaufen, weil man sich nicht oft neue leisten kann. Oder war schon die Anfrage Literatur?

engel

Mein Hund hat auf der Wiese irgendwas in einem Happs geschnappt und mit seligem Blick gefressen.

siff canabis

Sag ich doch. Mehltau.

rezepte statt angst

Siehe meine Erste Hilfe unten.

kleine werbeagentur

Werbung nein, PR ja, Siehe Link rechts: "rent an author".

körperfunktionen körper

Das Buch heißt "Meine wichtigsten Körperfunktionen" und ich habe die Hörbuchversion mit Oliver Korittke besprochen.

vernichtung einer teegesellschaft

Wow. Welch ein Schlusswort!

Die dumme Frage

Warum wünscht man derzeit allen einen guten Rutsch und tut dann entsetzt, wenn sich jemand wirklich die Haxen bricht?

21. Dezember 2008

Erste Hilfe

Extraservice - just in time!
Weihnachten ist bekanntlich die Zeit schlimmsten Durchdrehens; Polizeiposten, psychiatrische Kliniken und Notfallaufnahmen haben alle Hände voll zu tun; Papa haut sich den Wanst voll, Mama haut Papa, Töchterchen haut ab und Söhnchen haut es den Verstand weg.
Ich finde, das muss nicht sein. Ein nettes Liedlein zur rechten Zeit auf den Lippen, traut im Familienkreise intoniert, könnte so manche Aggression im Keim ersticken und beim Verdauen fetter Gänse helfen.

Mein Tipp für Notfälle: Karaoke mit Eric Idle (Monty Python). Und damit Omma nicht den Infarkt bekommt, gibt's für sanftere Gemüter ein Weihnachtsmärchen von John Cleese.



Fragen Sie vor dem Abspielen nicht Ihren Arzt oder Priester.

Medienkompost

Hier und da aus den Medien gepickt, weil es der Autorin auffiel, zum Wiederlesen oder Kompostieren geeignet:

Ralf Schwartz analysiert in der mediaclinique die Werbung für Stihl-Motorsägen und findet: "Für den nachhaltigen Erfolg jedoch ist Kompetenz wichtiger als Glamour." Mit Horror erkenne ich Parallelen zwischen einigen Bucherzeugnissen und Kettensägen (neu, spannend, wallende Cover-Damen mit abgesägten Köpfen, eigene Marke und Produkt verstehen lernen etc.)

Ebenfalls in der mediaclinique kann man lernen, warum Blogs manchmal Printmedien voraus sind und worauf es bei der Leserbindung ankommt.

Mehrere Wissenschaftler haben sich Gedanken um den Einfluss neuer Medien auf Schreib- und Leseverhalten gemacht. Das Ergebnis liest sich wie ein Gruselschocker aus Hollywood: Pfannkuchenmenschen, die keine Autoren mehr brauchen, erobern einen Google-Planeten der Algorithmen.

Das Fernsehen empfahl gestern das rund 1000seitige Mammutwerk: 30.000 Jahre Kunst. Das künstlerische Schaffen der Menschheit durch Zeit und Raum, erschienen im Phaidon Verlag. Auch ich lechze nach diesem Kompendium. Nicht nur als Standardwerk und schönes Buch mit rund 1000 Objekten. Denn es schafft, was Kunsthistoriker sonst nicht oft wagen: Werke aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen werden nach Gesichtspunkten des Sehens miteinander verglichen. Otto Normalverbraucher kennt den Effekt aus Museen: "Das hab ich doch irgendwo schon mal gesehen". So wird Kunst interkulturell erfahrbar.

Bei Medienlese kann man lernen, welche Eigenschaften ein subversives, alternatives Feuilleton haben müsste. Machen statt Jammern, sei den Zeitungen entgegengerufen. Vergeblich.

Die Tagesschau empfiehlt eine Umschulung zur Hexe.

Die Achse des Guten sagt der Bundesbeauftragten "für Sachen, die den Staat einen feuchten Dreck angehen", wie man effektiver Gelder versenken kann.

Wilhelm Genazino befindet sich in Bahnhofsversunkenheit und ich frage mich, warum ich dabei an das Warten eines Autors auf einen Verlag denken muss. (Und wundere mich, warum ich die Seite der NZZ zwei mal zoomen darf, um sie überhaupt entziffern zu können).

Und allüberall im Feuilleton kann man lesen, dass Breloers Buddenbrooks-Verfilmung ganz genau so geraten ist wie die neue Generation Buch: Schöner, größer, prächtiger, praller. Auf Inhalte oder gar Kritik an einer Gesellschaftsform - von Manns Aktualität ganz zu schweigen - kommt es nicht mehr an. Womit wir wieder bei den glamourösen Kettensägen wären.

20. Dezember 2008

Ein Jahr in den Koffer gesteckt

Das Opferfest der Muslime ist vorbei, es stehen noch Channuka und Weihnachten an - und wir alle zusammen müssen uns sputen, neue Kalender zu kaufen, weil die alten sehr schütter werden. Zeit für einen ganz privaten Jahresrückblick. Wie aber sortiere ich das Jahr 2008? Es ist heuer ganz einfach: Es war besch...(eiden). So dämlich und debil kann 2009 gar nicht werden.

Als mir zwei Fastverträge urplötzlich platzten, dachte ich noch naiv an Frühlingsgewitter. Da hatte halt mal der eine den anderen gekauft und kein Geld mehr vom anderen, um andere zu kaufen, und dann hatte der eine keine Lust auf den Kram vom anderen und suchte anderen Kram, und dann wollte ich nicht kramen, schon gar nicht anders. Später Arbeit an einem großen Genußprojekt passend für einen Verlag, der bedauert, haargenau dieses gerade an eine Hausautorin vergeben zu haben. All das kann jedem passieren. Ich habe als Kind im Kaufladen auch nie Waschpulver gekauft, wenn es Liebesperlen gab. Man muss sein Geld zusammenhalten für all die freundlichen Übernahmen durch rote Gummibärchen, die dann doch zuerst gefressen werden.

Das Geld ging mir dann aber ganz fix aus, weil andere, die noch nicht verkauft oder gekauft oder überhaupt wussten, wie man kauft, auch nicht wussten, wie man Entscheidungen trifft und wer da wen mit seinen Entscheidungen treffen könnte. Rrrrrisikoooo, schwähäre Entscheidungen, da müssen wir erst die dritte Konferenz hinter der fünften überstehen, schwärend, und den Vor-Während-Nachbuchmesserummel dazu und dann ist Weihnachten. Und jetzt, wo der Lover die Lektorin im Stich gelassen hat und der Chef am Morgen ins Büro dampft und auch nicht weiß, was er will, und eigentlich nur wütend ist, weil das Meeting gleichzeitig mit seinem Kater, und der Wodka ist in diesem Jahr auch schlechter geworden, wie Katzenpisse, die stürzt auch ständig vom Himmel, dass man in diesem Sommer keinen Hund vor die Tür jagt.

It's raining cats and dogs in vielen Entscheiderhirnen und dann lief da was aus und keiner wusste wohin, und ein Starautor nannte das die große geistige Krise in der Verlagsbranche und im Feuilleton. So, jetzt ist es öffentlich benannt, es läuft darum nicht weniger und die Inkontinenz des Jahres 2008 ergießt sich ins Darwin'sche 2009, survival of the fittest. Endlich funktioniert Evolution wieder, die Klimakrise macht die Ölknappheit zunichte; Leute, die Geld vernichten, bekommen Geld geschenkt und vernichten auch das, und Nischenbewohner, die früher im Mainstream nichts zu sagen hatten, erobern das Weiße Haus und die Kunst.

Dann der Sommer mit Kontrastprogramm. Regen auf Rosen. Rosen in einem Tabakschuppen und eine völlig neue Welt. (Da war ja dieses neue Buch, über das ich mich so freute, wenn ich denn zum Freuen kam). Ich begriff, dass Innovation, Kunst und wahres Unternehmertum längst nicht mehr dort sitzen, wo Unternehmensberater und Werbefachleute diese Eigenschaften hinreden wollen. Die ganz Mutigen, die wirklich Kreativen, die Jetzt-Trotzdem-Leute brodeln von unten. Sie handeln, während andere in Dauermeetings das Leben verschnarchen. Sie improvisieren und erfinden, während andere die Sicherheit anbeten. Sie unterwandern PISA und Schund und schlagen dem Kitsch freche Schnippchen. Sie entscheiden. Hier und jetzt. Ohne Wenn und Aber.

Ich fühlte mich wohl an jenem Sommertag. Ich ahnte nicht, wie sehr er mich verändern würde.
Und als es ganz vorbei war mit Sicherheit und Planbarkeit, kam der Zauber. Irgendwie immer just in time. Wundervolle Lesungen vor wundervollem Publikum, das mir meinen Weg bestätigte. Ein Übersetzungsauftrag für einen deutsch-französischen Theaterabend. Viele Anfragen für genussreiche Sinnesreisen aus dem Publikum, von Veranstaltern, und in den großen Verlagen wieder nur Dauervermeidungskonferenzen, Bedenkenträgergesichter, Risikoscheue, Berufsabwarter. Aber Trotz macht schwanger und so wurde Gina Grumbier mit ihrem Koffer für die Bühne geboren, weil Text kein Buch braucht, um Geschichten aus dem Koffer zu erzählen.

Die gute Gina ahnte nicht, wie sie ihre Autorin veränderte. Gegen Jahresende das neue große Projekt, völlig überraschend, direkt fürs Hören mit Text und Musik - und schnell gehen muss alles, man konferenzt sich nicht zu Tode, sondern macht. Endlich wirklich und richtig kreativ sein dürfen. Das Arbeiten ein Rausch. Das Schreiben nimmt neue Formen an. Frischer Wind im Gehirn. Und ein leiser Schrei aus der Schublade.

Nicht nur Gina hat einen Koffer. Da war noch dieser Roman mit dem Koffer. Der so anders war. Der mit dem Kein-Zurück. Heimliches Schreiben. Die Autorin träumt inzwischen nachts von Koffern. Muss eiligst das Nötige packen, flüchten, immer wieder flüchten. Da sind dunkle Gestalten in Dauermeetings. Da sind böse Geheimdienstler, die über Geschmack und Verblödung des Publikums bestimmen wollen. Da droht die Konsummafia. Nichts wie weg. Zum Glück alles nur ein böser Traum, keine Paranoia. Die Autorin findet im Keller einen uralten Emigrantenkoffer für Gina. Qualität fürs Unterdeck. Sie schreibt. Währenddessen geht im Text unsichtbar die Titanic unter, die schöne glatte Luxuswelt.

Gestern war die Autorin wieder in jenem Tabakschuppen, in dem alles angefangen hatte. Wo jenes Jetzt-erst-recht geboren wurde. Wo Kunst und Literatur sie infiltrierten. Wo sie Publikum fand, das gern liest und genießt und doch gute Bücher immer mehr vermisst. Wo sie mit einer Frau am Tisch saß, ohne dass beide ahnten, dass sie einmal ein Projekt zusammen machen würden. Wo die Schnapsidee mit der Bühne entstand und Gina ihren Nachnamen bekam.

Es ging alles ganz schnell. Gina Grumbier wurde engagiert. Wird mit ihrem Koffer im Juni 2009 dort auftreten. Und als die Autorin hochblickte, um die Bühne zu inspizieren, stieg ein seltsames Lachen in ihr auf wie Himbeerbrause. Die riesigen uralten Schrankkoffer dort oben kamen als Bühnenbild gerade richtig.

Und damit wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von "cronenburg" mutiges "Kofferpacken" und improvisierende Beweglichkeit für 2009 - und ein paar erholsame, entspannende freie Tage, in denen man das machen kann, was mein Hund so perfekt beherrscht: Abschütteln, einfach all den Dreck und die Dummheit des alten Jahres abschütteln!

In der Kolumne wird es die Tage etwas stiller werden. Nicht, weil ich Weihnachten feiere, sondern weil ich die Ruhe nutzen werde, um zu überlegen, wie ich meine Visionen für 2009 praktisch ins Leben rufen kann. Auch wenn es manchen schon abgedroschen klingt, Martin Luther King dachte schon darüber nach: "I have a dream" - und manchmal dauert es unendlich lange, muss man elend durchhalten, bis sich ein Traum umsetzen lässt. Aber irgendwann gelingt es immer, wenn man denn die eigenen Träume vorher nicht verrät.

18. Dezember 2008

Rosen nicht nur am Weihnachtsbaum

Ich freue mich gerade riesig, dass meine bebilderte Kulturgeschichte "Das Buch der Rose" als Geschenk für Weihnachten fast noch beliebter ist als zur Blütezeit im Mai!

Und das, wo ich eben im Garten noch wunderschöne englische Rosen geschnitten habe. Weil es immer mehr blühende Varietäten im Dezember gibt, ist es interessant zu beobachten, wie sich der Duft mit den Temperaturen verändert. Meine "Dark Lady" von Austin riecht z.B. im Sommer edel nach Rosenöl, mit leichter Honignote - und nun ganz lustig nach süßen Himbeerbonbons.

Übrigens ist die Rose tatsächlich auch eine uralte Weihnachtsblume. Als es noch keine Christbaumkugeln gab oder sich die Leute diese nicht leisten konnten, nahm man im Elsass rote Rosenblüten als Schmuck für den Weihnachtsbaum (passend zum Lied "Es ist ein Ros' entsprungen"). Und weil das Klima die Rosenernte im Winter selten zuließ, bastelte man sie aus Seiden- oder Krepp-Papier. So wurde der Christbaum zum echten "Lebensbaum", von dem er ja ursprünglich abstammt.

In Polen, wo die Winter um einiges kälter, härter und dunkler sind, habe ich noch die traditionellen Papierdekorationen gesehen, die im Winter Farbe und einen Hauch von Sommertraum in die Häuser bringen. Früher haben die alten Frauen wirklich alles in Scherenschnitttechnik aus buntem Seidenpapier geschnitten, sogar den opulenten Lüster für die ärmliche Bauernstube oder "Spitzenvorhänge" fürs Fenster. "Die Welt" nennt man diese wunderschönen üppigen Gehänge. Und natürlich durften rote Rosen in jenen herrlich bunten Zimmern nicht fehlen, als Gehänge, als Teil von Blumengirlanden, irgendwo angezweckt oder als Tischschmuck - und immer billig aus Papier hergestellt. So hat man sich die Laune aufgehellt, wenn der Winter ein halbes Jahr dauerte.

Rosen basteln:
Mit Seidenpapier ist das Basteln der falschen Rosen ganz einfach: Man schneidet Bahnen etwa 2-3 mal so hoch wie die fertige Rosenblüte. Ohne sie zu knicken, legt man die Bahn locker in ihrer Höhe auf die Hälfte übereinander, die Schnittflächen zeigen nach unten. Das Ganze etwas zurechtknuffen wie einen Schlauch. Das eine Ende dieses Schlauchs relativ eng zusammendrehen (Blüteninneres) und dann beim weiteren Herumwinden lockerer werden. Dabei ruhig unregelmäßig herumwinden, so wird die Blüte natürlicher. Die fertige Rosenblüte unten mit Floristendraht zusammendrehen und zurechtzupfen. Den Rest des Drahts kann man zum Befestigen verwenden oder mit Streifen von grünem Seidenpapier als Rosenstiel umwickeln. Solche Dekorationen eignen sich natürlich nicht nur für Weihnachten, sondern auch für Geburtstage, Hochzeiten und jeden Tag, den man zum Fest machen will. Rosenblüten aus Geschenkbändern oder Stoffresten (zum Anstecken) werden übrigens ähnlich hergestellt.

Weitere Basteltipps für Rosen:
Blumen aus vielen Materialien
Rosen aus Papier für Fortgeschrittene
Serviettenrosen
Edle Origami-Rosen
Origami-Rosen mit youtube lernen
Zwei einfache Methoden für Krepp- und Seidenpapier
Papierrosen als Verpackungsdeko

Lesetipp:
Petra van Cronenburg: Das Buch der Rose, Parthas Verlag Berlin.

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Drei Gedenkminuten

Gestern hat die Ölindustrie geklagt, dass es ihr ganz gleich bald ganz furchtbar dreckig gehen werde, wenn die Preise weiter so sinken. Keine Rede mehr vom Abzocken davor, von den durch Spekulation hochgetriebenen Maximalpreisen und exorbitanten Gewinnen. Keine Rede mehr davon, dass alles wegen der hohen Ölpreise teurer wurde und jetzt seltsamerweise nicht billiger wird. Der Ölindustrie geht es schlecht, die Gewinne sinken! Habt Mitleid! Wollen wir eine Minute für die armen Kerls schweigen.

Immer mehr Banken, immer mehr Unternehmen sind in der Krise und betteln um Geld. Immer mehr Steuerzahler verschenken immer mehr Steuergelder, damit ein System künstlich am Leben gehalten wird, dass Steuerzahler immer ärmer gemacht hat und machen wird. Gedenken wir der armen Banker und Unternehmer, die den Karren an die Wand gefahren haben und heuer mit dem billigeren Champagner vorlieb nehmen müssen.

Und ich gedenke dieses wunderbaren und hochintelligenten Verlags da draußen, der in umwerfender Weitsicht, genialischer Einsicht in die Herzen seiner Leser und verblüffender Wirtschaftsanalyse in diesem Jahr ein Projekt von mir ablehnte mit der Begründung: "Öl ist so teuer geworden, die Leute schimpfen über die Preise, die wollen nicht auch noch Geld für ein Buch über so ein Thema ausgeben! Wir brauchen jetzt Nettes, Idyllisches." Darauf werde ich mit einem netten 1,50 E- Vin Mousseux anstoßen und kurz kichern.

17. Dezember 2008

Punkt und Schluss

In einer intelligenten, verblüffend eingängigen Analyse fragt sich die Journalistin Carolin Emcke, warum die Wirtschaftskrise nicht als Chance begriffen wird, als Punkt für einen Neuanfang.
In Detroit karrt man derweil Autos vor den Altar und betet an ... wen oder was?
Und einer, der Scheinrealität hinterfragt, hat die Idee: Wenn alles Shit ist, macht endlich mal - und glaubt nicht so viel.
Man mag angesichts der Verlagskrise fast auf subversive oder mindestens seltsame Gedanken kommen.

Ob wir wollen oder nicht

Der Mensch ist ein seltsamer Vermeider. Manchmal vermeidet er sogar das eigene Glück. Wer mich gut kennt, schmunzelt schon über meine Kolumne. Kann es sein, dass du gerade daran arbeitest, dich selbst zu überzeugen, endlich zu wagen?, fragte mich einer. Und dann schmunzle ich - über mich selbst. Darüber, dass ich mir seit Jahren selbst einbläue, wie unvernünftig es wäre, sich über die Vernunft hinwegzusetzen, die vermeintliche. So ein ordentlicher Autor hat an Sicherheiten zu denken, an Märkte, an das eigene Unvermögen noch vor dem Können und überhaupt. Die sogenannte Vernunft findet immer einen Grund zur Selbstverhinderung. Ein ordentlicher Autor hat Schubladen, in denen er alles Unordentliche versenkt.

Zum Glück führen Schubladen ein Eigenleben. Innerlich grinsend habe ich mir gerade angeschaut, wie es zu meinem "heimlichen Schreiben" gekommen war. Ich finde Dateien aus dem Jahr 2003 - und was da drin steckt, kommt inhaltlich aus den Neunzigern. Die Geschichte dieses Projekts, dass sich zwischendurch grundsätzlich gewandelt hat, mehrfach, zeigt mir jetzt: Da hat jemand fünf Jahre lang alles versucht, sich vor dem Sprung in kalte Wasser zu drücken. Da hat jemand geändert, erfunden, getextet, um nur ja nicht eine gewisse Linie überschreiten zu müssen, hinter der es kein Zurück mehr gibt. Eine Angsthäsin, immer fein auf schreiberische Vernunft bedacht. Wer so schreibt, schreibt Müll. Zum Glück gibt es dafür Schubladen.

Aber manches Zwangsversenkte gibt keine Ruhe. Es zerrt sich ins Leben zurück. Vielleicht bestimmen Geschichten, dass sie geschrieben werden wollen, nicht Autoren? Kaum mehr etwas ist übrig von dem Schubladenmüll. Völlig neue Geschichte, neue Texte - heimlich geschrieben. Und dann die Erkenntnis, dass das heimliche Schreiben nur die letzte Ausrede ist. Noch kann ich so tun, als existiere es nicht, als könne ich jederzeit wieder zur schreiberischen Vernunft zurückkehren. Aber dann lese ich abends durch, was ich gerade "offiziell" für einen Verlag schreibe - und ich bemerke, die Linie ist längst überschritten. Das Zurück eine Einbildung. Und ist es denn noch heimlich, wenn man öffentlich darüber sinniert?

Da hat es erst ein Jahr geben müssen, in dem die sogenannte Vernunft in der Verlagswelt bröckelt und Zeitenwenden sichtbar werden. In jenem Projekt gibt es einen Koffer, den jemand nicht zu öffnen wagt. Seltsam, wie tief man sich einreden kann, an Schubladen nicht zu rühren. Und dann stehe ich morgens auf und stolpere über ein Buch, dass ich ebenfalls in diesem Jahr bei der Lesung seines Autors gekauft habe - am gleichen Ort, an dem mein "offizieller" Dingens vorgeboren wurde. Als ich den Titel lese, muss ich lachen. Das nennt man "richtiges Buch zur richtigen Zeit am richtigen Ort"!

Lesetipp:
Karl Heinz Ott: Ob wir wollen oder nicht, Hoffmann und Campe

16. Dezember 2008

Grüne Weihnacht

Drei besondere Geschenktipps habe ich heute - und sie sind passend zur Tapete hier alle irgendwie grün. Will heißen: Man kann sie auch als Weihnachtsabstinenzler genießen und vor allem - das ganze Jahr über verschenken.

Livestream: Wintersonnenwende in Irland

Die Freude kann man sich kostenlos mit einem Mausklick machen, denn der leibliche Zugang wird jährlich nur sehr begrenzt in einer Lotterie vergeben, um die achäologische Fundstätte zu schützen. Ich selbst hatte immerhin schon einmal das Vergnügen, bei einer Simulation dabei zu sein, ein unvergessliches Erlebnis. Die Rede ist von der irischen Steinzeitanlage Newgrange, die nicht nur als Grabanlage, sondern auch für Zeremonien gebaut worden war. Genau zur Wintersonnenwende trifft dort ein Lichtstrahl ins Innere der sonst komplett dunklen Anlagen und wandert durch einen Gang in eine bestimmte Kammer. Frohe Botschaft schon für die Steinzeitmenschen: an diesem Tag werden die Nächte wieder kürzer, die Tage länger, das Licht kehrt zurück.

Den Live-Stream im Internet gibt es von den rührigen Iren am Tag der Wintersonnenwende, dem 21.12. zwischen 8:30 und 9:30 morgens, denn die Sonne geht derzeit kurz vor neun Uhr auf. Wer nicht dabei sein kann, bekommt auch nachträglich Aufnahmen und jede Menge Infos auf der Newgrange-Seite.

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Musik: Strange New Land (Nadia Birkenstock)

Ich bin stolze Besitzerin all ihrer CDs und wundere mich immer wieder von Neuem. Dieser Musikerin mag man kaum abnehmen, dass sie nicht aus Irland oder wenigstens Schottland stammt! Musikerin ist übrigens zu wenig gesagt, Nadia Birkenstock ist nicht nur Profi an der keltischen Harfe, sondern auch in der Stimme. "Strange New Land" kommt in betörend schöner Aufmachung daher wie ein Juwel aus einem exotisch grünen Land. Das Album enthält diesmal Stücke, die Nadia Birkenstock selbst geschrieben und arrangiert hat - und die sind ideal dafür geeignet, in eben jenes grüne Wunderland zu driften, vom Alltag abzuschalten und gute Laune zu züchten. Oder ganz einfach die Schönheit von Musik zu genießen.

Allerdings wäre es viel zu schade, die CD nur als Untermalung zu benutzen, denn sie entwickelt ihre Qualitäten mit jedem neuen Hinhören stärker. Nadias glasklare Stimme zur perlenden Harfe, die Arrangements der anderen Instrumente (Gabriele Steinfeld: Violine, Elisabeth Wand: Violoncello, Tom McConville: Fiddle, Romin Katzer: Percussion, Oliver Jochims: Bodhran) - das verhält sich zum üblichen Irish Folk etwa wie eine wertvolle Inkunabel aus alten Zeiten zum Buntbild einer Zeitschrift. Hier treffen sich traditionelle Weisen mit moderner Lebensfreude, klingt klassische Musik mit tänzerischen Rhythmen. Irgendetwas hat diese Musik von alten keltischen Knotenmustern: Beim ersten Hören klingt sie eingängig und schlicht - folgt man einem Strang, ist man gefangen, will jeden neuen Knotenpunkt erkunden - und entdeckt eine fein gesponnene, reiche, neue Welt, von der man sich nicht mehr trennen mag.

CD Strange New Land von Nadia Birkenstock, erschienen 2008 bei Laika Records (3510245.2) - Für Tourdaten in Deutschland ihre Website besuchen (Namen anklicken, die Fotos zur CD sind übrigens eine Augenweide)!

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Musik: To rooms curved as wombs von Vic Fin

Diese CD ist dreifach grün. Grün wie diese Neuentdeckungen sehr seltener Perlen, die einem im Alltag leider nie automatisch vor die Füße rollen. Grün im Design. Und grün wie das berühmte "Heavenly Grass" von Tennessee Williams. Damit ist auch schon gesagt, dass Literaturliebhaber hier ganz besondere Freuden finden: Vic Fin benutzt nicht nur Originallesefragmente von Tennessee Williams und Alex Haley, sie komponieren aus den Worten heraus eine eigenständige musikalische Kunstform. "My feet took a walk in heavenly grass" wird dabei zum Programm, auf eben diesen Spaziergang werden die Zuhörer abgeholt, auf eine leise wie kraftvolle Reise zwischen Jazz und Ambiance, Literaturvertonung und Experimentalklängen, Ohrwurmqualitäten (summer breeze!) und Stimmüberraschungen.

So kann man das Zielpublikum zum Glück kaum eingrenzen, der Name des Labels beschreibt es besser: Music for open minds, "Musik für offene Genießer" möchte ich das übersetzen. Neben der Literatur gibt's auch Musikanspielungen aus der Geschichte, etwa den Song "i dreamed serge gainsbourg is still alive". Glanzstück dieser Mischungen mit der Historie ist ein Mix, an dem man sich nicht satthören kann: "unhappy diva". Puristen müssen sich in Acht nehmen, denn hier singt Maria Callas in gar nicht mehr so virtueller Zwiesprache mit einem modernen Musiker (Originalaufnahme aus Lakmé von Delibes von 1954) und bekommt in all ihrer Melancholie ungeahnte Dance-Qualitäten.

Die größte Entdeckung für mich ist die Stimme von James O. Belcher, die einem mehr als nur unter die Haut geht. Der Mann ist unverschämt reich an Timbres und Stimmlagen, die er wechselt, als würde nur der Wind über das himmlische Gras streichen ... Und wenn er dann auch noch Tennessee Williams spricht und singt (they that come late to the dance), dann läuft man schon barfuß über Samt und spürt den Soul in der Lyrik.
In meinem Haus wurde die CD sowohl von 70jährigen Jazz-Hardlinern wie von jungen Leuten, die einen "tollen Hintergrund" für Parties mögen, als Suchtstoff empfunden.

CD To rooms curved as wombs von Vic Fin, erschienen 2008 bei Music for open minds (MFOM008)

14. Dezember 2008

Synapsensalat

Eben ist mir etwas komplett Verrücktes passiert. Seit Tagen höre ich Gustav Mahler und weiß nicht warum. Und ich höre die große polnische Chansoneuse Ewa Demarczyk (bei youtube), weil mir sprachlich etwas auffällt, das ich nicht fassen, nur fühlen kann (der Zusammenhang wird nicht verraten). Heute morgen komme ich in meinem Beitrag über die Schule ausgerechnet auf Thomas Mann und "Tod in Venedig", mein Kultbuch aus der Jugend sozusagen. Anschließend suche ich mir den Band mit Thomas Mann's eigenen Kommentaren heraus und lese mich fest.

Und eben fiel es wie Schuppen von meinen Augen, weil all diese Fäden sich plötzlich verknüpften. Thomas Mann muss meinen Dingens gekannt haben! Da starb Gustav Mahler gerade. Der Synapsenklick hat enorme Folgen für das, was ich gerade schreibe. "Revelation" nennt man das im Französischen... (und zum Glück kommt das aus dem Hirn und nicht aus dem Darm, wie die "Bauchschreiber" immer behaupten...)

Folterwerkstatt Schule

Mir fällt auf, dass sich an unterschiedlichen Stellen im Internet Hobbyschreiber und selbst Autoren über extrem negative Schulerlebnisse auslassen, bei denen vor allem die Lektüren schlecht wegkommen. Ich bekomme den Eindruck, Schule vergälle einem grundsätzlich das Lesen und Autoren vergällen einem die Schule. Und ich schüttele den Kopf, etwas fassungslos, denn entweder bin ich unter diesen Leuten der Alien oder ich habe eine wirklich verrückte Schule genossen. Ohne meine Schule, ohne meine Schullektüren und die Schulbibliothek wäre ich heute ein Nichts. Ich hatte nicht das Glück, ins Bildungsbürgertum geboren zu werden, ich lebte nicht in einer Bücherkultur - für mich war die Schule der Einblick in diese neuen Welten - und die Chance meines Lebens. Als eines der ganz wenigen Arbeiterkinder litt ich zwar unter schnöseligen Klassenkameraden, aber die Lehrer setzten als Kriterium Grips, nicht Geld.

Ich war wohl verrückt, dass mir Schule Spaß machte und dass ich mich freiwillig foltern ließ. Als ich mit elf Jahren im freiwilligen Altgriechischkurs bunte Konjugationstabellen auf Packpapier entwarf, war das keine Hausaufgabe, sondern Spaßvergnügen. Als jener Lehrer uns Anfängern den ersten Text vorlegte, stöhnten alle auf. Da stand darunter die Wort-für-Wort-Übersetzung in Italienisch, Französisch, Spanisch, Lateinisch, Hebräisch, arabischer Umschrift und - Sanskrit! Wir waren im ersten Jahr Latein, keine weiteren Fremdsprachen. Der Mann musste durchgeknallt sein! Und er verbot uns, Vokabeln auswendig zu lernen! Erfühlen sollten wir sie, zerlegen, Wurzelverwandtschaften ahnen. Guten Tag, du Wort, wie heißt du? Ich glaube, ich bin kürzlich deiner Tante in Indien begegnet, die hieß so ähnlich. Ach, dein spanischer Vetter bedeutet das auch?!

Der Mann war in unseren Augen nicht der einzige Verrückte. Ein anderer Griechischlehrer hatte eben ein System entwickelt, ohne Sprachen zu erlernen, Zeitungen in Dänisch, Schwedisch und Norwegisch querzulesen. Und einer gab mir eine gute Note, weil ich die Vokabel nicht sagen konnte, aber genau wusste, dass sie in der ersten Spalte die dritte von oben war, und fotografisch erinnerte, was auf der Seite stand. Mindestens die gleiche Hirnleistung, fand er. Ich erkannte erst in Studienzeiten, welches Geschenk uns diese "Verrückten" gemacht hatten: Etymologisches Sprachgefühl, linguistische Fähigkeiten, ein Gefühl für Sprache. Sprachen fielen mir zu und auch ich lese manchmal Zeitungen in Sprachen, die ich nie gelernt habe. Ein deutsches Wort ist für mich nicht einfach ein Wort, es ist Klang, es hat feinste inhaltliche Nuancen gegenüber seinem nur scheinbar gleichbedeutenden Nachbar, die anders sind. Als Kinder hatten wir Schatzkisten, in denen wir Wörter sammelten - jeden Tag ein besonderes Wort.

Unser Deutschlehrer, den ich dann im Leistungskurs genossen habe (Gymnasium in den Siebzigern), war der Verrückteste von allen. Ich fürchtete ihn. Ich hasste ihn manchmal. Er brachte mich auf die Palme. Und er faszinierte uns trotzdem alle. Er verlangte Unmenschliches. Seine Hausaufgaben wären auch nicht zu schaffen gewesen, wenn wir keine anderen Fächer gehabt hätten. Zwei mal die Woche ein Buch lesen, Inhaltsangabe und Kurzinterpretation - wann sollten wir ins Schwimmbad gehen? Wir schrieben voneinander ab, organisierten die Arbeit. Jede Woche musste ein anderer schuften, die übrigen variierten seinen Text.

Als es sich eingespielt hatte, kam jener Lehrer grinsend an und spendierte uns Kindlers Literaturlexikon. Damit ihr lernt, wie man richtig abschreibt, sagte er. Ihm war bewusst, dass ein einzelner Mensch nicht alles wissen kann. Er wollte uns beibringen, wie man von anderen lernt, wie man recherchiert, wie man sich kundig macht. Aber auch zeigen, wo es der eigenen Kritikfähigkeit bedarf, wo man das Denken selbst einschalten muss. Und wenn wieder einmal jemand von uns den Kindler allzu sauber herbetete, dann blickte er ihn an und sagte: Was hat das jetzt mit dir zu tun? Was bringt dir dieses Buch für dein Leben? So ging es ran ans Eingemachte.

Unsere Lektüren lebten. Wir Mädchen hatten fast alle eine Sabeth-Phase, während wie Max Frisch lasen. Trugen Pferdeschwanz und den Kamm in den schwarzen Cordjeans. Als wir Thomas Manns "Tod in Venedig" von allen Seiten auseinandernahmen, gingen wir gleichzeitig in die berühmte Verfilmung von Visconti. Manche von uns haben die Rocky Horror Picture Show 80 mal angeschaut, aber im Visconti waren wir auch 20 mal und starben zu Gustav Mahlers Musik den lustvollen Tod. Es war ausschweifend, aber auch hart und brutal. Vor den täglichen mündlichen Prüfungen zitterten selbst die Besten. Angespannt, mit verächtlich kritischem Gesicht machte sich der Lehrer sichtlich schlimme Notizen. Je weniger man wusste, desto mehr schrieb er.

Kurz vor dem Abitur vergaß er einmal, solch ein Blatt mitzunehmen. Wir konnten es nicht glauben. Männchen, Blümchen, Gekritzel, Muster. Wir fragten ihn danach. Aber er grinste nur frech. Ob wir etwa glaubten, das Leben sei ein Zuckerschlecken? Es ginge doch nicht darum, etwas auswendig herzubeten. Wir müssten lernen, mit Stresssituationen fertig zu werden. Unerbittlichen und feindlichen Chefs ins Auge zu blicken. Unser Wissen nicht zu sammeln, sondern praktisch anzuwenden. Und da hätten wir ja bereits gute Strategien entwickelt. Unser Wissen war allerdings auch nicht ohne. Als wir zu Besuch auf der Uni waren, schüttelten Germanistikstudenten den Kopf und sagten: Das kommt bei uns erst im dritten Semester dran.

Der Mann quälte uns noch mehr. "Tod in Venedig" zu lesen und auseinanderzunehmen reichte ihm nicht. Davon lernt man kein Schreiben! Zuerst mussten wir die Erzählung jeden Tag neu interpretieren! Am Montag waren wir ein frommer Pfarrer, am Dienstag eine Marktfrau, am Mittwoch ein Psychoanalytiker usw. Des Rollenspiels nicht genug. In der nächsten Woche sollte es eine Episode, eine Szene aus unserem eigenen Leben sein, die wir in eine Kurzgeschichte verpacken mussten. Montags spielten wir Thomas Mann, dienstags Berthold Brecht, mittwochs bekamen wir einen Theaterauftrag als Friedrich Schiller im Sturm und Drang etc. Und ganz am Schluss durften wir alles noch einmal machen: als wir selbst. Als eigenständige Schreibpersönlichkeit.

Hätte uns damals jemand gesagt, dass es in der Zukunft Autoren geben werde, die über kreatives Schreiben redeten und Schreibratgeber bräuchten, wir hätten daran so sehr geglaubt wie an die Existenz des Flaschengeistes Jeannie.

Vielleicht war meine Schule besonders verrückt. Besonders hart in den Anforderungen war sie unbedingt. Ich aber habe für meine schriftstellerische Arbeit immer am meisten von den Harten gelernt, von den besondes Kritischen, von den Unbequemen. Natürlich brauchte auch ich Lob und Motivation. Aber wirklich entwickelt habe ich mich dann schreiberisch, wenn mir einer mein "Können" zerrupft hat, mir gezeigt hat, wo es klemmt, wo es nicht genügt. Schullektüren haben mir etwas gegeben, wenn ich mit ihnen kämpfen musste, wenn sie nicht schön und glatt eingingen. Ich habe Bücher lieben gelernt, die mir zuerst zuwider waren, weil ich gelernt habe, warum ich mich abstoßen lasse. Ich lernte, dass richtiges Lesen Arbeit ist, Dialog, ja fast ein Ringen um eine Liebesbeziehung. Und ich bin heute dankbar, dass man mir als Kind schon einimpfte, dass es nicht reicht, mit sich zufrieden zu sein, dass es immer Grenzen gibt, die zu überwinden einem erst den freien Flug ermöglicht - bis zur nächsten Grenze.

Ich bin froh, dass ich diesen faszinierenden und Furcht einflößenden Lehrer hatte. Der übrigens für seine Verstöße gegen den Lehrplan und unkonventionellen Lehrmethoden nicht nur eine Verwarnung einsteckte und so ein Beispiel für Rückgrat und Zivilcourage wurde. Als ich ihm erzählte, was ich studieren wolle, sagt er, ich vergesse das nie: "Jeder Mensch muss mindestens einen Unsinn in seinem Leben machen. Aber versprechen Sie mir, komme, was da wolle, nie, auch nicht einen Tag mit dem Schreiben aufzuhören!" Schade, dass ich ihm nicht mehr sagen kann, dass mich dieses Versprechen auch heute noch antreibt.

13. Dezember 2008

Meine Mondfahrt

Ich befinde mich gerade in einem der schönsten Zustände, in die man als Schriftsteller geraten kann. Gestern habe ich eine Art Rohtextsammlung für die erste Szene in die Tasten geklopft. Es fühlt sich fast an wie Verlieben. Die schlimmste, störende Fremdheit ist überwunden; man schwelgt in Gefühlen, die mit dem Verstand nicht zu messen sind - und sehnt sich, sehnt sich unendlich nach dem ersten vorsichtigen Kuß. Pardon - dem ersten Satz in Reinschrift.

Gleichzeitig empfindet man einen ungeheuren Respekt vor dem faszinierenden und schillernden Gegenüber, dieser Schatzkammer von Leben. Kein Wunder, dass auch Ängste hochsteigen. Bin ich wirklich die Richtige? Werde ich ihm je gerecht werden können? Welchen Ton brauche ich, wie stelle ich dar, was kaum darzustellen ist, wie wird er klingen müssen?

Ich liebe dieses Zerissenheitsgefühl am Anfang, so fern aller Routine. So fühlt sich Schöpfen an, denn die Ängste machen die keimende Liebe noch süßer; die Bedenken helfen, nach einer noch perfekteren Form zu suchen. Vielleicht fühlt sich Schneidern so an? Man hat einen nackten Leib, alle Stoffe dieser Welt - und kann, darf doch nur diese eine, einzige Robe erfinden, diese eine Möglichkeit unter allen, die man direkt auf den Leib schneidert. Ich liebe diese Mühen, das Ringen und die Ekstase danach, wenn man etwas entstehen sieht, das zu atmen beginnt.

Diesmal ist es ein ganz besonderer Schatz. Würde es sich um ein Buch handeln, hätte ich nie gewagt, so zu schreiben, wie ich jetzt schreibe. Jetzt werfe ich alles weg, was ich über mich zu wissen geglaubt habe. Ich werde zu einer Liebenden, die sich nicht mehr um Argumente schert. Es interessiert mich nicht mehr, dass man einen Klumpen Ton mit Händen oder Werkzeugen bearbeiten muss. Ich singe ihn einfach an und schaue seinen Verwandlungen zu.

Und dann ist da noch etwas Seltsames passiert gestern. Während ein paar "normale" Projekte auf Bewerbungstour herumschwirren, schreibe ich ja noch "heimlich", um kreativ nicht zu veröden. Nun habe ich bisher immer Probleme gehabt, zwei unterschiedliche Projekte an einem Tag zu bearbeiten. Ich musste sie einzeln gruppieren, um umzuschalten. Roman und Sachbuch nebenher ging gar nicht, da gab es Romantage und Sachbuchtage.

Gestern ging ich an meinen heimlichen Roman, einfach aus Lust und wegen der Freude, dass "Dingens" so gut anläuft. Und weil mich E. (ja, du darfst jetzt ganz breit grinsen) gescheucht hat. Ich musste gar nicht umschalten! Ich war bereits dort. Auf einmal wurde mir klar, dass mein derzeitiges und mein heimliches Projekt aus einem gemeinsamen Kosmos schöpfen. Und es war wirklich ein kleines Wunder für mich, dass meine Sprache nicht mehr zweigeteilt sein musste, nicht mehr Sachsprache und Erzählsprache. Das war das eigentliche Fest. Ich habe eine Erzählsprache entdeckt, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Roman und "Sachen".

Obwohl ich umso mehr schnitzen und feilen und überarbeiten muss, ist das Schreiben jetzt ein müheloses. Das bin ich, so wie ich bin. All dieses Gedöns erklingt nicht mehr, diese miesen kleinen Wichte, die einem ins Ohr schreien: Aber da kann ich nebenbei ja kein RTL gucken! Wirste denn das annen großen Verlag verkaufen können? Kannste dich nicht mal ordentlich an das halten, wie man's macht? Du musst gucken, wie das geht, du musst plotten, du musst Akte konstruieren, du musst, du musst, musst musst. Bleib auf dem Boden!

Da bin ich gestern an Bohnen auf den Mond geklettert. Wunderschön hier oben. Die Erde ist ein herrlich blauer Planet, und die dummen Bedenkenträger da unten ahnen gar nicht, wie unsichtbar sie sind. Ich mache es jetzt wie mein großes Idol Donald Duck, setze mich in ein Raumschiff und erkunde all die bunten runden Planeten mit den faszinierenden Wesen. Dingens soll an diesem Wochenende seine erste richtige Szene bekommen, ins Leben treten. Denn ich bin schon gespannt wie ein Drahtseil, welche Stimme mir dann Stimme verleihen wird. Und dazu brauche ich Text.

12. Dezember 2008

Bücherstrich, pardon, Büchertisch

Soeben erreicht mich die Meldung, dass unsere geheim mitgeschnittene Verlegersitzung die ganze Branche durcheinander bringt. Karla Klawitter von der Agentur Trotzdem ist es mit ihrer Bemerkung gelungen, das Untergenre des Hurenromans einzuführen. Ran an den Speck!

Hirnwäschensponsoring

Eben habe ich eine globale Lösung für unser Kunstproblem gefunden! Es ließe sich damit die gesamte Welt sozusagen mit Fingerschnipp infiltrieren.

Der Blog Krusenstern berichtet, dass das russische Väterchen Frost, so eine Art Entsprechung des Weihnachtsmanns, von einer amerikanischen Getränkefirma vollkommen umgestylt worden ist. Cola als Verwandlungsdroge des kollektiven Gedächtnisses. Dass dies kein Einzelfall ist, beweist das Land, in dem Weihnachten angeblich erfunden wurde: das Elsass. Dort klettern plötzlich an allen Dachrinnen und Fenstern fettbäuchige hässliche Weihnachtsmänner hoch, die verdammt nach amerikanischer Werbung aussehen.

Dass es sich auch hier um einen klebrigen Knick in der Kulturoptik handelt, beweist die Tatsache, dass es im Elsass vor Coca Cola gar keinen Weihnachtsmann gab. Da erschien nämlich früher die Lichtfee namens "Christkindel", ein Mädchen oder eine junge Frau im schneeweißen Gewand, mit einem Lichterkranz auf dem Kopf. Begleitet wurde sie allenfalls vom Rüpelz, einem finsteren Wintergeist, der Ähnlichkeit mit dem deutschen Knecht Ruprecht hat.

So, und jetzt ist das mit der Kunst und den ganz besonderen Büchern doch ganz einfach. Man nehme eine Getränkefirma als Sponsor! Und wuuuuuusch ... glaubt alle Welt, im Osten wie im Westen, das müsse so sein! Gegen-Mainstream-Sponsoring durch Mainstream...

11. Dezember 2008

Ungebrochen optimistisch

Das virtuelle Veröffentlichen ist ein seltsam Ding. Hält man die Waage zwischen niedlichen Stöffchen zum Lachen, harten Informationen und Unterhaltung, freuen sich alle. Kann man unter diese Mischung deftige Skandale rühren, erreicht man ein Maximum der Leserschaft (Dank an Heidenreich & Ranicki). Und alle wissen: da schreibt eine Journalistin, nicht von sich, sondern so, wie man eben eine Kolumne schreibt.

Häufen sich dann aber plötzlich die Systemanalysen und eher philosophische Gedanken über die Kunst, so erschrecken gleich ganz viele. Und Mails, die ich dann gehäuft bekomme, zeigen mir: Plötzlich liest man das nicht mehr als Kolumne, was als Kolumne gedacht ist. Plötzlich bezieht man alles auf die Person, die sich die Gedanken - auch für andere - macht. Die sich die Gedanken manchmal auch heimlich für ihren Brotberuf macht. Ich werde dann also bedauert, gestreichelt, mit Entsetzen bedacht. Geht es dir so dreckig? Hast du so schauderhafte Verlage? Bist du verbittert? Hast du Probleme?

Nein, liebe Leserinnen und Leser. Ich bin immer noch diesselbe. Eine Journalistin, die eine Kolumne schreibt. Die sich Gedanken über sich selbst und andere macht. Und auch über die Welt. Die Fragen stellt, die andere nicht fragen oder nicht laut zu fragen wagen. Die gescheite und dumme und sogar überflüssige Fragen stellt. Die unmöglich eine Kolumne schreiben könnte, wenn sie nur aus dem eigenen Fundus schöpfen würde. Natürlich höre ich mich um, recherchiere, beobachte. Und weil eine Kolumne Journalismus aus persönlicher Sicht ist, bediene ich mich auch mal am eigenen Beispiel. Ich überspitze sogar, ab und zu verwende ich Stilmittel aus Polemik und Glosse, ich fiktionalisiere, verdichte...

Also bitte keine Sorgen um mich als Person machen!
Ich habe zwar zwei Berufe, in denen ich die abstrusesten und verrücktesten Situationen erlebe - aber das haut mich dann, weil ich's nicht anders kenne, nicht allzu lang um. Ich schaue vielleicht nur anders hin. Und natürlich hätte ich auch in Verlagsdingen schon verzweifeln können! Aber deshalb mache ich mir nicht diese Gedanken. Mich interessieren Gesellschaft, Politik, Literatur, Kunst, Kultur ... ich bin ein Mensch, der gern seine Welt gestaltet, anstatt nur passiv zuzuschauen. Und der gern über die Lage der Dinge kontrovers diskutiert.

Jetzt mal wirklich persönlich - der größte Geniestreich, den ich in diesem Jahr erlebt habe: Da hat ein vergriffenes Buch von mir (Schwarze Madonnen) zum zigsten Mal den Verlag gewechselt, aus dem ich nun meine Rechte rückrufe. Dieses Buch hat schon während (!) des Vertragsabschlusses einen Verlagsverkauf hinter sich. Als es erschien, fusionierte der neue Eigner mit einem dritten. Dann übernahm jener Dritte, stampfte alle Bücher des zweiten Verlags in jener Reihe ein (zum Glück war die Auflage fast verkauft). Und jetzt hat der Dritte aufgegeben und an einen Giganten verkauft. Wenn ich von einem Verlagsverkauf höre, frage ich nur noch, wie sehr der neue Eigner die Bücher des alten hasst...

Und natürlich leide auch ich unter der Unart, die sich seit diesem Jahr durchsetzt, dass man Autoren und Agent ewig warten lässt, als müssten sie kein Geld verdienen und arbeiten. Das passiert mir allerdings mit Verlagen, die (noch) nicht die meinen sind, weil man sich eben bei Sachbüchern, je nach Thema, immer wieder neu umtun muss. Aber auch in der Beziehung werde ich nicht ewig vor mich hin leiden, keine Angst. Time is money, auch für mich.

Nein, mich muss keiner bedauern. Ich habe wundervolle Verlage, mit denen Arbeit das reinste Vergnügen war und ist - und in denen ich mich mitsamt meiner Projekte sehr frei entfalten konnte und kann. Und ich komme mir seit meinem Elsassbuch selbst näher in dem, was ich wirklich schreiben will. Wenn Arbeiten zur Qual würde, ließe ich mich umschulen. Das betrachte ich als ungeheuren Luxus!

Nein zu sagen und auszuwählen, ist natürlich schwerer, weil es vordergründig erst mal kostet. Aber da habe ich in meiner Zeit in der PR gelernt, dass es das nur scheinbar tut. Ich hatte damals KollegInnen, die sich in Nullkommanichts in den Konkurs trieben, weil sie dachten, sie müssten jeden Kunden, auch zu Dumpingpreisen, befriedigen. Sie signalisierten damit aber: Ich bin nichts wert, ich bin austauschbar, mache niedrigste Arbeiten. Das hat sich gerächt. Über mich haben sie gelacht, weil ich auch Kunden ablehnte. Weil ich fragte: Welcher Kunde passt zu mir? Hätte ich es immer leicht gehabt, hätte ich vielleicht viel weniger Fragen gestellt?

Was mir viel mehr Sorgen bereitet, sind die Folgen der extremen Konzentration in Verlagen und Buchhandel. Nicht nur, weil die Politik der großen Ketten auch mich betrifft, sondern weil ich am Beispiel Frankreich sehe, zu welcher kulturellen Verarmung das führt, wenn man die Zügel schießen lässt. Noch ließe sich dieser Untergang in Deutschland verhindern. Deshalb denke ich laut nach. Und natürlich denke ich auch laut nach, weil ich extrem neugierig bin und gern experimentiere. Will sagen, die Journalistin in mir überlegt an neuen Ideen herum. Ich bin da nicht allein, Leute aus anderen Bereichen denken mit - und diese Kolumne ist für uns auch so etwas wie eine Hexenküche, in der man gefahrlos etwas explodieren lassen kann, ohne dass es gleich Millionen kostet.

Also Kopf hoch: Missstände sind dazu da, dass man hinschaut und auch mal den Finger tief in die Wunden bohrt. Alte Methode, um Eiter abfließen zu lassen. Missstände und Krisen können nämlich durchaus beflügeln, zu neuem Denken anregen!

Also, liebe KollegInnen, ich bin ganz und gar nicht verbittert. Im Gegenteil, ich leide an einer Überdosis Kreativität... (abgesehen davon, dass ich gerade am weltschönsten und faszinierendsten Projekt arbeite). Schlechte Zeiten machen mich zuerst ganz kurz traurig, dann mächtig wütend, dann extrem trotzig ... und dann explodiere ich in Ideen...

10. Dezember 2008

Sex'n'Drugs'n'Sülze

Heute morgen wurde unserer Redaktion der Tonmitschnitt einer geheimen Verlegerkonferenz zugespielt. Wir können aus rechtlichen Gründen keinen Download anbieten. Es ist uns jedoch gelungen, eine Abschrift über eine amerikanische Bibliothek mittels einer Suchmaschine zu legalisieren, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.

Die Konferenz, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der AutorInnen stattfand, richtete sich an Verleger und Programmchefs großer Publikumsverlage. Unter dem Titel "Wie viel Rock'n'Roll verträgt ein Buch" diskutierte man die Zukunft der neuen Marktstrategien. In dem uns vorliegenden Diskussionsfragment sind anwesend:
  • John Aalgutt von der Unternehmensberatung MacWannsee in Vertretung des Verlegers von Messiebooks, einem der Giganten im deutschen Markt
  • Karla Klawitter von der Literaturagentur Trotzdem
  • Erich Elsner-Eisenhart, Literat
  • Lola Schmonzes, Bestsellerautorin bei Messiebooks
  • Vera Freud-Kandidel, Psychologin, spezialisiert auf Lesesucht bei Frauen
Der einfachen Übersicht halber bleiben wir bei den Vornamen.

Karla: Warum konnte unser wichtigster Gast, der Verleger nicht kommen?

John:
Wir haben ihn in ein Sanatorium geschickt. Die Geschäfte laufen auch unter meiner Leitung ganz gut. Eigentlich besser. Verleger haben ja keine Ahnung mehr von Büchern. Womit wir beim Thema wären. Wir müssen kundenorientierter denken lernen. Also nicht vom Buch, sondern zum Buch.

Lola:
Sach ich auch immer. Wissense, ich versteh mich mit dem Herrn Messie ja ganz gut, aber wir ham doch längst unsere Bausteine, na und da kennense doch auch diese Software, Schnellvorlagen sach ich nur, Schnellvorlagen in schönen bunten Farben und dann klonen wer Romane. All diesen Sprachschmonzes, na da sach ich doch, brauchen wer nich, versteht eh keiner nie nich mehr.

Vera:
Wobei ich einwerfen will, dass unser Lesepublikum, die Frau an und für sich, keineswegs weniger intelligent wäre wie ein, als ein ... sagen wir mal ein Mann. Die Frau von heute entdeckt sofort, wenn ein Autor die Farben seiner Schnellvorlagen verwechselt. Die lassen sich kein Grün mehr für ein Gelb vormachen!

Erich:
Was meinen Sie mit Schnellvorlagen?

Lola:
Sie arbeiten wohl noch mit Feder und Tinte, so sehense aus...

John:
Wir haben die Schnellvorlagen nach dem Vorbild eines bekannten Emailprogramms entwickelt. Dort kann man wiederkehrende Textblöcke, etwa Grußformeln oder Teile von Kundenbriefen unter Abkürzungen ablegen. In der Mail tippt man nur noch die Kürzel und klickt auf "Schnellvorlagen einfügen".

Lola:
Ich find das Klasse, das spart so die Finger, sach ich immer und endlich krieg ich nen ganzen fetten Historiendinger sogar mit Nagellack in Nullkommanix hin, sach ich Ihnen! Die Leserinnen lieben das! Die machen schon Wettbewerbe, meine Schnellvorlagen zu erraten. Ich verkauf wie nix, seit ich die vanillegelbe Vorlage mit den lila Blümchen entwickelt hab!

John:
Das war ebenfalls eine Überlegung: Effizienz, kürzere Produktionszeiten und natürlich die Kundenbindung, der Wiedererkennungseffekt. Wir haben das bei einem Getränkehersteller getestet. Der Mann hatte zu große Lagerbestände - Sie sehen die Parallele zum Buchmarkt? Also haben wir ihm geraten, seine Ware gefrierzutrocknen und das Pulver in Brausepäckchen zu stecken, die aussahen wie aus den Sechzigern. Der Mann konnte sich nicht mehr retten! Emotionen, Kindheit, Erinnerungen! Bücher sind wie alter Sprudel. Viel zu trocken. Da muss gepeppt werden, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Erich:
Ich sehe die neue Entwicklung mit Bedenken.

Lola:
Ach, hammse sich nich so, ihr Litteraten habt doch immer nur Bedenken, meinense die moderne Gesellschaft will immer und ständig ans Bedenken erinnert werden?

Erich:
Man hat mir gesagt, ich solle es mal mit Pferdebüchern versuchen, würde ich sofort verkaufen.

Vera:
Gar nicht so dumm, vom weiblich zentrierten Standpunkt aus betrachtet.

John:
Tun sie's. Sie könnten längst Erfolg haben!

Karla:
Könnt' ich auch verkaufen wie geschnitten Brot. Und Huren, bewegliche und weniger bewegliche. Splatter läuft auch ganz irre. Aber ich halt das nicht aus. Mir wird dann immer wie diesen beliebten Kommissaren zumute. Was ist da kaputt?

Erich:
Wo Sie das ansprechen, einen berühmten Kollegen hat man unlängst abgelehnt, sein Kommissar sei nicht depressiv und drogenabhängig genug.

John:
Liebe Karla, nichts ist kaputt. Die Frauen da draußen, die ja unsere Leserinnen sind ... also geben wir offen zu, die Männer haben wir durch einen Marketingfehler an Internet und Videospiele verloren, die Frauen zwischen 15 und 95 wünschen das! Sie wollen endlich auch mal tief in die Dreckkiste greifen, sich beschmuddeln, herumsauen, Sie wissen ja, je höher die Anforderungen im wahren Leben... Literatur ist Eskapismus.

Vera:
Psychologisch betrachtet haben wir die schizoide Rollenspaltung der Frau als Jungfrau und Hure mit der Emanzipationsbewegung in die falsche Richtung und einseitig gelöst. Die moderne Frau ist für den Durchschnittsmann nicht mehr erreichbar, sie löst sich zwischen Haushalt, Kindererziehung, Chefposition in der Firma und ehrenamtlichen Tätigkeiten sexuell völlig auf. Da muss ein Gegengewicht her.

Erich:
Sie meinen, deshalb Vergewaltigungen à la Soap-Opera, zerstückelte Leichen in Müllsäcken in der Küche, die der Mörder nach dem Einpacken zwischen Kartoffelpuffern und Apfelmus noch einmal begattet?

Vera:
Wir müssen der modernen Frau die gleichen Rechte zugestehen. Schauen Sie sich die Statistiken über ehelichen Sex in Deutschland doch an. Läuft doch nichts mehr mit den Waschlappen.

John:
Vera bringt es auf den Punkt. Wir müssen unsere Leserinnen abholen. Ich meine, es ist doch marketingtechnisch einfach vertretbarer, Fantasien zu schüren und Fluchtwelten anzubieten, als dass wir unsere Leserinnen der Realität ausetzen, womöglich ungeschützt!

Lola:
Sach ich auch immer, das middem Aids is doch ne ganz andere Diskussion, mach's safer mit Büchern.

Vera:
Hier sind wir wieder beim Pferd, werter Erich. Vaterfiguren, das war mal. Der erste Mann im Leben eines Mädchens ist doch der Hengst, den es auf der Wiese beobachtet. Seien wir mal ehrlich, so schürt man Fantasie, den Grundstoff von Literatur!

Erich:
In meinem Dorf gibt es nur Kühe und die werden künstlich...

Lola:
Was müsst Ihr Literaten immer alles runtermachen, immer griesgrämig, immer kontraproduktiv!

Karla:
Darf ich auch mal wieder...

John:
Aber gern doch, Karla! Wie sind Ihre Erfahrungen als Agentin?

Karla:
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Kürzlich bot ich ein Buch über den Klimawandel an, absolut neu und spannend. Kein Interesse, und dann war das Fernsehen dran. Plötzlich war es das Gesprächsthema. Als ich den Verlagen davon erzählte, meinten sie, der Autor soll halt zum Fernsehen gehen. Ich verstehe das nicht!

John:
Das hat mit unserer neuen Marketingstrategie zu tun. Leser abholen. Wer sich für Klimawandel interessiert, schaut Fernsehen, liest Zeitung. Das ist nichts für schmökernde Damen.

Lola:
Ich würd ja gleich den Bestseller draus stricken! Sachense mal Ihrem Autoren, er soll die rosa Schnellvorlage nehmen, die midde Mode, weil Frau sich ja so Gedanken macht, wasse trägt im klimagewandelten Winter, nich. Oder ich könnte mir ne Kombination vorstellen, grüne Vorlage für Reise und nen Tupfer gelbe mit schöne Küchenrezepte. Ich mein, die Möhren wachsen ja nun auch anders, wenns wärmer wird, nich?

John:
Lola, Sie haben das Prinzip moderner Schriftstellerei voll verstanden!

Vera:
Ich hätte eine verwegene Idee, darf ich?

Erich:
Was ist an all dem noch verwegen?

Vera:
Warum denken wir die Sache nicht weiter? Ich schlage vor, wir schaffen ein Internetportal für unsere Leserinnen mit Gewinnspielen für Schnellvorlagen, Kundenrezensionen von Schnellvorlagen und Videoclips, grün, gelb, rosa, blau. Wir könnten z.B. Schnellvorlagen für Buchtrailer entwickeln! Und was wäre eigentlich, wenn wir dann mit all den neuen Medien noch einen Schritt weitergingen? Wir schaffen das Buch auf Abruf.

Lola:
Die Frau is klasse, ganz klasse is die! Daran hab ich auch immer gedacht, wegen meine Fingernägel und so und dem Nagellack. Ich speis euch meine Schnellvorlagen aufs Portal, machen alle Autoren. Und dann lassen wer die Leserinnen machen und das kurbelt die Nagellackindustrie auch an und die lassen wir die Portale sponsern und ich spar mir meinen Nagellack, irre das, echt irre. Geil, das neue Schreiben, voll geil.

Erich:
Ich verweigere mich der totalen Kommerzialisierung der Kunst.

Lola:
Da kommt die Leserin, macht klickediklick und hat - peng - ihren ganz eigenen Roman! Also, die wählt den depressiven Kommissar, schwarz, drei Vergewaltigungen, rot, Baron Märchenprinz, gold, Familienhundilein, blau ... und schwupps, hat sie einen Lola-Roman nach Maß!

Wir wissen nicht, was die Publikumsverlage Deutschlands tatsächlich zu ihrer neuen Direktive gemacht haben und hinter verschlossenen Türen planen, das Tondokument bricht an dieser Stelle leider ab.

Moment - die Nachrichtenagentur Interdepp meldet soeben, dass es sich bei den neuen Marktstrategien um eine Weltverschwörung handle. Die Firma MacWannsee möchte angeblich gemeinsam mit einer Suchmaschine die Weltherrschaft an sich reißen.

Da es meine Journalistenethik verbietet, ungeprüft Meldungen zu veröffentlichen, geh ich erst mal recherchieren... Vergessen Sie das schnell wieder.

9. Dezember 2008

Wie oder was?

Zur Diskussion um den Zustand einer Mainstreamkultur sind mir interessante Gedanken eines Künstlers untergekommen, von dem es zwar auch Bücher gibt, der aber bildender Künstler ist. Er redet von einer Periode der Dekadenz und beschreibt diese so:

Künstler sehen in solchen Perioden den äußeren Erfolg als höchsten Wert, kümmern sich vorwiegend um materielle Belange und technischen Fortschritt in ihrer Kunst. So wird der Idealkünstler zur Verkörperung des großen Erfolgs. Der Autor nimmt wahr, dass diejenigen, die das durchschauen und nach anderem hungern, von KollegInnen als unnormal behandelt werden. Man macht sich auch gern über sie lustig.

Weiter stellt er fest, dass in dieser Zeit der minimalisierten Kunst das einzige Ziel zu sein scheint, Objekte immer wieder und in großer Menge zu reproduzieren, es ähneln sich die Werke mehr und mehr, sie werden austauschbar.
"Aus der Kunst verschwindet die Frage des "Was". Was bleibt, ist nur noch die Frage nach dem "Wie"" - seelenlose Kunst nennt er das.

Seine Beobachtungen sind erstaunlich: Solche Mainstream-Künstler geben nur noch vor, sich ums Publikum zu kümmern, in Wirklichkeit scheren sie sich gar nicht mehr darum. Es wird modern, kein Rückgrat mehr zu haben, nichts zu sagen, was auffallen oder querlaufen könne, sich möglichst nur noch in Details von anderen Künstlern zu unterscheiden - und am besten in angesagten Kreisen aufzufallen. Solche Kunst sei einfach, fabrikartig zu schaffen, "mit kaltem Herz und eingeschlafener Seele". Und weil durch die Verwechselbarkeit der angeglichenen Werke der Konkurrenzdruck extrem steige, schaffe die Jagd nach dem "Wert" Erfolg noch schnellere, noch oberflächlichere Kunst.

Gefährlich, denn das Publikum, dessen Hunger nach "anderem" nicht ernst genommen werde, wende sich irgendwann ab, überdrüssig dieser Massenproduktion von Flachem.

Der Mann hat ein Gegenmittel: die Vision, den Visionär, eben diesen Künstler, den alle für verrückt erklären.
"Das Unverstandene von heute ist die Essenz von morgen" schreibt er.
Diese Visionäre, stellt er sich vor, treten mit dem herrschenden "Wie" in Dialog und entwickeln ein neues "Was". Und zwar ein "Was", das nicht mehr materialistisch ausgerichtet ist, sondern "ein inneres Element der Kunst selbst", die "Seele der Kunst". Das "Wie" ist für ihn der Körper, die Form - es kann nur in gesundem Gleichgewicht mit einem "Was" existieren.

Wie er sich das Arbeiten eines solchen Visionärs vorstellt und wie eine neue Kunst in einer solchen Zeit aussehen kann, beschreibt er in seinem Buch. Brandaktuell, nicht wahr?

Der Künstler, von dem diese Gedanken stammen, heißt Wassily Kandinsky (1866-1944).
Das Buch, in dem er diese Gedanken entwickelt, hat er auf Deutsch und Russisch verfasst (ich benutze eine französische Gesamtausgabe und übersetze leider rückwärts), es ist auf Deutsch wieder aufgelegt worden:
Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei. Benteli Verlag Bern, 2004

Kandinsky hat dieses Buch 1909 geschrieben, es ist 1911 erschienen. Er ist nicht bei der Theorie geblieben, sondern hat 1910 die Vision wirklich gemacht: Er malte das erste abstrakte Bild der modernen Kunst. Europas Avantgarde sorgte für eine Revolution im materialistischen Massenmarkt, es begann eine Blütezeit neuer Ideen nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur, in der Musik und im Tanz, im Film, im Theater.
Sein zeitloses Buch empfehle ich nicht nur jedem Maler und Liebhaber abstrakter Kunst, sondern jedem Künstler überhaupt, der sich mit dem "Was" beschäftigen möchte.
Könnte das "Rezept" auch heute wieder funktionieren?