Menschen aus der Vergangenheit

Tag 33 des relativen Eingesperrtseins und ich denke spontan, ich sei doch wahrscheinlich ein idealer Häftling, weil immer noch so brav. Aber sofort fällt mir ein, dass ich trotz allem einen ungeheuren Luxus der Freiheit lebe. Ich kann aus den vier Wänden heraustreten in den sonnigen Garten, mir die Sonne auf die Haut brennen lassen und die Weite des Himmels erleben. Ich werde nicht bestraft, sondern geschützt. Ich kann meinen Passierschein ausfüllen und zum Einkaufen fahren oder zum Tanken. Ich bin nicht wirklich eingesperrt und ich kann ein kommendes Ende absehen.

Ich erinnere mich plötzlich wieder an Menschen aus fernen Zeiten, als wären sie noch da.


Ein anderer Häftling kommt mir dieser Tage in den Sinn, ein echter. Sein Name ist mir im Augenblick nicht präsent, aber der Mann steht gestochen scharf vor meinem inneren Auge. Als müsse er nur durch eine Matrix schreiten und stünde neben mir. Ich höre sogar seine Stimme. Namenlos, wie er im Moment ist, steht er für unzählige andere, für Millionen, von denen die meisten ein viel schlimmeres Schicksal erlitten. Aber darf man Schicksale aufrechnend vergleichen, weil der mit dem "leichteren" "nur" fürs Leben gezeichnet war?

Er war damals schon alt, als ich ihn Anfang der 1980er für eine Seminararbeit über die Rolle der badischen evangelischen Landeskirche im Dritten Reich als Zeitzeugen kontaktiert hatte. Seine Qualen erlitt er damals, weil er die Zustände nicht mehr aushielt, die Diktatur, den menschenverachtenden Alltag - und in den Widerstand ging.

Nie vergesse ich die Szene, die er mir schilderte und die er immer wieder erinnerte, auch zu der Zeit noch als Lebenshalt. Er war nahe daran, im Gestapogefängnis durchzudrehen. Sie nahmen ihm alles, was er zum Menschsein brauchte: zuerst die Menschen, die Wärme, das Essen und dann auch noch das Licht. Es sei wie ein Heureka-Moment gewesen, erzählte er mit Tränen in den Augen, als er erkannte, dass sie ihm eines nicht würden nehmen können - es sei denn, sie nähmen ihm das Leben. Es war sein Geist, seine Seele. Das Letzte, was ihm geblieben war. Und in seinem Geist hatte er all die Gedichte gespeichert, die er einst auswendig gelernt hatte, oft genug widerwillig.

An der Stelle brach ihm immer wieder die Stimme, weil es sein Überlebensmirakel gewesen war: Er rezitierte diese Gedichte. Zuerst laut. Als sie ihn dafür schlugen, lautlos im Kopf. Er tauchte ein in jede Zeile, jeden Reim und jedes Wort. Er schuf sich einen Plan aus Gedichten für eine Struktur der Finsternis und Lyrik gegen die Traurigkeit und Lyrik zum Ausweinen. Irgendwann, als ihm die Zeilen so vertraut wurden, dass sie hohl klangen, fing er an, mit ihnen zu sprechen, lautlos zu reden mit Poesie. Er begann zu reimen, stellte Zeilen um und eigene hinein. Er sprach mit den Dichterinnen und Dichtern hinter den Texten. So überlebte er den Horror. Es ließ ihn zeitlebens nie mehr los, aber er war dankbar: Die Gedichte hatten seine Seele gerettet. Ohne sie wäre er wahnsinnig geworden.

Mir fallen dieser Tage viele Menschen ein, die viel Schlimmeres und Unaussprechliches überlebt hatten und deren Bekanntschaft mir bis heute als besonderes Privileg erscheint. Als kleines Kind lebte ich durch den Beruf des Vaters in einem Altenheim und hatte so viele Omas, wie ich mir nur wünschen konnte. Ich ging mit ihnen im Park spazieren, besuchte sie auf eine Tasse Kakao - und sie erzählten viel, erzählten von früher. Vieles erfühlte ich nur, verstand es nicht. Anderes sah ich vor mir wie einen Abenteuerfilm, in den Farben eines Kindes gepinselt.

Da war die etwa 100jährige Frau, die drei Kriege überlebt hatte. Die mir einschärfte, dass es einfach nur zwei wichtige Dinge auf dieser Welt gäbe: Das Leben im Augenblick zu genießen und wirklich zu leben - und die Liebe. Und wenn es genug von dieser gegeben hätte, wenn die Menschen endlich die Liebe zu ihren Mitmenschen wirklich auf die Reihe brächten, dann müssten Menschen auch keine Kriege mehr aushalten. Tut euch sowas nie an, sagte sie immer mit wackelndem Zeigefinger. Und noch lange später rechnete ich nach, was sie wirklich vom 1875er Deutsch-Französischen Krieg erlebt haben mochte. Ihre Mutter war eine blutjunge Frau mit dem zweiten Kind. Was ich nie verstanden habe und was sich nicht nachrechnen ließ: Wie konnte diese Frau nach all dem, was sie erlebt hatte, noch derart an die Liebe glauben?!

Eine andere der "Leihomas" ließ mich in ihrem Zimmer in Ali Babas Schatzhöhle tauchen. Sie war als Gouvernante in den Diensten eines amerikanischen Multimillionärs um die Welt gereist und hatte Andenken aus Ländern gesammelt, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ihren seidenen Sonnenschirm aus Thailand, den Fächer mit der Aufnahme um 1900 aus Biarritz und den elfenbeinernen Brieföffner mit Münzen und Perlen aus Japan halte ich heute noch in Ehren - ich bekam das nach ihrem Tod. Sie erzählte herrlich abenteuerliche Geschichten von Maharadschas und afrikanischen Löwen, von der chinesischen Mauer und prunkvollen amerikanischen Bällen. Obwohl sie die Kinder hütete, bekam sie viel davon mit und ich war begeistert davon, einer Frau begegnen zu dürfen, die all das verkörperte, was unsere Eltern schrecklich fanden. Kleine Mädchen sollten eines Tages gefälligst heiraten. Sie hatte das nie getan, sie hatte lieber die Welt bereist.

Ihren unbändigen Lebenshunger bezog sie von einer Katastrophe, die sie nie hat erleben müssen. Immer wieder zeigte sie mir Schiffspapiere und erzählte mir die Geschichte, die ich erst vor kurzem dank Internet vollständig recherchieren konnte. Als Kind hatte ich nur die Hälfte verstanden. Ich sah nur ein schnittiges riesiges Dampfschiff, mit dem sie ihren Dienst angetreten hatte: Der Multimillionär holte sie damit aus Deutschland über Irland nach Amerika. Er hatte im letzten Moment umbuchen müssen, sich fürchterlich geärgert und eigentlich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Aber selbst sein großes Geld konnte ihm kein Ticket mehr auf dem bereits ausgebuchten und viel schöneren Schiff besorgen. Später, in Amerika, haben sie gemeinsam Dankesgebete gesprochen. Durch dumme Zufälle und zu langes Zögern waren sie nicht auf der Titanic gewesen.

Erinnerungen sind Zeitmaschinen. Ich staune noch heute, wie nah einem Ereignisse scheinen, wenn man Augenzeugen dazu gehört hat. Ich staune über die Zeitspannen von Generationen. Wenn ich Mitte der 1960er jemanden gesprochen habe, konnte ich Menschen erleben, die vom 19. Jahrhundert erzählten oder vom Untergang der Titanic. Diese reichhaltigen und langen Leben beeinflussten ihr Sein, ihre Zimmer, ihre Art sich zu bewegen. Vergangenheit wurde lebendig, wenn sie erzählten. Und es klangen immer auch die zu kurzen Leben mit, die zu kurzen Leben von anderen ihrer Zeit. Es schienen auch die anwesend zu sein, denen mit einem Schlag alles genommen wurde. Die nicht das Glück hatten, ihre Talente zu entwickeln, eine große Liebe zu erleben, das Leben zu schmecken. Es schien zunächst keinen Unterschied zu machen, was einen dahinraffte: das Kindbettfieber, die Granate im Schützengraben oder die Spanische Grippe. Aber es gab einen riesigen, einen schlimmen Unterschied: Das eine war von Menschen gemacht, von Menschen verschuldet und in vollem Grauen sinnlos. Es wäre vermeidbar gewesen. Das andere waren Natur und Zeit: Man wusste nicht genug, hatte nicht unsere Erkenntnisse und ahnte nichts von späteren Medikamenten und Impfungen.

In diesen Tagen des Menschenentzugs kommen sie alle wieder, die Erinnerungen an längst "verblichene" Menschen aus meinem Leben.

Verblichen wie alte Fotos, wie das Foto oben vom Teil der Familie, die in die USA auswanderte. Sie schickten diese Postkarte nach Europa, um zu zeigen, wie gut es ihnen gehe und dass doch dringend dringend endlich die anderen nachkommen sollten, weg von diesem Hitler, der ganz sicher alle ins Unglück stürzen würde. Das war noch Ende der 1920er. Der Bruder der beiden Frauen rechts, mein Opa, hat das nie geschafft. Die Geschichte liegt heute in New York, in der Brooklyn Art Library. "This Crazy Little Dream" kann man auch digital durchblättern und natürlich vor Ort ausleihen. Als ich es 2018 abschickte, schloss sich für mich ein Kreis: Eine lange verschwiegene, verheimlichte Geschichte reiste dorthin zurück, wo alles seinen Anfang genommen hatte: unter der Freiheitsstatue, die damals noch Traurigen und Geschundenen Mutterfigur war, MigrantInnen willkommen hieß.

Und wie sich dieser Kreis der Emigrationen schloss, öffnete er gleichzeitig einen Teufelskreis, den ich in meiner Gegenwart erlebe, wenn ich sehe, welchem Irrsinn die Nachkommen heute unter jenem Unaussprechlichen ausgeliefert sind ... zum Teil aber sogar - mir völlig unverständlich - selbst unterstützen. Es ist ein gebrochener Kreis, ein Bruch, der so schnell nicht heilen wird. Ob es wirklich immer nur an Liebe fehlt, wenn Menschen andere oder die Welt zerstören? Es gehört da wohl noch etwas im Übermaß dazu, das es befeuert: die Gier?

Ich blättere virtuell viel in meinem Sketchbook und fühle wieder, welche Kraft diese Menschen angetrieben hat, denen Liebe und Alltag nicht genug waren: es war die Kunst, die Kultur. Der zweite von rechts auf dem Foto, der Mann, der sich da wie alle anderen für die in Europa Gebliebenen in Sonntagsstaat geworfen hatte, war einmal noch zu Besuch gekommen, als ich ein kleines Kind war. Er (im Sketchbook Josef genannt) ist einer von denen, die ich wirklich erlebt habe. Auch seine Berührung ist nie vergangen, die Fantasie, die er mir befeuerte mit dem Erzählen aus einer völlig anderen Kultur. Die fremden Sprachen, die so spannend klangen. Denn er war zu früh emigriert, um noch fließend Deutsch zu lernen wie die anderen. Die Britzelbrutzelgeräusche im Radio auf Kurzwelle, das seien die Leitungen über den Ozean, sagte er, die singen. Weswegen die Vögel immer auf Leitungen säßen, denn die könnten alles hören, was da gesprochen würde - hin und her über die Weite hinweg. Ich glaubte es ihm und lauschte fortan, was Amseln erzählten und Britzelbrutzelgeräusche und ich erzählte mit.

Er floh mit seiner Familie nach dem Wahnsinn von Erstem Weltkrieg und Spanischer Grippe. Schuftete sich in Armut hoch als einfacher Metallarbeiter und kam irgendwie über die Great Depression. Was er hinterlassen hat, ist pure Schönheit. Er hatte sich auf Aluminium und Bronze spezialisiert und arbeitete bei einer Firma, die uns in Europa nichts und den Menschen in Cleveland heute noch alles sagt: Die weltberühmten Art Deco Türen der Severance Hall in Cleveland - daran hat er mitgebaut (mehr Fotos).

Zeit wird relativ in diesen Tagen. Reale Menschen verschwimmen mit virtuellen Kontakten, mit verblichenen Fotografien und Bruchstücken der Erinnerung. Und ich frage mich: Was wird bleiben von uns? Welches sind die Essenzen des Lebens, die wir hinüberretten wollen? Was wäre eine Erinnerung wert am Ende eines reichen Lebens? Und warum reden wir so viel über Wirtschaft, nach all den Crashs, die immer nur die Armen trafen und die Krisengewinnler noch reicher machten? Warum reden wir nicht darüber, wie wir sie endlich umbauen könnten? Vor allem aber denke ich an all uns Kunst- und Kulturschaffende und wie seit der Coronakrise all das abgeschnitten vom Leben ist, was wir zu geben haben. Vielleicht ist Kunst - gemessen an Toilettenpapier - Luxus. Aber im Gegensatz zu dem Mist, den wir in und nach Krisen irgendwann wegspülen, sind Kunst und Kultur das, was bleibt. Wenn wir sie wertschätzen lernen, in unserem Geist bewahren, lebendig halten im Außen.

3 Kommentare:

  1. @mienkäfer18/4/20 15:53

    Danke für den schönen Text und die Anregung!

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  2. Danke für diesen sehr bewegenden Beitrag, liebe Petra! Und, nein - Kunst ist kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit, sonst hätte es sie wohl kaum in allen Epochen in so reicher Fülle gegeben. Wie die erste, betroffen stimmende Lebenserinnerung zeigt, die du in dem Beitrag nacherzählst - die Geschichte von dem Gefangenen-, ist es doch gerade Kunst (in dem Fall in Form von Gedichten), die Menschen über die schlimmsten Zeiten retten kann.

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  3. Danke für euer schönes Feedback, Mienkäfer + Maike!

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