Ich jubele wie ein kleines Kind an Weihnachten, als ich an Totholz im Wald fünf verschiedene Arten von Pilzen sehe. Wie gemalt bersten sie von Farbigkeit, da sind die flachen, braunbunt Geringelten, die wie Dächer zur Seite ragen, darüber kräuselt es sich kräftig rotbraun und fleischig. Zartbeige winzige Hütchen haben sonnenartig gemusterte Ränder, winzig blaugrün schimmert es, was man im Volksmund "Elfenholz" nennt. Von einem Pilz verfärbtes Holz, einst für Intarsien hochbegehrt und teuer bezahlt. Ich verwende es auch für Schmuck und
zeige hier mehr Fotos.
Unwillkürlich ertappe ich mich, wie ich in diesem bröselnden Baumstamm lese wie in einem Buch. Mir fallen weniger die Pilzarten ein als ihre Wirkung auf das Holz, die mich so sehr an die Arbeit mit Buchpapier erinnert. Je nach Pilzart wird das Holz nämlich papierähnlich.
Man kann sich das recht einfach merken und an der Farbe der Zersetzungen sehen:
Von Pilzen verursachte Weißfäule baut zuerst das
Lignin ab. Das ist der Stoff, der Pflanzen verholzen lässt und Holz hart macht, übrigens ein Biopolymer. Es erinnert nicht zufällig vom Namen her an Plastik, dieses besteht nämlich aus technischen Polymeren, die herkömmlich aus Erdöl gewonnen werden. Aber nahezu alle Lebewesen haben Polymere in sich,
ohne die natürlichen Biopolymere wäre kein Leben möglich. Wenn der harte, zellstützende Teil des Holzes wegfault, bleibt das Weiche am längsten übrig, darunter die Zellulose. Darum sieht derart weiß zerfallenes Holz ein wenig wie Papier aus - man kann es sogar wie Pappmachée verarbeiten. Dabei wird ihm künstlich über den Weißkleber ein anderes Polymer zugeführt, es wird formbar und stabil.
Von Pilzen verursachte Braunfäule dagegen greift zuerst die
Zellulose im Holz an, die Weichteile also. Das Holz reißt, splittert, kracht, bildet Höhlungen. Zum Schluss bleibt nur noch Pulver übrig.
Was das mit Papier zu tun hat? Ich fühle es zwischen den Fingern, wenn ich es bearbeite, Wasser und Leime zuführe - und natürlich weiß ich auch, warum das eine wunderbar zu verarbeiten ist und das andere nicht. Man kann auch das etwas vereinfachend auf den Punkt bringen: Das aufgeblasene Papier billiger "Premiumtaschenbücher" besteht meist aus sehr billigen, sehr kurzen Zellulosefasern mit ein wenig Chemie. Sprich: Greife ich die auch nur ein wenig an, zerfasert es, wird unformbar. Bücher aus dem 19. Jahrhundert dagegen enthalten noch recht viel Lignin durch die Holzfasern. Dadurch vergilbt solches Papier in einer eigenen Weise, ist aber bei der Verarbeitung wunderbar stabil. Das Biopolymer verbindet sich ideal mit künstlichem.
Inzwischen kann ich kein Buch mehr anfassen, ohne an Pilze im Wald und den Lebenszyklus von Holz zu denken. Das kommt aber auch daher, dass meine Bibliothek nicht nur über die Jahre gewachsen ist, sondern auch uralte Bücher enthält. Schon als Kind, aufgewachsen in einem buchfernen Haushalt, in dem die Zusendung des Bertelsmann Buchclubs das höchste der Gefühle war, grapschte ich mir, was im Müllcontainer landete, wenn die Bücher alter Leute nach deren Tod entrümpelt wurden. Ich liebte es, mir Frakturschrift beizubringen und die handschriftlichen Hinterlassenschaften zu entziffern. Manchmal waren es Anmerkungen am Rand, manchmal hatte jemand einen Brief im Buch vergessen, einen uralten Zeitungsausschnitt. Solche Bücher erzählen Geschichten - und ihrem jeweiligen Gehalt an Lignin oder Zellulose habe ich ihre Haltbarkeit zu verdanken, wenn keine Säuren ins Spiel kommen.
Neuerdings streife ich häufiger durch meine Regale, so wie ich für mein "Buchprojekt" durch jenen Wald mit dem "Elfenholz" wandere. Natürlich finde ich vieles, was mich persönlich nachhaltig geprägt hat. Immer noch mein größter Schatz ist die Prachtausgabe von Lincoln Barnetts "
Die Welt in der wir leben. Die Naturgeschichte unserer Erde" von Life, die ich mir mit neun Jahren zu Weihnachten gewünscht hatte. Kaum ein anderes Buch wurde derart oft von mir durchgeblättert und immer wieder von Neuem bestaunt.
Außer der anderen Reihe, die mich dann gefangennahm: "Das große Bilderlexikon..." der Pflanzen, Tiere, Insekten etc. von einem gewissen F. A. Novak. Es gab so ziemlich alle bekannten Spezies der Zeit in einzelnen Bänden zu sehen, hatte ich den Eindruck, in unzähligen Schwarzweißfotos und wenigen Farbtafeln. Ich konnte noch nicht richtig lesen, da rannte ich schon zwischen Sandkasten und Regal hin und her, um eine Schnecke oder einen Käfer zu bestimmen. Ich hatte es nicht einfach: Es war streng verboten, die "guten Bücher" aus dem Wohnzimmer zu entfernen, aber genauso wenig durfte ich die Schnecken und Insekten mit ins Wohnzimmer bringen. Ich musste mir ihr Aussehen möglichst genau merken. Und ich nutze diese Bücher heute noch gern.
Dann kam immer mal wieder
ein Schwung Bücher hinzu, der bestimmten Leuten zugeordnet werden konnte und die schon dadurch Geschichten in sich haben. Es gibt ein ganzes Regalfach von einem immens reichen Sheikh aus irgendeinem arabischen Land. Der hatte einmal Unmengen Bücher in allen möglichen Sprachen an deutsche Bibliotheken gespendet und die hatten dankend angenommen, die Schätze aber nicht alle nutzen wollen. Man konnte sich melden, wenn man die Bücher paketweise abnahm. Wunderbare Bildbände über al Andaluz, über Kulturgeschichte, Kunst und Architektur und auch Saadhis "Rosengarten"-Dichtung. Wer auch immer dieser Sheikh war, er hat meinen Horizont erweitert. Manchmal frage ich mich, ob er die Bücher selbst kannte oder einfach nach Gießkannenprinzip ausgesucht hatte.
Ernster ist ein anderes Fach, das als Erbe verteilt worden war. Ich hatte gerade angefangen, Theologie zu studieren, da verschenkte uns die Landeskirche Bücher eines verstorbenen Rabbiners. Der hatte verfügt, sie seien StudentInnen der evangelischen Theologie zu schenken, als Dankeschön für freundschaftliche Beziehungen. So kam ich an alte Bücher über Literatur, Literaturwissenschaft und Philosophie, allesamt aus den 1920er Jahren, aber auch den 1930ern und darum von einer besonderen Geschichte: Wie mögen sie, wie mag ihr Besitzer, den Holocaust überlebt haben, habe ich mich immer gefragt. Es hat gebraucht, bis ich wagte, sie anzufassen, zu öffnen. Es war die Zeit, als ich begann, Judaistik zu studieren, Buber auf Jiddisch las. Erst heute dank Internet weiß ich, dass jener um uns Studierende bemühte Rabbiner mit Bubers Kreisen eng bekannt war. Ihm persönlich war es gelungen, nach der Inhaftierung in Birkenau nach Palästina zu flüchten.
Noch heute erzählen diese Bücher Schmerzliches, wenn man in den Lücken zu lesen weiß. Da ist eines von 1937 mit einem Vorbesitzer anderen Namens, in dem noch Karten lagen. Geburtstagskarten des Jahres 1946 an eben jenen Vorbesitzer, die sich erst nett lesen: "Ich werde in Berlin in herzlichem Gedenken an Sie ein Gläschen trinken und ein amerikanisches Zigarettchen rauchen." Das Vergangene wird nicht angesprochen, nur der "Gesundheitszustand". In einem Brief macht eine Frau Mut, wenn es ihm denn gelänge, ein wenig Ruhe für sein Herz zu finden, würde er auch wieder zunehmen, so wie es ihrem Mann gelungen sei. Ein Buch, das mit dem Holocaust nichts zu tun hat und doch beredt von ihm erzählt.
Und dann ist da die verschwundene Bibliothek in der meinen. Die mit meinem neuen alten Projekt zu tun hat und auch durch "Müll" zu mir kam, wie die Bücher meiner Kindheit.
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Das Chateau Le Bel vor etwa 20 Jahren, als es noch nicht ganz Ruine war ... |
Ich hatte immer nur von ihr gehört. Vom Archivar des Museums, von damals sehr alten Augenzeugen, als Erwähnung in alten Schriften. Es handelt sich um die "Schlossbibliothek", die Privatbibliothek des Erdölclans der Le Bel in Pechelbronn. Über die Grenzen berühmt wurde sie mit
Joseph Achille Le Bel, dem großen Chemiker und Wissenschaftler; denn er soll alles bessessen haben, was damals dem Stand der Wissenschaft und Naturkunde entsprach. Schon seine Eltern und Großeltern hatten nicht einfach nur Bücher gekauft - sie kannten die Autoren persönlich, wie den Weltreisenden
Georg Forster. Sämtliche seiner Werke sollen sie besessen haben, spurlos sind sie verschwunden, spätestens, als das gesamte Inventar des Schlosses versteigert worden war. Joseph Achille hatte nicht weniger illustre Freunde, auch
Alexander von Humboldt soll unter ihnen gewesen sein, hochgeschätzt von ihm.
Diese verschwundene Bibliothek ist ein Traumort der Art: Wenn ich doch nur eine Zeitmaschine hätte, den Gesprächen damals beiwohnen könnte, die illustren Besucher sehen! Oder auch nur: Wenn ich eines dieser alten Bücher in Händen halten dürfte, nur einmal anschauen ... Aber sie sind in alle Winde zerstreut worden und haben hoffentlich nicht den Weg mancher Möbel genommen - in den Ofen.
Und dann, eines Tages, ist es passiert. Eine klitzekleine Zeitmaschine begegnete mir, als jemand in Schlossnähe eine Kiste voller Bücher vor die Tür stellte, um sie zur Deponie zu schaffen. Büchertausch war damals noch nicht en vogue. Wirklich im Affekt stürzte ich mich auf den Mann und bettelte, ob ich nicht vorher die Kiste durchsehen könne. Viel Zeit hatte ich nicht, wahllos schnappte ich nach den Exemplaren, die besonders alt aussahen und noch nicht völlig zerfallen waren. Erst zuhause konnte ich mir die Schätzchen ansehen. Der Mann hatte es mit dem Müll eilig. Obwohl ich ihn darauf hinwies, dass er womöglich für andere Wertvolles wegwerfe, hatte er nur Verächtlichkeit für den "Dreck" übrig, ja, dreckig und fleckig seien die Bücher, ekelhaft. Ich war verrückt in seinen Augen, sie retten zu wollen.
Ich staunte nicht schlecht, als ich eine "Deutsche Sprachlehre für Schulen" von 1850 aufschlug. Mit einer unwahrscheinlich feinen Handschrift hat sich vorn die Schwester von Joeph Achille Le Bel verewigt. Ein Lesezeichen mit der gleichen Schrift und Tinte zeigt auf beiden Seiten, dass es aus kalligrafischen Übungen gerissen wurde. Zu gern hätte ich das ganze Blatt gesehen! Aber das war etwas, wovon ich träumte - ein Buch aus dem Schloss, vom Erdölclan. Ein handsigniertes Chirurgiehandbuch von 1877 war dabei, eine wunderbare Enzyklopädie der Geographie von 1804. Die letzten Zeugnisse der Schlossbibliothek ...
Und so hatte mich ein neuer Virus befallen. Ich hielt in Antiquariaten Ausschau nach alten Erdölbüchern, die bezahlbar waren. Ich konnte sogar die vergilbte Festschrift ergattern, zu den "Ausgrabungen des Monsieur Le Bel". Der war durchs Erdöl zum mehrfachen Millionär geworden, gab aber das Geschäft auf und steckte alles Geld in die Forschung. Immer an Dingen unter der Erde interessiert, kaufte er kurzerhand Gelände für Grabungen und bezahlte die Archäologen ... im heute weltbrühmten
Les Eyzies mit seinen Funden aus dem Magdalenien, vom Cro-Magnon.
Ein anderes Schätzchen ist 1983 in New York von einer gewissen "
Anne" signiert worden, die es auch geschrieben hat. Ihr habe ich die Daten der Geschichte über die Schlumberger in meinem
Elsassbuch zu verdanken. Sie war mit dem Protagonisten Doll in erster Ehe verheiratet gewesen und die Tochter eines der Schlumberger-Brüder, die zum ersten Mal die Erde unterirdisch vermaßen. "The Schlumberger Adventure" heißt das Buch.
Es ist ein Wandern derzeit, durch Schichten. Der Ort der Handlung verschmilzt mit Büchern, Geschichten öffnen sich, Texte geben Fingerzeige. Ob ich blaugrün leuchtenden Pilzen folge oder den Spuren fleckigen Papiers ... ich bin so leicht nicht mehr von der Geschichte wegzubekommen. Schmerzlich fehlt es mir an Zeit, aber ich habe gelernt, die erzwungene "Entschleunigung" als Chance anzusehen. So vieles lässt sich im Kopf planen und denken, vorab.
Für das Projekt selbst habe ich ein neues Blog aufgemacht - das schreibe ich allerdings, aus Gründen, in englischer Sprache. Im Menu gibt's das Übersetzerle von Google.