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28. Dezember 2019

Newsletter erschienen

In diesem Jahr habe ich schlicht nicht daran gedacht - es gab nur einen einzigen Newsletter. AbonnentInnen können also immerhin nicht davon genervt worden sein.

Was es von mir garantiert nicht auf Papier gibt: mein Newsletter!


Die einzige und aktuelle Ausgabe erschien gestern und sie ist im Archiv hier nachzulesen.
Wer künftig keinen verpassen will, kann meinen Newsletter hier abonnieren - und da gibt's auch das Archiv für die alten Ausgaben. Mit dem kostenlosen Abo kommt er bequem ins Emailfach.

23. Dezember 2019

Geplaudert: was fehlt und was zuviel ist

Frei, einfach so richtig frei. Ich kann es kaum glauben, weil ich eigentlich den Abgabetermin für ein Eilprojekt zum Jahresanfang hatte und mich nun selbst überholen konnte. Zu dem Preis, dass ich komplett urlaubsreif bin und mich endlich um die zum Glück langsam wiedererwachenden Nerven meines Zeigefingers kümmern darf, den ich mir vor lauter Erschöpfung in der Autotür gequetscht habe. Dafür habe ich mich selbst beschenkt: Ich stehe dieses Weihnachten nicht in der Küche, es kocht der wunderbare Traiteur, während ich mit dem kaputten Finger dirigiere. Und weil ich beim Traiteur in fünf Minuten fertig war, habe ich jetzt Lust, zum Kaffee etwas zu quasseln.

Die schönsten und tragfähigsten Mauern sind nicht diejenigen mit den genormten, absolut perfekt geformten Baumaterialien. Die krummen, unzureichenden bieten sogar vielen Arten von Lebewesen Wohnraum und zeigen eine eigene Schönheit..


Man macht sich ja oft grundsätzlichere Gedanken bei Einschnitten (Zeigefinger) und Zeitabschnitten (Jahreswende). Und wahrscheinlich geht es mir wie vielen Mitmenschen: Je nach Tagesform und Nachrichtenlage schwanke ich zwischen sarkastischem Pessimismus und hoffnungsvollem Utopienhunger, bin mal vollkommene Misanthropin (nach Überfütterung in Social Media) oder liebe die Menschen, weil sie nicht perfekt sind, sondern einfach menscheln (nach Kontakt im sogenannten Kohlenstoffleben). Und weil ich die Journalistin und Buchautorin in mir nicht kleinkriege, mache ich mir dazu dann oft noch "Metagedanken" (= die hat nichts besseres zu tun?).

Man könnte es auch so formulieren: Bevor ich postulieren würde, dass wir uns für die Zukunft endlich über effektive, schmerzlose Selbstmordprogramme austauschen sollten (Achtung, Sarkasmusalarm!), bin ich doch zu neugierig, wie es weitergehen könnte. Als eine im Großmutteralter sowieso, denn je älter man wird, desto mehr hängt man oft am Leben. Ja, das ist als Breitseite gedacht, nachdem eine von mir eigentlich hochgeschätzte Bewegung in ihrer Deutschlandabteilung gerade einen wohlverdienten Shitstorm erlebt hat, weil sie den unten gezeigten Tweet absonderte und das ach so lustig fand, dann zurückruderte mit "Was darf Satire?" und schließlich bei der FAZ tönte, wer das missverstehe, sei böswillig. Kann man machen, wenn man irgendein Schulkind in wildem Alter ist, geht aber ganz böse in die Hose, wenn man PR für eine politische Bewegung macht und verantwortlich für das offizielle Account ist. Das ist nicht nur daneben - hier hat man kurzsichtig den eigenen Feinden und Kritikern eine leider wohlfeile Steilvorlage geliefert.


Wohlgemerkt: Ich bin Fan von Fridays4Future und finde es absolut Mut machend und toll, dass es diese Bewegung gibt. Aber genau deshalb schaue ich genau hin. Ich habe in der letzten Zeit - und in meinem langen "Großelternleben" überhaupt - allzu viele gute Bewegungen als Rohrkrepierer enden sehen. Erinnert sich noch jemand an Nuit Debout? Die meisten bröselten von innen heraus - oft genug begleitet von dem Phänomen, dass die besonders lauten Mitglieder ein steigendes Maß an Selbstgerechtigkeit zu zeigen begannen. Da werde ich hellhörig und wünsche mir Einsichten.

Themenwechsel: unsere Umbruchzeiten. Es ist ein "Schaden" eines länger als ein halbes Jahrhundert währenden Lebens: Ich habe mich lange und tiefgehend mit Religionswissenschaften beschäftigt, aber auch mit Sektenmechanismen und Propaganda. Seither habe ich eine ganz schlimme Allergie gegen Selbstgerechtigkeit, ungesundes Sendungsbewusstsein bis hin zu missionarischem Eifer und all den anderen Mechanismen, aus denen sich fundamentalistische Ideologien speisen. Paart sich das Ganze noch mit faschistoidem Gedankengut oder Narzissmus, wird es fatal. Und da wäre ich bei einem Thema, über das ich ein Essay schreiben könnte, wenn ich es denn bezahlt bekäme - hier liegen an sehr vielen Stellen Krankheiten unserer Zeit (und gerade deshalb schreie ich lieber einmal zu viel "Achtung"). Zum Thema hätte ich für nächstes Jahr Lese- und Nachdenkstoff im Blog (auf Twitter verteile ich ihm meist gleich).

Und ich möchte es positiv formulieren: Mir fällt immer häufiger auf, was es sein könnte, woran es in unserer Zeit heute fehlt. Es fällt mir auf, weil manche Leute völlig befreit davon große Töne spucken und das halt in die Hose gehen muss.  Es fällt mir auf, weil es schmerzlich fehlt. Es fällt mir aber auch auf, weil es manche wunderbar integrieren und vorleben.

Ich möchte in der nächsten Zeit öfter über Miteinander statt Gegeneinander sprechen. Über Heilen statt Spalten. Mich interessieren Themen wie Sinnstiftung, Selbstverortung, Lösungsdenken. Und ich glaube, wir müssen in einer völlig neuen Weise über Emotionen reden und das, was man im weitesten Sinn als Spiritualität bezeichnen könnte - und zwar nicht im esoterisch abgegriffenen Sinn. Es gibt Menschen, die können das bahnbrechend mit Wissenschaft zusammendenken - davon werde ich euch im nächsten Jahr gern erzählen.

Dass ich schon wieder Essays schreiben könnte, müsste mich verraten: Ich habe meine Schreibe wieder!

Gründe für eine Bücherpause gab es ja mehrere. Ein eher innerer, den man mit sich selbst ausmacht, war die Tatsache, dass ich keine adäquaten Worte mehr für eine immer durchgeknalltere Zeit fand. Ich bin ja in keinem Genre unterwegs, das zeitlos ist und nicht so einfach von Realitäten umgeblasen werden kann. Und wenn ich glaubte, endlich einen völlig absurden Gedanken ausdrücken zu können, wurde er eine Stunde später völlig von der Realität getoppt.

Mir war theoretisch klar, dass es in einer solchen Zeit der Umwandlungen mit all ihren Extremen einer neuen Form bedurfte, einer neuen Sprache. Aber man kann ja das Rad nicht dreimal neu erfinden! Was tun? Vorbilder oder Vorlagen zum Lernen fand ich auch keine. Ich wusste nur: So wie ich es gewohnt war, Themen anzupacken; so, wie es Verlage gewohnt sind, Themen einzukaufen, kann und will ich nicht mehr arbeiten.

Zum Glück haben die ganz großen Könnerinnen und Könner diesen Weg nun geebnet, wenigstens im englischsprachigen Raum. Oft zwar als deutschsprachige Übersetzung vorhanden, aber in Deutschland eher absolute Nische bis Outsiderliteratur. Selbst die Nobelpreisträgerin unter ihnen wird in Deutschland von einem eher kleinen Verlag verlegt.

Auch davon will ich erzählen, wenn ich über die Feiertage genüsslich gelesen habe. Die Vorbilder jedenfalls machen mich wieder absolut heiß aufs Schreiben: Alles ist möglich, alles ist frei. Romane und Sachbücher können sogar völlig miteinander verschmelzen, im besten Sinn bestimmt der Inhalt die Form.

Ich hatte bereits "Underland" (Im Unterland) von Robert Macfarlane genannt, ein Buch, das ins Gebein geht, mich immer noch nicht loslässt. Ein erzählendes Sachbuch, dass haarscharf mit nichtlinearen Erzählformen und anderen Medien spielt: Hier findet sich der Ich-Sprecher einer Reisedoku aus dem Fernsehen ebenso wie das Patchworkhafte von Internetformen, stets im rechten Moment abgefedert durch einen durchgängigen eigenen Stil, eine vertiefende Sicht.

Noch extremer macht es Richard Powers mit "The Overstory" ("Die Wurzeln des Lebens"), der für diesen Roman den Pulitzerpreis bekam und für den Man Booker Prize nominiert war. Nachdem so viele Menschen ("Kundenmeinungen") gar nicht verstanden, was das alles soll, war ich skeptisch: Würde er diese künstlerisch und damit künstlich aufgestülpte Form wirklich glaubhaft durchhalten können? Die besten Autorinnen und Autoren versagen nämlich bei so etwas.

Man muss sich das so vorstellen: Powers versucht, in seinem Roman von den Bäumen aus zu erzählen, Bäume sind die eigentlichen Hauptfiguren. Aber sie sind fremde Wesen, "funktionieren" nicht menschlich. Und so bildet das Buch im Aufbau selbst einen Baum: Scheinbar plakativ erzählte Einzelschicksale, im Zeitraffer dargestellt, scheinen sich weit voneinander entfernt in der Luft zu bewegen wie Blätter im Wind. Zunächst tut man sich etwas schwer, weil die Figuren nicht wie üblich in Romanen eingeführt werden. Man fiebert nicht mit, ist aber gebannt. Kann den Flickenteppich zunächst nicht zusammensetzen. Bis das Buch zum Baumstamm wird. Menschen begegnen sich zufällig wie in einem Episodenfilm und es gibt auch einen meisterhaften Film, der mich an dieses Buch erinnert: "Cloud Atlas" nach dem Roman "Der Wolkenatlas" von David Mitchell.

Ich bin erst beim "Stamm" und staune Bauklötzchen, mit welchem Können Powers die Menschenleben über lange Epochen sich verzweigen lässt, sie zusammenführt, mit losen Enden operiert. Und ich bin sehr gespannt, wie das weitergeht. Gleichzeitig weiß man manchmal kaum, ob man ein gutes Sachbuch gelesen hat oder in einem Roman hängt, fragt sich, was ersponnen wurde und was echte Vorlage ist. Denn bei seiner Figur namens Patrica Westerford ist es sehr deutlich - dahinter steckt die Wissenschaftlerin Suzanne Simard.

Es sind Texte, die patchworkartig entstehen. Texte mit unglaublichen Lücken, die man sich früher nie hätte leisten dürfen. Sie spielen mit Geschwindigkeiten von der Zeitlupe bis zum Zeitraffer, bis ins Extrem, bedienen sich bei filmischen Methoden wie der Makroaufnahme. Sie haben den Mut zum internethaften Fragment, zum Kurztext - der Zusammenhang entsteht erst in Gehirn der LeserInnen. Sie verbinden spielerisch und faszinierend das scheinbar Unvereinbare. Und sind damit so sehr Texte unserer Zeit.

Nur kurz angetippt: Dieses fragmenthafte Schreiben begeisterte mich bereits, als "Unrast" von Olga Tokarczuk erschien. Damals, vor elf Jahren, blieben mir die Worte beim Versuch einer Rezension weg. Ich möchte noch in Ruhe ihre Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises lesen, wo auch sie sich mit einem notwendig gewordenen "neuen Schreiben" für diese Zeit auseinandersetzt. Sie nennt es "zärtliches Schreiben".

Und da sind wir jetzt bei einer Klammer um das Ganze, einem Buch, das ich derzeit nur als Leseprobe vor mir liegen habe, aber ganz lesen werde. Obwohl schon fünf Jahre alt, ist es bis heute nie ins Deutsche übersetzt worden. Die Autorin begeisterte mich in einem Podcast auf einer meiner Lieblingsplattformen, dem Emergency Magazine. Es geht um Robin Wall Kimmerer mit einem Multimediabeitrag: "Corn Tastes Better on the Honor System". Macfarlane zitiert sie auch öfter. Und ihr gelingt diese Zusammenschau, von der ich oben spreche: Wissenschaft und Spiritualität. Die Frau ist Umweltbiologin und gleichzeitig Native mit traditioneller Erziehung und sie sagt: Das ergänzt sich beides wunderbar. Ich bin gespannt, inwieweit mich ihr Buch "Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants" inspirieren wird auf der Suche nach dem, was fehlt. Dass reiner Aktionismus und eine rein technologische Art von Wissenschaftlichkeit uns nicht aus dem Dilemma bringen, erlebe ich so oft draußen im Wald, im Naturpark .... mit der unglaublichen Naturferne von immer mehr Menschen. Und mit der sehr gefährlichen Spaltung im Kopf zwischen den "Polen" Mensch und Natur. Das hatten wir auch schon mal besser drauf.

Ich bin darum sehr neugierig auf das kommende Jahr und werde dann hoffentlich auch die Zeit haben, etwas ausführlicher als bei Twitter von neuen Forschungen und Entwicklungen zu berichten, die in gute Richtungen gehen. Es tut sich tatsächlich einiges und das gilt es zu verstärken.

Tipp: Die Links führen diesmal öfter zu anderen Beiträgen von mir zum Thema.
Antitipp: Falls ich mich gnadenlos ständig wiederhole, liegt's nicht an meinem Alter, sondern daran, dass ich eben 1700 Wildbienenfotos samt entomologischen Daten digitalisiert habe, das blockiert durchaus Synapsen. ;-) 

Frohe Festtage!

Ich wollte noch so viel bloggen und etwas Schönes für die Feiertage schreiben. Aber ich bin erst am Samstag mit Doppelschichten für ein Eilprojekt fertiggeworden und mit dem Zahnarzt auch eben erst - sprich, keine Zeit für nix und Erholungsbedürfnis.

Für die WeihnachtsverächterInnen habe ich auch was: Extrakitsch


Also mache ich das jetzt ganz kurz knapp und wünsche all meinen treuen und zufälligen Leserinnen und Lesern ein möglichst friedliches und entspanntes Weihnachtsfest; Tage, an denen man sich inmitten einer widersprüchlichen Welt auf das Schöne und Positive konzentrieren kann und Gemeinsamkeit genießen - oder Alleinsein auch mal zelebrieren. Habt es gut!

Vor dem Jahreswechsel lesen wir uns noch und im Januar verspreche ich einen längeren Newsletter, weil ich dann eine Aktion mit meiner Kunst, meinem Schmuck vorhabe.

Frohe Festtage!

10. Dezember 2019

In Schichten lesen, in Bibliotheken wandern

Ich jubele wie ein kleines Kind an Weihnachten, als ich an Totholz im Wald fünf verschiedene Arten von Pilzen sehe. Wie gemalt bersten sie von Farbigkeit, da sind die flachen, braunbunt Geringelten, die wie Dächer zur Seite ragen, darüber kräuselt es sich kräftig rotbraun und fleischig. Zartbeige winzige Hütchen haben sonnenartig gemusterte Ränder, winzig blaugrün schimmert es, was man im Volksmund "Elfenholz" nennt. Von einem Pilz verfärbtes Holz, einst für Intarsien hochbegehrt und teuer bezahlt. Ich verwende es auch für Schmuck und zeige hier mehr Fotos.


Chlorociboria aeruginascens - Kleinsporiger Grünspanbecherling an Totholz, im Englischen märchenhafter Green elfcup genannt. Sein Myzelium lagert den Farbstoff Xylindein in den Pflanzenfasern ein, der lichtecht und beständig bleibt.

Unwillkürlich ertappe ich mich, wie ich in diesem bröselnden Baumstamm lese wie in einem Buch. Mir fallen weniger die Pilzarten ein als ihre Wirkung auf das Holz, die mich so sehr an die Arbeit mit Buchpapier erinnert. Je nach Pilzart wird das Holz nämlich papierähnlich.

Man kann sich das recht einfach merken und an der Farbe der Zersetzungen sehen:

Von Pilzen verursachte Weißfäule baut zuerst das Lignin ab. Das ist der Stoff, der Pflanzen verholzen lässt und Holz hart macht, übrigens ein Biopolymer. Es erinnert nicht zufällig vom Namen her an Plastik, dieses besteht nämlich aus technischen Polymeren, die herkömmlich aus Erdöl gewonnen werden. Aber nahezu alle Lebewesen haben Polymere in sich, ohne die natürlichen Biopolymere wäre kein Leben möglich. Wenn der harte, zellstützende Teil des Holzes wegfault, bleibt das Weiche am längsten übrig, darunter die Zellulose. Darum sieht derart weiß zerfallenes Holz ein wenig wie Papier aus - man kann es sogar wie Pappmachée verarbeiten. Dabei wird ihm künstlich über den Weißkleber ein anderes Polymer zugeführt, es wird formbar und stabil.

Von Pilzen verursachte Braunfäule dagegen greift zuerst die Zellulose im Holz an, die Weichteile also. Das Holz reißt, splittert, kracht, bildet Höhlungen. Zum Schluss bleibt nur noch Pulver übrig.

Was das mit Papier zu tun hat? Ich fühle es zwischen den Fingern, wenn ich es bearbeite, Wasser und Leime zuführe - und natürlich weiß ich auch, warum das eine wunderbar zu verarbeiten ist und das andere nicht. Man kann auch das etwas vereinfachend auf den Punkt bringen: Das aufgeblasene Papier billiger "Premiumtaschenbücher" besteht meist aus sehr billigen, sehr kurzen Zellulosefasern mit ein wenig Chemie. Sprich: Greife ich die auch nur ein wenig an, zerfasert es, wird unformbar. Bücher aus dem 19. Jahrhundert dagegen enthalten noch recht viel Lignin durch die Holzfasern. Dadurch vergilbt solches Papier in einer eigenen Weise, ist aber bei der Verarbeitung wunderbar stabil. Das Biopolymer verbindet sich ideal mit künstlichem.

Inzwischen kann ich kein Buch mehr anfassen, ohne an Pilze im Wald und den Lebenszyklus von Holz zu denken. Das kommt aber auch daher, dass meine Bibliothek nicht nur über die Jahre gewachsen ist, sondern auch uralte Bücher enthält. Schon als Kind, aufgewachsen in einem buchfernen Haushalt, in dem die Zusendung des Bertelsmann Buchclubs das höchste der Gefühle war, grapschte ich mir, was im Müllcontainer landete, wenn die Bücher alter Leute nach deren Tod entrümpelt wurden. Ich liebte es, mir Frakturschrift beizubringen und die handschriftlichen Hinterlassenschaften zu entziffern. Manchmal waren es Anmerkungen am Rand, manchmal hatte jemand einen Brief im Buch vergessen, einen uralten Zeitungsausschnitt. Solche Bücher erzählen Geschichten - und ihrem jeweiligen Gehalt an Lignin oder Zellulose habe ich ihre Haltbarkeit zu verdanken, wenn keine Säuren ins Spiel kommen.

Neuerdings streife ich häufiger durch meine Regale, so wie ich für mein "Buchprojekt" durch jenen Wald mit dem "Elfenholz" wandere. Natürlich finde ich vieles, was mich persönlich nachhaltig geprägt hat. Immer noch mein größter Schatz ist die Prachtausgabe von Lincoln Barnetts "Die Welt in der wir leben. Die Naturgeschichte unserer Erde" von Life, die ich mir mit neun Jahren zu Weihnachten gewünscht hatte. Kaum ein anderes Buch wurde derart oft von mir durchgeblättert und immer wieder von Neuem bestaunt.

Außer der anderen Reihe, die mich dann gefangennahm: "Das große Bilderlexikon..." der Pflanzen, Tiere, Insekten etc. von einem gewissen F. A. Novak. Es gab so ziemlich alle bekannten Spezies der Zeit in einzelnen Bänden zu sehen, hatte ich den Eindruck, in unzähligen Schwarzweißfotos und wenigen Farbtafeln. Ich konnte noch nicht richtig lesen, da rannte ich schon zwischen Sandkasten und Regal hin und her, um eine Schnecke oder einen Käfer zu bestimmen. Ich hatte es nicht einfach: Es war streng verboten, die "guten Bücher" aus dem Wohnzimmer zu entfernen, aber genauso wenig durfte ich die Schnecken und Insekten mit ins Wohnzimmer bringen. Ich musste mir ihr Aussehen möglichst genau merken. Und ich nutze diese Bücher heute noch gern.

Dann kam immer mal wieder ein Schwung Bücher hinzu, der bestimmten Leuten zugeordnet werden konnte und die schon dadurch Geschichten in sich haben. Es gibt ein ganzes Regalfach von einem immens reichen Sheikh aus irgendeinem arabischen Land. Der hatte einmal Unmengen Bücher in allen möglichen Sprachen an deutsche Bibliotheken gespendet und die hatten dankend angenommen, die Schätze aber nicht alle nutzen wollen. Man konnte sich melden, wenn man die Bücher paketweise abnahm. Wunderbare Bildbände über al Andaluz, über Kulturgeschichte, Kunst und Architektur und auch Saadhis "Rosengarten"-Dichtung. Wer auch immer dieser Sheikh war, er hat meinen Horizont erweitert. Manchmal frage ich mich, ob er die Bücher selbst kannte oder einfach nach Gießkannenprinzip ausgesucht hatte.

Ernster ist ein anderes Fach, das als Erbe verteilt worden war. Ich hatte gerade angefangen, Theologie zu studieren, da verschenkte uns die Landeskirche Bücher eines verstorbenen Rabbiners. Der hatte verfügt, sie seien StudentInnen der evangelischen Theologie zu schenken, als Dankeschön für freundschaftliche Beziehungen. So kam ich an alte Bücher über Literatur, Literaturwissenschaft und Philosophie, allesamt aus den 1920er Jahren, aber auch den 1930ern und darum von einer besonderen Geschichte: Wie mögen sie, wie mag ihr Besitzer, den Holocaust überlebt haben, habe ich mich immer gefragt. Es hat gebraucht, bis ich wagte, sie anzufassen, zu öffnen. Es war die Zeit, als ich begann, Judaistik zu studieren, Buber auf Jiddisch las. Erst heute dank Internet weiß ich, dass jener um uns Studierende bemühte Rabbiner mit Bubers Kreisen eng bekannt war. Ihm persönlich war es gelungen, nach der Inhaftierung in Birkenau nach Palästina zu flüchten.

Noch heute erzählen diese Bücher Schmerzliches, wenn man in den Lücken zu lesen weiß. Da ist eines von 1937 mit einem Vorbesitzer anderen Namens, in dem noch Karten lagen. Geburtstagskarten des Jahres 1946 an eben jenen Vorbesitzer, die sich erst nett lesen: "Ich werde in Berlin in herzlichem Gedenken an Sie ein Gläschen trinken und ein amerikanisches Zigarettchen rauchen." Das Vergangene wird nicht angesprochen, nur der "Gesundheitszustand". In einem Brief macht eine Frau Mut, wenn es ihm denn gelänge, ein wenig Ruhe für sein Herz zu finden, würde er auch wieder zunehmen, so wie es ihrem Mann gelungen sei. Ein Buch, das mit dem Holocaust nichts zu tun hat und doch beredt von ihm erzählt.

Und dann ist da die verschwundene Bibliothek in der meinen. Die mit meinem neuen alten Projekt zu tun hat und auch durch "Müll" zu mir kam, wie die Bücher meiner Kindheit.

Das Chateau Le Bel vor etwa 20 Jahren, als es noch nicht ganz Ruine war ...


Ich hatte immer nur von ihr gehört. Vom Archivar des Museums, von damals sehr alten Augenzeugen, als Erwähnung in alten Schriften. Es handelt sich um die "Schlossbibliothek", die Privatbibliothek des Erdölclans der Le Bel in Pechelbronn. Über die Grenzen berühmt wurde sie mit Joseph Achille Le Bel, dem großen Chemiker und Wissenschaftler; denn er soll alles bessessen haben, was damals dem Stand der Wissenschaft und Naturkunde entsprach. Schon seine Eltern und Großeltern hatten nicht einfach nur Bücher gekauft - sie kannten die Autoren persönlich, wie den Weltreisenden Georg Forster. Sämtliche seiner Werke sollen sie besessen haben, spurlos sind sie verschwunden, spätestens, als das gesamte Inventar des Schlosses versteigert worden war. Joseph Achille hatte nicht weniger illustre Freunde, auch Alexander von Humboldt soll unter ihnen gewesen sein, hochgeschätzt von ihm.

Diese verschwundene Bibliothek ist ein Traumort der Art: Wenn ich doch nur eine Zeitmaschine hätte, den Gesprächen damals beiwohnen könnte, die illustren Besucher sehen! Oder auch nur: Wenn ich eines dieser alten Bücher in Händen halten dürfte, nur einmal anschauen ... Aber sie sind in alle Winde zerstreut worden und haben hoffentlich nicht den Weg mancher Möbel genommen - in den Ofen.

Und dann, eines Tages, ist es passiert. Eine klitzekleine Zeitmaschine begegnete mir, als jemand in Schlossnähe eine Kiste voller Bücher vor die Tür stellte, um sie zur Deponie zu schaffen. Büchertausch war damals noch nicht en vogue. Wirklich im Affekt stürzte ich mich auf den Mann und bettelte, ob ich nicht vorher die Kiste durchsehen könne. Viel Zeit hatte ich nicht, wahllos schnappte ich nach den Exemplaren, die besonders alt aussahen und noch nicht völlig zerfallen waren. Erst zuhause konnte ich mir die Schätzchen ansehen. Der Mann hatte es mit dem Müll eilig. Obwohl ich ihn darauf hinwies, dass er womöglich für andere Wertvolles wegwerfe, hatte er nur Verächtlichkeit für den "Dreck" übrig, ja, dreckig und fleckig seien die Bücher, ekelhaft. Ich war verrückt in seinen Augen, sie retten zu wollen.

Ich staunte nicht schlecht, als ich eine "Deutsche Sprachlehre für Schulen" von 1850 aufschlug. Mit einer unwahrscheinlich feinen Handschrift hat sich vorn die Schwester von Joeph Achille Le Bel verewigt. Ein Lesezeichen mit der gleichen Schrift und Tinte zeigt auf beiden Seiten, dass es aus kalligrafischen Übungen gerissen wurde. Zu gern hätte ich das ganze Blatt gesehen! Aber das war etwas, wovon ich träumte - ein Buch aus dem Schloss, vom Erdölclan. Ein handsigniertes Chirurgiehandbuch von 1877 war dabei, eine wunderbare Enzyklopädie der Geographie von 1804. Die letzten Zeugnisse der Schlossbibliothek ...

Und so hatte mich ein neuer Virus befallen. Ich hielt in Antiquariaten Ausschau nach alten Erdölbüchern, die bezahlbar waren. Ich konnte sogar die vergilbte Festschrift ergattern, zu den "Ausgrabungen des Monsieur Le Bel". Der war durchs Erdöl zum mehrfachen Millionär geworden, gab aber das Geschäft auf und steckte alles Geld in die Forschung. Immer an Dingen unter der Erde interessiert, kaufte er kurzerhand Gelände für Grabungen und bezahlte die Archäologen ... im heute weltbrühmten Les Eyzies mit seinen Funden aus dem Magdalenien, vom Cro-Magnon.

Ein anderes Schätzchen ist 1983 in New York von einer gewissen "Anne" signiert worden, die es auch geschrieben hat. Ihr habe ich die Daten der Geschichte über die Schlumberger in meinem Elsassbuch zu verdanken. Sie war mit dem Protagonisten Doll in erster Ehe verheiratet gewesen und die Tochter eines der Schlumberger-Brüder, die zum ersten Mal die Erde unterirdisch vermaßen. "The Schlumberger Adventure" heißt das Buch.

Es ist ein Wandern derzeit, durch Schichten. Der Ort der Handlung verschmilzt mit Büchern, Geschichten öffnen sich, Texte geben Fingerzeige. Ob ich blaugrün leuchtenden Pilzen folge oder den Spuren fleckigen Papiers ... ich bin so leicht nicht mehr von der Geschichte wegzubekommen. Schmerzlich fehlt es mir an Zeit, aber ich habe gelernt, die erzwungene "Entschleunigung" als Chance anzusehen. So vieles lässt sich im Kopf planen und denken, vorab.

Für das Projekt selbst habe ich ein neues Blog aufgemacht - das schreibe ich allerdings, aus Gründen, in englischer Sprache. Im Menu gibt's das Übersetzerle von Google.

9. Dezember 2019

Mein Shop - Pause

Ich hatte es bereits angekündigt, dass ich meinen Etsy-Shop ein Weilchen auf Pause schalte. Da ich inzwischen den Großteil des Schmucks als Maßanfertigung nach Wunsch mache, bin ich bis Jahresende ausgebucht. Dazu kommt, dass ich im Moment in meinem Nebenjob Gas geben muss, um den Zahnarzt bezahlen zu können. Der verdient nämlich pro Stunde ein dickes Mehrfaches als ich als Künstlerin.

Geäst von Clematis vitalba, Pilze, Buchpapier, Papiergarn, Glasperlen, Papierperlen (Atelier Tetebrec)


Nun wurde ich mehrfach gefragt, ob es denn ausgerechnet zur Weihnachtszeit sein müsse, ob ich nicht wenigstens jetzt mal öffnen könnte. Ich kann das verstehen und es tut mir leid um jede und jeden, die ich traurig mache, sich jetzt bei mir keine Geschenke bestellen zu können. Es ist doof, aber ich muss Prioritäten setzen und kann mich leider nicht zerteilen.

Dazu kommt ein Umstand, den niemand vorhersehen konnte: Durch den ausgeweiteten Streik in Frankreich wäre ich selbst bei bestem Willen gar nicht in der Lage, die Bestellungen fristgerecht zu versenden. Es ist nicht abzusehen, wann bei uns überhaupt das Transportwesen wieder richtig funktionieren wird (für Donnerstag sind immerhin 10% angesagt). Dadurch, dass sich Pakete dann stauen, verliert sich auch schon mal was im Chaos. Noch haben wir keine Benzinknappheit, aber auch die Raffinerien werden bestreikt. Ihr könnt euch das nicht vorstellen, aber es herrscht einfach nur noch Chaos und nichts funktioniert wirklich. Die meisten Leute sind innerlich darum schon auf Weihnachtsferien gepolt, sprich, es funktioniert auch nicht mehr wirklich, was nicht bestreikt wird. Und Päckchen ins Ausland, für alles, was weiter von der Grenze weg liegt, laufen leider immer über Paris, wo noch weniger als wenig funktioniert.

Keine Angst übrigens um die bereits angenommenen Bestellungen, die liefere ich persönlich über die Grenze!

Ich werde dann in Ruhe im nächsten Jahr wieder eröffnen und dann gibt es auch einen kleinen "Sale" von älteren Stücken, die nicht mehr ganz so zur neuen Kollektion passen, aber wie all meine Stücke zeitlos sind! Und jetzt muss ich wieder in Arbeit abtauchen ...