Was ich vermisse

Abkürzen könnte ich jetzt und sagen: Empathie. Einfach mal die Klappe halten, anstatt vorschnell über andere urteilen. Dagegen habe ich dieses moralinsaure, überhebliche "Ich bin besser als du" und "Ich weiß genau, wie die Welt funktioniert" schon lange über.

 

Es geht A nichts an, wenn B Partys fehlen. A fehlt vielleicht etwas anderes.

 


Anlass meiner Erregung ist ein Twitter-Trend: #Party. Eine 16jährige wurde fürs ZDF Heute Journal befragt, die Befragung fand offenbar auf der Straße statt - das waren also spontane, keine zurechtgeübten Worte. Da sagt sie nun, dass sie Partys und das Feiern mit Freunden vermisst, früher, vor COVID, dreimal die Woche fort gewesen sei, um zu feiern. Sie sagt, sie fände es traurig in der Verzichtszeit jetzt und dass sie darauf angewiesen gewesen sei. Warum, wissen wir nicht, alles Hineinlesen ist hier reine Mutmaßung. Und sie erklärt sich, warum so viele jetzt wieder Partys feiern würden: Weil sie es so krass vermissen.


Man könnte diese 20 Sekunden Spontanaussage einfach als solche stehenlassen. Ich habe früher, als ich beim Radio arbeitete, viele Straßenbefragungen gemacht und weiß, wie solche Worte zustandekommen: Die Menschen sind überrascht, wenn man sie anquatscht. Viele erschrecken, noch mehr haben Angst. Wer nicht jeden Tag im youtube-Studio steht, redet vor einem Mikro nicht locker flockig hochintelligente Dinge. Diejenigen, die sich bereit erklären, erfahren oft erst dann die Frage. Was sie sagen, kommt aus dem Bauch heraus, oft verquer oder unglücklich formuliert. Einige würden nach der Sendung am liebsten im nächsten Mauseloch verschwinden, weil sie noch einmal erschrecken: "Diesen Mist hab ich gesagt? So hab ich formuliert? Hätt ich doch bloß nicht mitgemacht!" Und wenn dann Tante Erna beim Sonntagskaffee ablästert, beschließt man, nie nie nie wieder was in ein Mikro zu sagen.


Früher hat man zum Glück so etwas schnell vergessen. Es wurden so viele Leute befragt. Nach der nächsten Musik war das weg. Es gab noch keine Mediatheken. Und selbst dort müsste man erst einmal mühsam suchen, um diese 20 Sekunden zu finden. Heute jedoch stehen 20 Sekunden als Cut-out sofort am Pranger der Social-Media-Kanäle, wo sie ohne jeden Kontext massenweise verbreitet werden. Und dann geht die Schlammschlacht los.


Was auch immer sie wie und warum gesagt hat - mir tut diese junge Frau leid!

 

Ich denke daran, wie ich mit 16 war (Vorsicht, ich bin eine von diesen ach so bösen Boomern). Eine schwierige Phase des Hinüberwachsens aus der Kindheit ins Erwachsenenalter. Das Alter, in dem man gesetzlich einiges darf, was mit 15 noch nicht erlaubt ist - darum auch ein Alter des Sich-Austestens. Mit 15 / 16 waren wir zum ersten Mal im Landschulheim und da ging es in den Nächten aber sowas von ab! Erster Alkohol, ja. Aber auch inniges Sich-Verlieben. Jede Klasse hatte damals ihre eigene Garagenband, die natürlich von allen angehimmelt wurde. Wir tanzten bis zum Umfallen zu den Rolling Stones und was so angesagt war .... und knutschten herum, was das Zeug hielt. Niemanden zum Knutschen zu finden, konnte schiere Verzweiflung bedeuten. Endlich Lebensgenuss pur und Ausprobieren von Liebe ohne die dämlichen Erwachsenen.

 

Wir brauchten das, weil es zur gesunden Entwicklung gehört, weil sich da soziale Verhaltensweisen einüben und was man noch alles Schlaues wissenschaftlich dazu sagen könnte. Und auch Verlieben und Liebe wollten erst einmal geübt werden. Wir schrieben hefteweise melancholische Gedichte über die grenzenlose Einsamkeit, die wir in der Familie empfanden, weil die Eltern ja ach so gestrig waren - dazu dudelte Leonard Cohen mit seinen Dunkelmelodien. Wir mussten raus, mussten mit Gleichgesinnten maßlos kichern und Quatsch quatschen, uns umarmen. Heute sind viele Jugendliche in dem Alter schon wirklich depressiv und nicht nur gefühlt.


Zeit der Ablösung. Zeit der Gefühlsextreme. Zeit, das Leben zu feiern, die Freundinnen und Freunde. In dem Alter weiß man zum Glück noch nicht, wie schnell man sie später verlieren könnte.


Und jetzt kommen diese selbsternannten Hüter der Moral in Social Media und reißen einen Shitstorm los gegen das Mädchen, das einem schlecht wird. Dreißigjährige haben offenbar völlig vergessen, wie sie in dem Alter waren oder sind gleich als Rentner auf die Welt gekommen. Wie kann sie nur Partys krass vermissen, wo man doch ohne leben kann! Kann die sich nicht am Riemen reißen? Und dann die Weltverbessererfraktion: "First World Problems!" Das ist Hybris pur. Als ob Menschen in der Dritten Welt nicht auch Miteinander und Feiern und Partys schmerzlich vermissen würden. Anstatt sich auch zu freuen: Wenn das ein Problem ist, hat das Mädchen zum Glück keine schwerwiegenderen. Probleme werden subjektiv gefühlt. Ich für meinen Teil freue mich über jede und jeden, die keine ganz schlimmen Probleme haben. Und was ist schlimm? Kein Ritual mehr zu haben, mit dem man über diese traumatischen Zeiten kommen kann, das zeigen Studien, führt nämlich irgendwann zu seelischen Problemen. Und die sind dann richtig schlimm.


Ich weiß nicht, worüber sich diese Shitstormer hinwegreden müssen, welche Ängste sie damit verdrängen, wie sie sich in Selbstgerechtigkeit vermeintliche Stärke und Dominanz zurechttwittern. Vielleicht kennen sie auch nur einfach das Gefühl nicht, dass ihnen einmal im Leben etwas voher völlig belanglos Erscheinendes ganz massiv fehlen könnte, mit Folgen fürs Wohlbefinden, für die Psyche. Menschen, die einen Krieg hinter sich haben, erzählen nicht von politischen Ereignissen oder Großkatastrophen. Sie erinnern sich an einen Kuss, den sie nie mehr küssen können. Und an ein Stück Sonntagsbraten.


Leute: Gebt euch doch endlich mal gegenseitig zu, was die Pandemie mit euch macht! Und wenn ihr tough über allem und jedem steht, haltet einfach mal die Fresse. Sag ich mal deftig in Anlehnung an einen anderen Hashtag. Natürlich sind wir alle vernünftig, halten uns an Sicherheitsbestimmungen, tragen Masken und waschen uns intensiv die Hände. Aber genau deshalb dürfen wir auch das, was wir nicht mehr haben, sehr vermissen!


Wir kämen viel leichter durch diese Zeiten, wenn wir uns offen und in gegenseitiger Wertschätzung mal erzählen könnten, was uns fehlt, was uns verrückt macht, was uns frustriert oder so furchtbar ermüdet. Die große "Fatigue" durch die derzeitigen Lebensumstände, den zusätzlichen Stress, nehmen einige Länder inzwischen so ernst, dass sie Investitionen in Psychiatrie und Psychotherapie verlangen. Nicht jeder Mensch ist gleich resilient. Und selbst resiliente Menschen kann die Pandemie seelisch umnieten, wenn noch ein Problem dazukommt: die Angst um den Arbeitsplatz, Krankheit oder Tod, Fehlen von lebenswichtigen Einnahmen; der Stress unter Menschen in Gruppen gehen zu müssen.


Ich kann diese junge Frau nur zu gut verstehen und ich kann auch Leute verstehen, denen Bars oder Clubs fehlen, obwohl ich die selbst nicht besuche. Aber so viel Empathie krieg ich mühelos zusammen!


Gestern bekam ich eine unbändige Sehnsucht nach einer Veranstaltung vom letzten Jahr: Wir hatten im Museum einen Bäcker, der vorführte, wie man Bretzel backt und welche Weihnachtsbräuche es gibt. Unser riesiger Saal war so rappelvoll, dass wir Bierbänke in jede Nische stellen mussten und in zwei Schichten fuhren. Wir saßen auf Tuchfühlung. Die BesucherInnen von Großeltern bis Kleinkindern waren teilweise von weit her angereist, manche sogar von Outremer. Sprachen mischten sich, Wildfremde quatschten sich an. Wir feierten gemeinsam, mit den Neujahrsbretzeln und Wein und Bier und Limo und Kaffee. Es fehlte mir so plötzlich, was mir damals eher eng vorkam: Diese Menschenmenge, das Gesumm der Stimmen, dieses schwellenlose Kennenlernen und die Feststimmung. Wir lachten gemeinsam am Tisch und prosteten Menschen zu, die sonst Tausende von Kilometern weit weg wohnen. Zu dieser Zeit wussten wir: Es gab immer irgendwo Veranstaltungen, um unter Menschen gehen zu können.


Und ich sehnte mich gestern so sehr danach, dass ich mir in dem Moment vorstellen konnte, wie es sein würde, einfach wildfremde Menschen auf der Straße zu umarmen und zu küssen. Ich weiß, ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Ich weiß, was das für ein Fest sein wird, wenn wir uns endlich alle wieder mit Küsschen begrüßen dürfen.


Es sind diese kleinen Bewegungen, die verraten, dass wir soziale Wesen sind. Wenn ich mit der Nachbarin schwätze und unbewusst macht eine jede von uns einen Schritt in Richtung der anderen. Plötzlich der Ruck: Wir haben gelernt, dass das nicht geht. Aber es ist eben nicht die Normalität. Und auch die Vereinsamung und Vereinzelung der alten Menschen während der Pandemie ist nicht die Norm, nicht das isolierte Sterben, mit reglementierten Trauerfeiern.


Wir verdrängen das oft prächtig oder wischen mit einer Handbewegung darüber hinweg. Aber weil sich das so schnell nicht ändern wird, weil mit Jahresende das "Katastrophenjahr" nicht die Pandemie beendet, weil wir aushalten müssen: Das alles macht etwas mit uns. Bestenfalls ist es zusätzlicher Stress. Manche kommen auch über ein Trauma recht schnell hinweg. Aber eine Menge Menschen bezahlen mit ihrer psychischen Gesundheit.


Lasst uns offen miteinander sprechen, was uns fehlt. Lasst uns gegenseitig unsere Sehnsüchte gestehen - und seien sie noch so unwichtig in den Augen von anderen. Lasst uns gegenseitig über diese Zeiten hinweghelfen!


Aber das funktioniert nur, wenn wir akzeptieren können, dass jeder Mensch anders tickt. Jeder und jedem fehlt etwas anderes. Und das sollten wir nicht wertend, schon gar nicht abwertend anschauen. Sondern einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht als Anregung nehmen, endlich selbst aussprechen zu dürfen, was uns selbst gerade spontan am meisten fehlt. Wir dürfen auch träumen! Vom verrückten Urlaub. Vom Partymachen im riesigsten Club der Stadt. Vom gemeinsamen Durchsaufen einer Nacht. Davon, dass die Großmutter durchkommt und wir sie knuddeln und küssen können. Dass der beste Freund seine Lunge regenerieren kann. Wir werden in der Zukunft noch eine Menge Träume brauchen: Scheinbar nichtige, die uns über den Tag bringen. Denn nur so schaffen wir auch die ganz großen fürs Überleben.

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