Die Touristen

Heute morgen standen zwei Touristen ohne jeden Abstand am Hoftor. Das kommt zuweilen vor, weil es an dem Sträßchen keinen Gehweg gibt und man ja irgendwie vor Traktoren ausweichen muss. Aber wieso waren sie nicht zur offeneren Seite hin ausgewichen? Sie standen so dicht davor, dass Bilbo bellte und mich herbeirief.

Sich endlich wieder berühren können - wie sich in der Natur alles berührt ...


Sie hatten sich hilflos verfranst und hatten Fragen. Ich bellte erst einmal, sie sollten doch den Sicherheitsabstand einhalten! Den Sicherheitsabstand? Es gäbe da einen youtube-Kanal, sagten sie, den hätten sie abonniert, der sage immer "Wir müssen alle sterben". Und wie es denn wäre, wenn man sich die Todesart einfach aussuchen könne?

Da wurde ich knatschig und erzählte ihnen, wie ich in den ganz frühen Anfangszeiten von COVID 19, als eigentlich noch keiner ohne Kontakt nach Wuhan das haben konnte, an einer einfachen Erkältung fast verzweifelte. Jedem einzelnen Huster hörte ich nach, ob er der Anfang vom Ende wäre. Ich bestellte mir online ein Fieberthermometer, das sechs Wochen später ankam - die Apotheke hatte keine mehr. Als mir eines Tages die Rippen schmerzten vom trockenen Husten, verriet ich meiner Nachbarin, wo mein Hausschlüssel für sie deponiert sei, und sie versprach, Bilbo zu nehmen, falls "sie mich abholten". Aber sie lachte und meinte, ich klänge wie eine stinknormale Erkältung. Was es dann auch war. Vielleicht. Oder auch nicht. Getestet wurden ja nur schwere Fälle.

Das Touristenpaar nahm einen Meter Abstand und erzählte einfach weiter vom herrlichen Urlaub, der herrlichen Natur. Irgendwie fand ich die beiden sympathisch und bat sie an den Frühstückstisch im Hof. Den einen Meter würden wir schon irgendwie schaffen. Oder waren es anderthalb oder zwei? "Wir werden alle sterben", sagten wir im Chor und lachten wie blöd. Der Meter verkürzte sich zusehends. Wir hatten ja kein Maßband dabei.

Die beiden waren mit dem Kanu bis zu uns gekommen. Irgendwo an der Donau hatten sie angefangen, weiter über den Rhein bis in die Vogesen. Und jetzt säßen sie sozusagen auf dem Trockenen. Und Bilbo saß ihnen abwechselnd auf den Füßen. Er wusste nichts von Abstandhalten - das wurde lediglich nach Sympathie geregelt oder Gefahr. Er schlief wohlig. Endlich mal wieder andere Menschen, Lebewesenkontakt, wenn ihm schon die vierbeinigen Kumpels vorenthalten waren.

Wir hatten plötzlich eine Menge Spaß. Rückten zusammen, berührten uns, wie man sich in herzlichen Unterhaltungen eben berührt. Eine Hand legt sich auf einen Arm, ein sanftes Klopfen auf den Oberarm, ein Streicheln über den Rücken. Es ist hierzulande normal, auch wenn es bei Wildfremden durchaus länger dauert. Aber wir hatten so viele Geschichten zu teilen, dass wir wie im Rausch redeten, von der Natur, den Mitwesen darin.

Ich entschuldigte mich, dass ich nichts anderes im Haus hätte als Wasser und Kaffee, weil ich heute doch nicht einkaufen gehen wollte. All das Gedöns mit Passierschein ausfüllen, Desinfektionsritualen, Ängsten, Warteschlangen ... dann das Eingekaufte über Nacht in Quarantäne stellen, Desinfektionsgedöns. Ich hatte beschlossen, über das durch den Feiertag verlängerte Wochenende mit wenig durchzukommen. Es besuchte einen ja doch keiner. Am Montag würde das Gedöns reichen.

Wir lachten und sie genossen ihren Kaffee. Ich wunderte mich kurz, woher der Kuchen für alle auf den Tisch kam. Aber ich war ja beim Frühstück gesessen?

Es war ein Fest. Ein Fest des Teilens, sich Mitteilens, der Berührungen. Uns war in diesem Moment alles egal.

Da rumpelte es plötzlich laut auf dem Speicher. Sehr laut und sehr lange. Marder wären dazu zu klein gewesen. Wir schauten uns erschrocken an und ich ging, um nachzuschauen. Als ich das Haus betrat, war es im Treppenhaus auf einmal seltsam licht und luftig. Riesige uralte Bäume hatten sich vollkommen mit den Mauern verwoben. Je höher ich stieg, desto näher gelangte ich an deren Krone. Dicke, saftig begrünte Eichenäste durchdrangen das Gebälk des Speichers - sie waren voller lachender und quietschender kleiner Kinder. Die kamen offenbar aus dem ganzen Dorf zusammen, denn es waren sehr viele. Sie schaukelten in den Ästen, hüpften, spielten, knuddelten in Haufen. Einige von ihnen schliefen zusammengerollt zwischen Hundwelpen in einem Nest. Ein ganz kleines saß in Windeln an den Bauch einer Eule gedrückt. Alles in Ordnung also.

Das sind nur spielende Kinder, sagte ich zu den Touristen und erzählte ihnen von unserem Museum, das sie unbedingt auf dem Weg besuchen müssten. In dem würde es auch manchmal komische Geräusche geben, weil die Puppen darin sich bewegten, wenn man nicht hinschaute. Manchmal könne man es aus dem Augenwinkel ahnen. Wir tauschten Adressen aus und verabschiedeten uns herzlich mit dicken Umarmungen, die länger dauerten als früher. Ich wusste, was ich jetzt machen wollte: Mich zu den Kindern und Hundewelpen legen und endlich von all diesem Virenwahnsinn in der Welt ausschlafen!

Stattdessen schleuderte mich ein gemeiner Zeitriss zurück ins Wachsein. Trotzig drehte ich mich um, zog mir die Bettdecke über den Kopf, als würde ich damit diese Welt der Berührungen und Naturwesen länger festhalten können. Es wuchs kein Baum ins Zimmer. Und vor dem Gartentor herrschte die übliche gähnende Menschenleere.

PS: Den youtube-Kanal "Wir werden alle sterben" gibt es wirklich. Vorsicht, nichts für schwache Frühstücksnerven ... er kann bis in Träume wandern!

PPS: Wer es immer noch nicht gemerkt hat: Aufwachen!!!

2 Kommentare:

  1. Sehr klug aufgebaut und insgesamt einfach schön und anrührend - ein Welpennest im Hausbaum würde ich auch gern einmal finden! Übrigens habe ich mich auch über den Beitrag mit der Bienenrettung vorgestern sehr gefreut.

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    1. Danke dir, liebe Maike. Übrigens hab ich das wirklich so geträumt. Ich hab nur die Stellen weggelassen, die es zum intensiven Klartraum machten, weil ich ständig im Traum über "komische Sachen" stolperte, bei denen ich mich fragte, ob ich in einer Parallelwelt gelandet sei. Der Hausbaum und das Nest waren da nicht dabei, eher die Frage, warum ich den Kuchen nicht riechen konnte. ;-)

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