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30. Oktober 2019

Bilbo trüffelt sich Gras

Eines muss ich noch unbedingt loswerden - für alle Bilbo-Fans! Es haben ja einige mitgebangt, als ich die Fehldiagnose eines hyperaktiven Tierarztes bekam, die mich in ein tiefes Loch zog. Und dann kam zum Glück der zweite Arzt und die Entwarnung. Kurzum: Es geht dem Viechl prächtig!

Bilbo im Lieblingsbiotop - wir beide sind einfach Waldwesen!


Selbst das "Gewächs" im Ohr, ein doch recht schwammig aufgetriebener Knubbel, zurrt derzeit massiv zusammen und hat nur noch kleine Warzengröße. Genauso habe ich es nämlich behandelt. Die alten Leute im Elsass schmieren schon von altersher Warzen mit Schöllkrautsaft ein und haben das Sprichwort drauf, dass die dann bei Neumond irgendwann von selbst abfielen. Auch wenn ich nicht an jeden Hokuspokus glaube, das lässt sich von den Inhaltsstoffen erklären und ich bin selbst damit schon Warzen losgeworden, erinnere mich aber nicht mehr an den Mondstand. Die Schrumpfung bei Bilbo kommt jedenfalls genau davon und mal sehen, wie klein wir den Knubbel noch kriegen.

Noch ist sein Bauchfell nach der Rasur beim Arzt nicht komplett nachgewachsen, was mir bei einem Temperatursturz von 22 auf 7,5 Grad Sorgen machte. Aber so gern sich Monsieur von Butterblum beim Schlafen einmummelt, so lebendig wird er bei diesen Herbsttemperaturen. Will heißen, dass ich nach zweieinhalb Stunden über Stock und Stein und Hügelkuppen und Steigungen rechtschaffen müde bin, der Hund aber am liebsten nochmal so weit laufen würde. Auch heute war er nicht zu bremsen und hatte seinen Schnüffelspaß im Wald.

Dabei habe ich wieder etwas von ihm gelernt. Es ist ja dieses Geheimnis noch immer nicht ganz gelüftet, warum Hunde manchmal Gras fressen und warum manchmal nicht. Selbst der alte Aberglaube ist nicht auszurotten, der besagt, wenn ein Hund Gras fresse, würde Regen kommen.

Ich beobachte alle meine Hunde, die ich je hatte, genau und weiß, dass es unterschiedliche Gründe fürs Grasfressen gibt. Der einfachste ist der, dass sie sich damit reinigen. Gras wird gefressen, wenn im Bauch etwas nicht stimmt. Sehr viel und sehr schnell wird Gras gefressen, wenn sich der Hund selbst zum Übergeben bringen will (so wurden wir schon böse verschluckte Teile in der Welpenzeit los). Und wenn ein Hund zu oft zu viel Gras frisst, vielleicht auch Kot, dann sollte man mal das Futter unter die Lupe nehmen und besser wechseln.

Aber das ist nicht alles. Seit ich nämlich die Gräser bestimme und in einem Herbarium sammle, die Bilbo ab und zu mal zupft, erkenne ich, dass es außerdem Gourmetgras gibt. Völlig andere Sorten als die schärferen Magenreiniger! So hat Bilbo seine Lieblingsstellen im Kopf, an denen Gewöhnlicher Glatthafer wächst, eine Sorte, die einen sehr hohen Gehalt an Phosphor und Kalzium, aber auch Saponinen enthält. Schon Urmenschen verzehrten solche "Vorgetreideformen", um sich etwas Gutes zu tun. Übrigens sehr weich und süßlich lecker!

Und jetzt glaube ich, das Rätsel mit dem Regen gelöst zu haben.

Hunde schnüffeln nicht nur, sie können Gerüche auch schmecken. Dabei nehmen sie Geruchspartikel in der Mundhöhle auf. Man kann das beim Spürhund wunderbar beobachten, wenn er einen Wildwechsel entdeckt und am vom Wild berührten Gras schnüffelt. Dabei wird das Maul leicht seitlich geöffnet und es sieht aus, als hechle sich der Hund diese Geruchspartikel in Richtung Gaumen. Besonders gut riecht man Wildmarkierungen, je feuchter es ist. Allerdings darf es noch nicht geregnet haben, der Regen spült die Spuren ja weg.

Heute war so ein Tag, selbst ich konnte Wildschwein von Reh unterscheiden und die Wildwechsel entdecken. Und dann sah ich es: Bilbo schnoberte an den feuchtesten, weil intensivsten Stellen herum. Hechelte sich Geruchspartikel ein. Und ging einen Schritt weiter: Gräser werden dann zart durchs Maul gezogen, während des Atmens. So, wie unsereins an Eis am Stiel lutscht, weil's so lecker ist. Und dann ging es los: Bilbo zelebrierte es geradezu, die zartesten Grasspitzen zu fressen - aber nur dort, wo das Wild in Kontakt gekommen war, wo es schon feucht war. Es wird bald regnen.

Aber es wird nicht regnen, weil der Hund Gras gefressen hat. Es wird regnen, weil die Feuchte des Wetterwechsels schon in der Luft liegt, weil das Vorregenwetter alle Gerüche potenziert. Oder anders ausgedrückt: Diese dritte Art des Grasfressens ist etwas für Gourmets. Es ist so ähnlich, wie wenn wir eine Reiswaffel, die keinen Nährwert hat und nach fast nichts schmeckt ... trüffeln. Bilbo trüffelt sich sein Gras mit Wildschweingeschmack. Und fühlt sich sauwohl!

#DeleteFacebook

Einige von euch haben bei Facebook "Aktivität" von mir bemerkt. Die bestand lediglich darin, dass ich heute mein bisher nur stillgelegtes Account endgültig und unwiderruflich gelöscht habe. Auch der Messenger funktioniert damit nicht mehr.



Dass ich eine Plattform wie Facebook nicht mehr unterstützen wollte, hatte mehrere Gründe, die ich hier beschrieben hatte, als ich ging. Aktuell kam die Meldung hinzu, dass Facebook nun die rassistische und rechtsextreme Plattform Breitbart in ihre News aufnimmt und damit finanziert - mit Geld, das wir User bringen (ausführlicher hier). Spätestens hier, denke ich, sollte man in sich gehen, ob man sich dafür nutzen lässt. Und es ist ja nur der sichtbare Teil, die Szene ist international über FB-Gruppen vernetzt, ohne dass Zuckerberg wirklich einschreitet. Ich bekam prompt von FB eine Umfrage, was ich von der Plattform halte und habe das dort auch deutlich formuliert. Ich halte FB inzwischen für eine Bedrohung internationaler Demokratien.

Gestern wurde der Antisemitismusbeauftragte Michael Blume im SWR interviewt, warum er bei Facebook ausgestiegen ist. Seine Worte kann ich nur unterstreichen!

Zunächst hatte ich das Account nur stillgelegt, weil ich dachte, ich würde die Plattform vielleicht doch beruflich brauchen - aber dem ist nicht so. Es gab ohne Facebook keinerlei negative Entwicklung, im Gegenteil, ich habe für Real-Life-Kontakte viel mehr Zeit, um mir regional einen Namen zu machen.

Übrigens ist es zwar nun leichter geworden, sein Account zu löschen, aber immer noch etwas tricky. Eine effektive Anleitung gibt's hier. Zwei Fußangeln sind dabei speziell zu beachten:
  • Man sollte unbedingt vorher alle Unterhaltungen im Messenger händisch löschen, denn genau das macht Facebook nicht! Ich war sogar erstaunt, dass ich weiterhin alle Unterhaltungen lesen konnte von Leuten, die von mir vor Urzeiten blockiert worden waren oder die ihr Account längst gelöscht hatten.
  • Man darf sich in der Karenzzeit nicht einloggen. In meinem Fall gab FB eine Zeit von ca. 30 Tagen an. Wenn ich innerhalb der Frist einlogge, ist meine Löschung nichtig. Erst danach ist das Account weg.
Und ein Schmankerl: Beim Löschen meiner Unterhaltungen dort war ich doch überrascht, was für ein hoher und wirklich auffälliger Anteil meiner FB-Freunde auch nicht mehr auf der Plattform sind. Selbst Leute, die massiv in Social Media beruflich unterwegs waren, haben ihr Account gelöscht. Das war's dann - endlich.

Warum ich schon im Sommer bei Facebook weggegangen bin und wie ich den Ausstieg organisierte, kann man in meiner dreiteiligen Serie dazu nachlesen.
Mein kurzes Resumé jetzt danach:
  • Ich konnte es mir schnell leisten, weil ich keine KundInnen mehr bei FB betreute.
  • Ich habe im Gegenteil KundInnen beraten, wie sie sich unabhängiger von Social Media machen können oder passende Kanäle finden und vor allem die eigenen KundInnen und deren Kontaktdaten an sich selbst binden (mit DSGVO im Blick). Denn ist FB weg, sind die Kontaktdaten weg!
  • Für meinen eigenen Beruf - sowohl Journalismus / Buchbranche wie Atelier - ist FB absolut verzichtbar. Kontakte laufen in allen Kanälen, wenn man will. FB überaltert. Immer mehr wandern in Messenger ab.
  • FB war beruflich für mich kein "Bringer", ich erreichte über Newsletter meine Kundschaft direkt und über das Blog weiterhin viel besser. Dem hat es gutgetan, dass ich mehr Zeit dafür habe. Der Hauptbringer bei mir: Google.
  • Viele, die mir am Herzen lagen, treffe ich inzwischen auf anderen Kanälen oder man hat einen Mailkontakt. Und allzu viele Kontakte gaukeln einem auch nur eine Intensität vor, die man als einzelner Mensch gar nicht erfüllen kann. Die Zahl von Kontakten, um die man sich wirklich kümmern kann, ist sehr endlich. Alles andere geht per Newsletter.
  • Ich habe eine Menge mehr Zeit. Die kann ich wunderbar im Realleben investieren, z.B. darin, mein Atelier regional bekannter zu machen. Und diese Kontakte sind sehr viel effektiver und nachhaltiger.
  • FB ist nicht Social Media. Und Social Media sind nicht das Internet.
Passt gerade schön: Der Autor und Filmemacher Aaron Sorkin ("The Social network") schreibt in der NYT einen offenen Brief an Mark Zuckerberg: "That’s not defending free speech, Mark, that’s assaulting truth."

29. Oktober 2019

Schreiben oder das Verlangsamen von Seifenblasen

Wer jetzt die übliche wohlfeile Bestsellerformel erwartet, kann weitersurfen. Ich gebe hier auch keine Schulung nach dem Motto: "Wie du deine mitternachtslangweilige Bauchnabelschau so mit Worten pierct, dass du damit ultrareich und irre berühmt wirst". Wenn ich das alles draufhätte, hätte ich es längst selbst angewandt. Ich möchte auf das Schreiben blicken, das etwas mit den Schreibenden anstellt. Das mit diesem speziellen Feeling zu tun hat. Bei mir ist es das Schreiben von literarischen Sachtexten, nicht Fiktion. Vor wenigen Tagen überfiel mich dieses Feeling hinterrücks.

Ich kann mich leider nicht mehr an Einzelheiten zu diesem Werk erinnern, aber das Gefühl kennt sicher jede/r ...

Es gibt Grenzen, die wir AutorInnen überschreiten, damit unsere LeserInnen sich das nicht antun müssen. Die meisten RomanautorInnen kennen das Gefühl, das einem an die Substanz gehen kann, wenn man eine geliebte fiktive Figur quält und leiden lässt, weil es der Spannungsbogen erfordert. Manche können tagelang nicht essen, während beim Lesen nur noch der wohlige Schauer mit erträglichem Grusel bleibt.

Ich überschritt die unsichtbare Grenze beim Schreiben meines Portraits von Vaslav Nijinsky, eines Menschen, der wirklich gelebt hat, dessen NachfahrInnen noch leben. Plötzlich stieß ich auf Briefe eines seiner Pfleger, die mir den Atem nahmen - und die ich meinen LeserInnen vorenthielt. Für mich war Nijinsky bei der jahrelangen Recherche längst eben diese geliebte Figur geworden, die man beim Romanschreiben entwickelt. Aber ich wusste auch: Er hat wirklich gelebt. Er hat das alles wahrhaftig und lebendig selbst erlitten. Aber ein Buch ist kein Abschreiben von Leben. Ich bin als Autorin eine Art Demiurg, setze eine Schöpfung in die Welt. Ich bin es, die entscheiden muss, wann der Vorhang fällt und wie und warum Figuren die Bühne betreten. Ich erschaffe auch in Nonfiction aus der Realität eine Scheinrealität, eine Art Parallelwelt, die im besten Fall die LeserInnen berührt, Emotionen in ihnen weckt. Ja, auch im Sachbuch. Ein gutes literarisches Sachbuch verankert Fakten und Wissen über innere Bilder und Emotionen. Dann packt es und dann bleiben sie haften.

Jener Pfleger schrieb, wie er Nijinsky in einem grauenhaften Zustand entdeckt hatte und für seine Befreiung durch die Gendarmerie sorgte. Es hat lange gedauert, bis der weltberühmte Tänzer in einer Klinik wieder einigermaßen in einen "menschlichen Zustand" versetzt wurde. Damit ist gemeint, dass er sauber und versorgt vor sich hinstarrte und Nahrung zu sich nahm. Man hatte ihn in einem Zimmer wochenlang eingesperrt, misshandelt, wie ein Tier behandelt. Als man es öffnete, war das Zimmer über und über mit Kot beschmiert. Die Täter: seine Familie, teilweise unfähig, eine dem Suff ergeben. Die eigentliche Täterin: seine Frau, die mal wieder verreisen wollte, nur sich selbst sah, ihn einfach "abstellte", weil der psychisch Kranke, der nun kein Halbgott mehr war, störte.

Ich schrieb jedoch keinen Thriller über Menschen, die andere Menschen über lange Zeit im eigenen Haus gefangenhalten und quälen. Das war ja ein Sachbuch, über ein ganz anderes Thema obendrein. Von der Faktenlage her konnte ich nie herausfinden, ob seine Frau wusste, was sie anrichtete - sie leugnete jedes Mitwissen. Ich konnte das nur in ein Mosaik einfügen, das sich aus ihren Handlungen und Verhaltensweisen bildete - auch Menschen, die mit Fakten arbeiten, bilden dann Hypothesen. Ich habe die Geschichte im Buch nicht erzählt, weil ich keinen Thriller schrieb, weil ich meine Hypothese letztlich nicht untermauern konnte, weil ich dieses extreme Bild in meinem Kopf nicht alles andere überstrahlen lassen wollte in den Köpfen der LeserInnen. Ich bin ja diejenige, die das Geschehen auf der Bühne regelt.

Und trotzdem ist die Szenerie Teil meines Buchs. Dank dieses Wissens konnte ich den Charakter seiner Frau schärfen und versuchen, mich in sein Leiden einzufühlen. Hätte die Geschichte mich nicht derart tief berührt, dass ich drei Wochen lang unfähig war zu schreiben, das Buch hätte nicht so viele Menschen derart berühren können. Auch wenn die Situation nicht in Worten vorkommt, sie arbeitet zwischen den Zeilen.

Das ist für mich eins der Geheimnisse des Schreibens: Ich kann niemanden berühren, wenn ich selbst unbeteiligt bliebe oder in flachen Affekten verharrte. Ich muss mich öffnen, weich machen ... werde verletzlich.

Und darum habe ich mich oft gefragt, ob und was Schreiben mit Resilienz zu tun haben könnte. Resilienz bedeutet seelische Widerstandsfähigkeit, es ist das, was uns in Krisenzeiten stark macht. Dazu kann übrigens, wenn es übergroß und überwältigend wird, auch die Dissoziation gehören, eine Art Abspalten. Ich bloggte zu diesem Thema unter dem frischen Eindruck eines heute fast vergessenen Terroranschlags: "Da hilft nur Fugenkitt". In jenem Beitrag mache ich mir auch Gedanken um eine Art Schreiben, die in solchen nach Bewältigung schreienden Situationen auf uns einprasseln: Clickbait-Journalismus, fast manisch getriebener Nachrichtenjournalismus und all das unqualifizierte Getexte in Social Media, das einen gefährlich lauten Sumpf bildet aus "Volkes Stimme" und dem Geschwätz Schaulustiger. Ich möchte mal saftig frech die Hypothese aufstellen, dass es sich dabei um ein "schnelles" Schreiben handelt, um ein Schreiben, bei dem die Textenden sich in Dissoziation vom Sujet befinden, aber oft auch von den eigenen Gefühlen. Anders würden sie weder ertragen, was sie tun, noch vor einem inneren integren Anspruch bestehen können (den viele bereits verloren haben). Wäre sicher ein lohnendes Essay-Thema.

Was ich Schreiben in Dissoziation nenne, ist für manche Schreibende gerade überlebensnotwendig, um die eigene Resilienz zu bewahren. KriegsreporterInnen dürfen auch nicht ihre Seele verlieren. Aber Schreiben bildet eben auch immer jene Parallelwelten, in denen die LeserInnen sich reiben, konfrontiert werden, erleben. Und da kommen wir an einen kritischen Punkt: Dieses schnelle, herausbrüllende Schreiben kleistert uns regelrecht zu, trifft uns im Minutentakt. Kommen wir überhaupt noch runter von dem Trip? Als Schreibende wie Lesende?

Es ist dann wie von Zauberhand passiert, das ich das "Feeling" wieder hatte. Dieses Feeling fürs "Slow Writing", wie ich es mal analog zu all den Slow-Bewegungen nennen will. Das "innerliche" Schreiben, das etwas mit mir macht und darum nur funktioniert, wenn ich mich dafür weich mache.

Ich traf auf das Gefühl in einer Situation, wo man es am wenigsten vermutet: in einer völlig überheizten, meinem Geschmack nach von Menschenmassen fast überfüllten Ausstellungshalle. Ich streifte umher, ohne etwas zu wollen, ohne Ziel, ohne Suche nach Zweckerfüllung. Ich sage das so deutlich, weil es eine wichtige Voraussetzung kreativer Schöpfung ist. Manchmal stellte ich neugierige Fragen, wie sie alle stellten. Bekam stereotype Antworten, wie sie jeder bekommt, der solche Fragen stellt. Ab und zu erzählte jemand etwas mehr.

Plötzlich blieben meine Augen an einem Stand hängen, der sich allein von der wilden Farbigkeit her von allen anderen unterschied. Ich spürte, wie sich etwas übertrug, mich berührte, mit mir kommunizierte. Ich sah innere Bilder von diesen bunt ausgestatteten Holzwohnwagen, die sie in Frankreich manchmal an Touristen vermieten. Zeitschriften über Lifestyle und Wohnen haben daraus längst einen Stil mit feststehenden Formen und Farben als Vokabeln kreiert, bohémien sagen wir in Frankreich, "boho" heißt es in den modernen Hashtags. Mit den Fahrenden hat das Ganze nicht mehr allzu viel zu tun, es hat sich über die Jahrhunderte so viel miteinander verschliffen, denn auch die KünstlerInnen des beginnenden 20. Jahrhunderts schwelgten in intensiven Farbspielen - und wurden Bohémiens genannt, wohlwollend übersetzt als "LebenkünstlerInnen". Die Hippies der 1960er nahmen es auf in ihre Popkultur. Mir fiel ein Display mit Schmuckstücken in den Farben und Üppigkeiten von Frida Kahlo ins Auge. Auch diese Künstlerin verschwindet heutzutage hinter Stilprodukten vom Frida-Kahlo-Sofakissen bis hin zu Frida-Kahlo-Badelatschen.

All das geschieht beim Schreiben im Vorfeld: Etwas kommuniziert mit meinen eigenen Prägungen, Erwartungen, Erinnerungen. Macht mich aufmerksam, neugierig.

Und dann gehe ich weiter oder schaue ein zweites Mal hin. In diesem Fall war ich gebannt. Denn die Künstlerin war wirklich eine. Sie reproduzierte nicht, passte sich nicht an, lebte ihre Kunst spürbar wild und von ganzem Herzen. Als Mensch passte sie perfekt - das war alles eins. Hinter all dem Farbenrausch sah ich akribisches Arbeiten, kunsthandwerkliches Können. Es nahm einem fast den Atem, wie sie mit Nadel und Faden, mit winzigsten Perlchen, Bandröschen und Gegenständen Bilder auf Filz erschuf, die Geschichten erzählten, zu leben schienen. Als ich ihr nach einem kurzen Gespräch sagte, dass ich wiederkommen würde, wenn ich alles angeschaut hätte in der Halle, wussten wir wohl beide, wie ernst das gemeint war. Als ich die Halle durchstreifte, konnte ich nicht aufhören, an die wunderschönen Schmuckstücke zu denken - und dass ich mir eines schenken musste, und wenn mir das Geld an wichtiger Stelle fehlen würde. Ich kam zurück.

Es war dieses besondere Gefühl, sich auf Anhieb zu verstehen, sich zu öffnen. Eigentlich machte ich nichts anderes als das, was ich in zahlreichen Interviews immer gemacht habe. Ich stellte Fragen, hörte zu, kam ins Gespräch. Aber es war eben nicht mechanisch, sondern so, wie es immer dann ist, wenn mir die besten Features gelangen: Ich war persönlich involviert. JournalistInnen sollen ja objektiv und sachlich bleiben. Dann bleiben die InterviewpartnerInnen meist auch sachlich und ruhig.

Für ein Menschenportrait jedoch braucht es mehr. Ich muss mich berühren lassen von einer Persönlichkeit. Da gibt es so viel mehr als nur Worte: Körpersprache, Blicke, die Art, wie sich jemand kleidet oder am Morgen gekämmt hat, ob die Person sich lieber in einem geschützten Raum fragen lässt oder die Öffentlichkeit sucht. Ich muss immer schmunzeln, wenn ich "Sherlock" sehe, wie er Personen "abscannt" und seine Ableitungen aus dem kleinsten Fussel zieht. Ein bißchen so funktionierte es, wenn man mich zu jemandem schickte, über den ich ein Portrait schreiben sollte. Ich hatte eine Stunde Zeit, mir von einem Menschen ein Bild zu machen, der sich in unfomfortabler Lage befand, sich zu Recht beobachtet und analysiert wähnte. Ich musste diese Lage blitzschnell in eine der Sicherheit und des Vertrauens führen und trotzdem genauso fix analysieren. Dazu braucht man, auch wenn es erlerntes Handwerk ist, Feeling und Intuition, Empathie.

Aber in diesem Fall war ich ja nicht als Journalistin da, sondern als Privatperson, als Begeisterte, Hingerissene. Es wurde daraus ein wunderbares Gespräch, in dem wir von Künstlerin zu Künstlerin vieles teilen konnten. Auch Gefühle, die wir sonst nicht jedem sagen. Auch das Gefühl, das man bei Kundschaft oft schon nach Sekunden hat: Manchmal stimmt die Chemie sofort, manchmal spürt man fehlende Wertschätzung in den ersten Untertönen.

Letzteres ist mir in der gleichen Halle begegnet. Jemand, den ich von Facebook her kannte und wo ich schon dort ein unbehagliches Gefühl hatte. Ich wollte mich nicht davon ablenken lassen und die Frau erkannte mich nicht. Ich wollte eintauchen. Aber dann geschah es wieder: Die Art, wie sie von dem redete, was sie verkaufen wollte ... die Art, wie sie es mir aufdrängte. Es war, als würde sie riesige Klauen ausstrecken. Würde ich einen Film drehen, wäre ihre Stimme gekippt in die von Gollum, wenn er sich nach seinem Schatz sehnte. Es fühlte sich klebrig an und ich machte mich schnellstmöglich aus dem Staub. Spannend, dass mich das Gefühl bei Facebook nicht getäuscht hatte - so oft habe ich in Social Media das Gefühl, mir nach manchen Postings im übertragenen Sinne die Hände waschen zu wollen. Begegnungen dieser Art lassen sich vielleicht in Romanen verhackstücken, wenn man negative Figuren braucht. Ein Portrait oder Feature über solche Leute würde handwerklich gelingen, aber niemals ein großer Wurf werden, niemals andere mitreißen.

Ganz anders bei der Frau, die zwar auch verkaufen wollte, aber in erster Linie schlicht Leidenschaft für ihre Kunst hatte, diese Leidenschaft versprühte. Ich habe mir nach sorgfältigem Auswählen eine Brosche gekauft, die nun mehr ist für mich als ein Schmuckstück. Sie ist mit einer Erinnerung aufgeladen, ich werde diese Begegnung nie vergessen, denn sie war kurz, aber intensivst.

Und dann ist mir eingefallen, dass ich genau so mein Elsassbuch geschrieben hatte. Die Erlebnisse darin sind Teile meines Lebens, ich hatte sie nie willentlich "hervorgerufen", um ein Buch darüber zu schreiben. Es lief umgekehrt: Für das Buch suchte ich im Fundus meiner Erinnerungen.

Es ist mir dann noch zweimal in der Halle begegnet, dieses Gefühl. Ausnahmslos waren es Menschen, die für ihre Tätigkeit brannten, Menschen voller Leidenschaft. In ihrer Passion fangen sie an zu leuchten und bekommen etwas sehr Eigenes. Manche sind völlig introvertiert und bosseln vielleicht unter der Lupe an Winzigkeiten, die kaum jemand sieht. Und wenn man dann etwas sieht, was ihnen am Herzen liegt, tauen sie auf, nehmen einen mit in ihre Welt. Oft wissen sie gar nicht, wie faszinierend, unverwechselbar und schön sie in diesen Momenten werden.

Ich war am Tag danach so im "Overflow", dass es mich völlig erschöpft hatte. Die Intensität, sich auf Menschen und ihr Handwerk einzulassen - auch wenn es nur Minuten waren. Manchmal geschieht dieses Wunder, dass man sich gegenseitig dabei die inneren Weichstellen zeigt. Und dann gelingt es: Welten öffnen sich, Erinnerungen für die Zukunft formen sich. Es ist der Stoff, der die guten Geschichten erzählt. Der keine Fiktion braucht, weil auch Fakten erzählen ...

Ich habe einmal mehr begriffen, was das "tiefere" Schreiben ausmacht. Es geht einerseits an die Substanz, aber es kann auch vor Energie regelrecht in einem brüllen. Immer aber funktioniert es über ein Sich-Herausnehmen aus der Welt. Ich muss wegtreten vom Schnellen und Lauten, von manchmal regelrecht herausgekotzter Meinung und billigsten Affekten. Für diese Art des Schreibens muss ich still werden und sehr sehr langsam. Wenn es dann gelingt, diese "Blase" aus verlangsamter Stille über sich selbst und andere zu legen und sich darin gegenseitig zuzuhören, geschieht das kleine Wunder: Geschichten entstehen.

25. Oktober 2019

Madame stichelt ...

Noch bin ich dabei, mich nach all den Zahnarztbesuchen zu restaurieren, sprich, ich versuche, mir Schönes zu gönnen und Schönes zu schaffen. Das ist im Moment nicht schwer, denn in der Region läuft noch bis Sonntag das Internationale Kreuzstichfestival, ausgerichtet vom Maison Rurale, in mehreren Orten (Programm).

Ich konnte nicht widerstehen beim großen Farbenangebot - Stickgarn fürs Visible Mending meiner alten Jeans und eines Mottenfraßpullis, den ich retten will, weil ich ihn so liebe..


Es ist wirklich erstaunlich, wieviele Sprachen man dort hört: Französisch. Deutsch, Niederländisch, Italienisch, Spanisch und mehr. Manche Fans fahren an die 1000 km, um es zu sehen! Man trifft sich rund um die Themen Kreuzstich und Stickerei, mit jeder Menge Passendem wie Spitzenmachen, Filzen, Kelsch, Holzarbeiten. Zu sehen ist eine gut ausgewogene Mischung von eher kommerziellen Ständen und zuweilen auch Kitsch bis hin zu feinster Kunst. Und natürlich gibt es auch Zubehör zum Kaufen. Ich habe das gleich mal härtegetestet, nachdem ich für eine Spontanidee vergeblich überall Goldfaden suchte. Und zwar sehr feine Stickfäden, wie man sie für Lunévillestickerei verwendet. Natürlich bekam ich alles, was ich suchte, in unterschiedlichen Stärken zu haben und absolut edel wirkend. Bevor ich das an den Seidenkokons ausprobiere, habe ich erst einmal einen Schmuckanhänger aus Papier und Seide bestickt.

Buchpapier, handgefärbte Seide in Maisgelb, ein Glasammonit aus Manufakturarbeit und Goldstickerei auf Buchpapier. Ich arbeite zuerst auf der Oberfläche des Anhängers, der später auf geschichtetes Papier aufmontiert wird.
Die Nahaufnahme gibt im Vergleich zur Buchschrift einen Eindruck, wie fein das Goldgarn ist.


Das wird meine neue Herbstkollektion. Nachdem ich herausgefunden habe, dass man durch hauchdünne Sariseide die Schrift von Buchpapier hindurchsehen kann, experimentiere ich in Sachen Mixedmedia: Schmuck aus Papier und Stoff, intuitiv mit feinsten Glasperlchen bestickt und anderen Perlen verschönert. Das Besondere, ja der Luxus liegt im Detail: Glasperlchen von Preziosa, die golden oder silbern schimmern, werden tatsächlich mit den Edelmetallen bedampft.

Hier sind die Perlen das Besondere: Goldene Miniperlchen und auch die Imitation einer echten Perle sind aus Glas, in Tschechien hat man das Know-How fürs Finish. Sariseide auf Papier, handbestickt.


Und so kam ich auf die nächste verrückte Idee: Kann man Seide eigentlich vergolden? Mit Papier geht das ja. Und mit vorbehandelter Seide tatsächlich auch! Das Gold schmiegt sich dabei in die Faserverläufe, wenn man es poliert. Ich arbeite dabei zunächst mit Künstlermetall. Ich kann auch mit 14 Karat Gold arbeiten, aber das mache ich natürlich nur auf Bestellung.

So sieht es aus, wenn man Seide mit Künstlermetall vergoldet - anders als auf glatten Flächen bekommt das Metall eine leichte Struktur.


Das ist übrigens aus dem Kapitel: Man lernt nie etwas umsonst oder man lernt fürs Leben. Früher habe ich einmal einen Roman über eine Ikonenfälscherin schreiben wollen, aus dem nie etwas wurde außer einer Kurzgeschichte. Aber um das schreiben zu können, habe ich mir "Das Kunstfälscher Handbuch" zugelegt und durchgearbeitet und ein Fachbuch für Vergolden. Und letzteres habe ich dann tatsächlich geübt und praktiziert! So lag das Handwerksmaterial noch da und ich kann all das Wissen endlich praktisch nutzen. Bücher, die man nicht schreibt, sind manchmal die besten ... Gestern musste ich dann glatt noch schmunzeln, wie ich eine Ausstellerin mit ihrer Freundin reden hörte: "Ich nehm da Schwarztee!" Sie verriet der Freundin, wie sie Leinenstoffe "auf Alt trimmt", um sie so zu verkaufen. Einfachste Kunstfälscherübung: das künstliche Altern mit Kaffeesatz oder Schwarztee. Funktioniert auch auf Papier, ist allerdings heutzutage nachweisbar.

Hauchdünne, handgefärbte Seide in einem Farbverlauf von dunklem Veilchenlila bis Aubergine - auf Buchpapier und mit Perlen bestickt. Auch die Seide beziehe ich direkt aus einer Manufaktur.


Die nächsten Tage habe ich noch viel zu sehen beim Festival - es gibt wunderbare Kunst dort. Darum halte ich es kurz und zeige noch einen Anhänger im Mixedmedia-Stil.

Die Nahaufnahme zeigt, wie schön das Buchpapier durchscheint. Während mein Papierschmuck komplett abweisend gegen Feuchtigkeit ist, ist auch hier der Korpus dicht. Um jedoch das Feeling von Stoff etwas zu erhalten, sind die Ränder aus gedrehten Seidenbändern nicht behandelt - hier würde der Stoff nass werden. Er könnte aber durchtrocknen, ohne den Untergrund anzugreifen. Ein Zugeständnis, das man an textilen Schmuck manchmal machen muss - aber wer trägt das schon unter der Dusche!

13. Oktober 2019

Landlust tanken

Die Ereignisse der letzten Zeit (und der bevorstehende erste Zahnarzttermin auf der Dauerbaustelle) haben mich diese Woche echt umgeblasen. Die guten Nachrichten über Bilbo haben eine Weile gebraucht, um im Kopf anzukommen, dann ging plötzlich nichts mehr. Ich habe mir freinehmen und mich päppeln müssen. Und was gibt es Schöneres als einen Hochsommertag Mitte Oktober und der Nachricht, ab heute könne ich mein "Abzeichen" im Maison Rurale abholen.

Ein bißchen ist es schon fast ein zweites Zuhause, wenn ich zur Tür eintrete, um Georges und Josefine zu besuchen. Wir AnimateurInnen im Maison Rurale wissen ja, dass sie nachts lebendig werden und sich nur tagsüber für die Besucher als Puppen tarnen!


Das "Abzeichen" weist mich nun auch offiziell als Animatrice und Guide im Kulturerbezentrum aus und so ein kleiner Anstecker ist ganz nützlich, wenn die Besuchergruppen nicht wissen, wer sie eigentlich führt oder wenn sie sich deshalb nicht trauen, Fragen zu stellen. Ich zeige es auf dem Foto mit geweisseltem Namen, weil Fotos im Internet inzwischen die urseltsamsten Wege gehen ... Also nichts wie hin zum sonntäglichen Kuchenessen dort in der Cafeteria.

Das war Nahrung für die Seele, die Kuchen sind nämlich immer selbstgebacken und der Quittenstreussel war eine absolute Köstlichkeit! Besucher hatten außerdem das Vergnügen, frische "Apfelkiechle" zu bekommen, die vor ihren Augen zubereitet wurden, eine fettgebackene Spezialität, sozusagen der opulente Natur-Donut des Elsass. Und wer sich interessierte, konnte beim Sauerkrauthobeln zuschauen. Das wird nicht nur zum Anschauen gemacht - es wird tatsächlich eingelegt und später gibt es dann meist auch ein Choucroute-Essen in der Cafeteria, denn so ein Kulturerbezentrum lebt.

Die Kinder waren begeistert zu sehen, dass beim bäuerlichen Leben nichts verkommt oder einfach weggeworfen wird, Hühner und Gänse stürzten sich mit Lust auf die Weißkrautreste! Inzwischen laufen die beiden Gänse frei herum und schauen drein, als wüssten sie, dass sie die Attraktion für die Städter sind.  Zwei Kinder bekamen leuchtende Augen, weil sie die Hasen mit Kräutern füttern durften, besorgt fragte eins, ob die auch die Stiele mitessen dürfen. So vieles ist in der Stadt nicht mehr bekannt.

Ich habe den Tag einfach mal als Besucherin genossen und am "Stammtisch", wo wir uns am Sonntag gern mal treffen. Es sind dann auch die Stickerinnen dabei, die Kreuzstich fertigen und die zeigen auch den Besuchern gern, wie es geht oder einfach nur, wie man am schnellsten und einfachsten eine Nadel einfädelt. Ein paar haben fleißig Walnüsse geknackt und ich möchte wetten, auch die landen irgendwann in Sonntagskuchen! Es tut gut, diesen offenen Ort zu haben, wo jeder kommen und quasseln kann, man trifft sich wieder oder lernt völlig neue Leute kennen.

Mein Anstecker als ehrenamtliche Mitarbeiterin



Ich habe immer öfter das Gefühl, dort in meinem eigenen Elsassbuch zu leben oder in der Welt, die mich schon früh an Frankreich faszinierte. Ich liebte es beim Reisen, altes Handwerk und Kunsthandwerk zu sehen, das man so in Deutschland gar nicht mehr kennt. Den Menschen zuzuschauen und sie zum Erzählen zu bringen. Stunden könnte ich da zuhören, alles aufsaugen. Und genau das passiert am Stammtisch - die Stickerinnen sind immer da und heute häkelte eine Frau aus dünnem Baumwollgarn winzige Gefäße, die später mit Blumen garniert werden. Ich sah das zum ersten Mal - die kleinen Vasen werden um Sektkorken drapiert!

Weil ich das Choucroute schon im Buch beschrieben habe und bei den Führungen erkläre, habe ich mir die Vorführung geschenkt und bin in die Marqueterie-Ausstellung. Die zwei Männer, die dort live arbeiteten, waren fast die ganze Zeit allein - und so war viel Zeit für ein Gespräch. Das ist auch so etwas, was ich an handarbeitenden und handwerkenden Menschen so liebe: Wenn ihre Augen zu leuchten beginnen, wenn sie von ihrem Metier erzählen. So kann ich jetzt nicht nur die Ausstellung besser erklären, sondern bin absolut fasziniert.

Ich habe nämlich Parallelen zu meiner Papierarbeit entdeckt und fühlte mich sofort inspiriert. Ich habe schon mit Holzfurnier auf Papier gearbeitet, wie bei diesen Herbstblättern als Anhänger. Aber das ist einfache Collagetechnik. In der Marqueterie werden die Furniere aneinandergelegt wie Puzzleteile. Würde man das mit unterschiedlichen Papieren und Hölzern gleichermaßen machen können? Hatte es einen Sinn, damit noch anfangen zu können? Bilder von Laien, die erst seit zwei Jahren dabei sind, machten mir Mut. Man kann ja auch mit einfachen Motiven einsteigen.

Die beiden Herren vom Marqueterie-Club waren so charmant und ermutigend, dass ich ihre Einladung annehme und im Winter tatsächlich einfach mal frech in ihrem Club vorbeischaue, bewaffnet mit einem Skalpell, Furnieren und Papier. Sie finden das sehr spannend, dafür Papierkunst sehen zu können und sind schon neugierig, wie sich das verbinden ließe. Eine andere Marqueteuse macht wunderschöne moderne Arbeiten in buntem Stroh - auch das ist möglich.

Und wie ich so genieße, zuhöre und neugierig frage, erfahre ich dann die Geschichten, die man sonst nicht kennt, nämlich dass der berühmte Charles Spindler senior ursprünglich Marqueterie nicht in Holz, sondern in Papier gefertigt hatte! Spindler war einer der großen Jugendstilkünstler des Elsass, seine Marqueterien auch auf Möbeln wurden weltberühmt, machten das Kunsthandwerk weltberühmt. Von ihm stammen auch die wertvollen Marqueterien in der Kirche auf dem Mont Ste. Odile und auch in Kutzenhausen in der Kirche gibt es zwei Mariendarstellungen von ihm. Die alte Werkstatt im nahen St. Léonard beherbergt heute noch die Ateliers seines Nachfahren Jean-Charles Spindler, der die Marqueterie zu modernen Ausdrucksformen gebracht hat und heute edelste Luxusausstattungen für Kunden weltweit von Hand fertigt. Ein Museum kann man dort auch besichtigen.

Zum Abschluss habe ich mir dann aus dem Museumsladen etwas mitgenommen, was man auch in Frankreich nicht mehr selbstverständlich findet (außer im Süden): Imkerhonig von Esskastanienblüten. Den bekam ich nicht einfach nur verkauft, die Kollegin an der Kasse gab mir ihre besten Küchenrezepte dafür und ein Antigripperezept obendrein. Und nur mit Kastanienhonig und keinem anderen zu machen. Die Entenschenkel heute abend werden Testobjekte sein!

Das ist es, was ich so liebe. Ich habe nicht nur irgendwann Stoff für mehrere neue Elsassbücher im Kopf, wenn ich so weiter mache. Ich treffe jedes Mal Menschen, die etwas Besonders wissen oder können und dieses Wissen begeistert teilen. Und ich bin begeistert: Es gibt noch so viel Faszinierendes zu lernen!

Und manchmal ist es hilfreich, einfach zu fragen statt zu googeln. Für Seidenkokons, die ich zu Schmuck verarbeiten will, suche ich echten Goldfaden. Ich weiß, dass es das gibt in Frankreich, aber das Goldstickereihandwerk verzeichnet kaum noch Nachwuchs. Die Stickerin wusste gleich Bescheid und hat mir für solche Einkäufe heiß das Internationale Kreuzstichfestival empfohlen, das vom 24. - 27. Oktober Besucher aus ganz Europa anzieht. Schwerpunkt ist das Sticken an sich mit spannenden Ausstellerinnen, aber auch der Möglichkeit, sich mit Zubehör einzudecken - hier das Programm mit meiner heißen Empfehlung!

So schön habe ich schon lang nicht mehr abschalten können. Dazu kommt jetzt ein ländliches Festmahl mit Honig an der Ente ... da fällt mir ein, dass der Honigwein, den ich kürzlich im Maison Rurale bei einem Fest gewonnen habe, wunderbar als Apéro passt. Das Leben kann so herrlich sein!

8. Oktober 2019

Bilbos "Wunderheilung"

Wir kommen gerade aus der Tierklinik und ich habe erst einmal Bilbo und mir ein großes leckeres Frühstück gemacht (u.a. Kaffee ohne Lachsöl für mich, Lachsöl ohne Kaffee für ihn). Der Arme litt darunter, seit gestern abend komplett nüchtern zu sein - und er war vom letzten Arztbesuch doch so traumatisiert, dass er mir 25 Minuten lang im Auto die Ohren vollheulte. Er weiß sogar, in welchem Dorf die Klinik ist und erkennt an den Fachwerkhäusern genau, wann er das Heulen auf doppelte Lautstärke fahren muss. Wir waren also dann mal ... impfen. Das war's!

Gestern gab's große Abenteuer im Wald! Zwei Stunden lang schleifte mich Bilbo regelrecht durch den Bergwald.


All die vielen gedrückten Daumen von euch, die guten Wünsche und das Mitfühlen haben mindestens dazu verholfen, dass ich vor Angst nicht ganz ausgerastet bin in dieser furchtbaren Woche der Unsicherheit. Und wer weiß, vielleicht haben sie auch eine "Wunderheilung" initiiert? Insgesamt knapp 500 Euro später, nach weiterem Ultraschall und einem großen Blutbild ist klar: Bilbos Milz hat Normalformat, weder ein Tumor noch Metastasen sind irgendwo zu sehen. Er hat leicht erhöhte Zahlen bei den roten Blutkörperchen, was mit der Milzschwellung zusammenhängen dürfte. Alle anderen Blutwerte sind komplett normal - bestens! Und so gab es heute statt einer sehr schweren OP die Routineimpfung, die für den Wartegenervten so schlimm war, dass er sie an der Ausgangstür entgegennahm. Keine zehn Pferde mehr bekamen ihn nochmal auf den Untersuchungstisch!

Mit unserem erfahrenen und herrlich ruhig und beruhigend wirkenden Tierarzt ließ sich die Sache völlig anders an. Er hat mir nämlich erst mal aufmerksam zugehört, als ich von Symptomen und Wehwehchen vorher angesichts von zwei schlimmen Flohattacken, die letzte vor vier Wochen, erzählte. Bilbo war wie krank, entwickelte außerdem Symptome einer Flohspeichelallergie. Die Flöhe hatten sich im heißen Sommer extrem vermehrt. Und eine ständig verflohte Katze, deren Besitzer nichts tun, sitzt nachts gern auf Bilbos Sitzplätzen draußen, wirkt also ähnlich wie ein Igel ... Beim Arzt vorher bin ich die Story gar nicht erst losgeworden, obwohl ich dreimal ansetzte - da wedelte er schon mit seinen Geräten.

Unser Tierarzt schaute sich in Ruhe das Röntgenbild an und wollte dann selbst noch einmal ein Ultraschall machen. Und Wunder oh Wunder - Bilbo wurde nicht in Schlaf gelegt wie das letzte Mal! "Der steht doch grad so schön", meinte der Arzt und rollte das Ultraschallgerät zu Bilbo hin. Während ich den Hund vorne knutschte, ließ er sich völlig ruhig das Gel an den Bauch schmieren und untersuchen. Ich erkannte meinen Hund, einen granteligen Patienten, nicht wieder - fast schien er es zu genießen.

Und dann die Überraschung: Die Milz war auf Normalgröße. Nichts zu sehen. Keine andersartige Struktur, kein gar nichts. Mir war schon aufgefallen, dass der Lymphknoten nur noch halb so groß war - ich hatte ihn aber auch zur Drainage massiert. Die Milz war das letzte Mal schon vergrößert gewesen. Aber wie ich so heraushörte, hat sich der letzte Arzt schlicht in seiner Einschätzung geirrt.

Der Arzt hat die gleiche Vermutung, die mir schon als Verdacht gekommen war, weswegen ich eine zweite Meinung wollte. Die hat nämlich mit den Flöhen zu tun und einer allergischen Reaktion bei der zweiten Attacke. Er erklärte mir, dass Flöhe oft Bakterien und Krankheiten über ihren Speichel ins Blut übertragen. Eine solche übertragene Infektion und die Allergie haben dann Bilbos Immunsystem alarmiert und belastet - und damit könne auch die Milz einmal anschwellen. Das gehe dann zurück, wenn das Immunsystem erfolgreich geschafft hat und sich wieder erholt. Darum ist es gut, wenn Ärzte zuhören können.

Ein kleines Bémol gibt es allerdings, wie wir in Frankreich sagen: Der Knubbel im Ohr ist wirklich ein kleiner Tumor. Aber ob der gut- oder bösartig ist, weiß man erst nach einer OP und Analyse. Und die ist erst mal nicht nötig, weil Hunde immer irgendwo mal Knubbel bekommen, wenn sie älter werden. Ich soll nur beobachten, ob er wächst und wiederkommen, falls das der Fall sein sollte. Und in Sachen Milz ist nichts ganz ausgeschlossen, ich soll einfach darauf achten, ob er irgendwelche außergewöhnlichen Symptome zeigt und dann kann man das langfristig beobachten. Aber kein Grund zur Sorge.

Ich denke mal, heute Abend wird ein junger Arzt nicht unbedingt einen schönen Abend haben, sondern einiges lernen müssen vom erfahrenen. Wir dagegen werden einen fantastischen Abend haben. Im Kühlschrank steht eine Flasche Sekt, die ich heute ernsthaft auf eine schöne "letzte gemeinsame Zeit" trinken wollte. Heute trinke ich sie (natürlich nicht die ganze Flasche alleine) auf den Hund mit der "Wunderheilung", den pumperlgesunden Bilbo mit dem Knubbel im Ohr und dem hübschen, wenn auch teuren Blutbild. Der darf mit anstoßen - mit einem riesigen Knochen nämlich, den ich mit einer Karotte und einem Wienerle fülle, seiner Lieblingsbelohnung. Und dazu gibt's Heilung noch und nöcher - nämlich einen Dr-Who-Abend!

Würde es jetzt nicht dauernieseln, wäre ich mit Bilbo wieder im Wald. Aber der hinter mir zufrieden schnarchende Hund signalisiert, dass wir uns durchaus mal Ruhe gönnen dürfen. Die zwei Stunden Tour im Bergwald gestern waren nämlich schon hoch aufregend!

Ich wollte ein letztes Mal vor dem schlimmen Tag mit ihm etwas laufen, ihn nicht überstrapazieren. Nur ein kleiner Gang. Und er würde entscheiden dürfen, wohin es ging, an jeder Wegkreuzung. So wurde aus dem kleinen Gang eine stundenlange Wanderung mit einem völlig fitten und lustigen Hund.

Ungefähr vier- fünfmal bin ich von Hornissen verfolgt und umkreist worden. Ich habe selten so viele Hornissen im Wald gesehen, wo frisch Holz gemacht wurde. Ich vermute, dabei wurden Nester beschädigt - oder sie zogen gerade um. Normalerweise hatte ich keine Angst vor Hornissen, aber eine absolut aggressive hat mich einmal einen halben Kilometer verfolgt und dann drei Mal oben in die Mitte des Kopfes gestochen. Ich kam noch rechtzeitig zur Ärztin für die Allergie-Notfallspritze. Es ist ungewöhnlich, Hornissen greifen normalerweise wirklich nicht an (und sie haben auch weniger Gift als eine Wespe), wenn man sie nicht massiv am Nest bedroht. Diese seltsame Aggressivität damals, erklärte mir die Ärztin, würde in Maisgegenden oft beobachtet. Man vermutet spezielle Nebenwirkungen von Pestiziden. Nicht lustig.

Als ich dann die Hornissen hinter mir hatte, brachte mich Bilbo in einen wunderschönen, etwa 200 Jahre alten Eichenwald, in dem man noch erträumen kann, wie Wald früher einmal ausgesehen haben mag. Leider sterben dort durch das zweite Jahr Dürre schon so alte Eichen ab. Aber wir haben es genossen, diese unendliche Ruhe, die solch alte Bäume ausstrahlen. Wenn sie erzählen könnten aus ihrem Leben! Von einem Stumpf einer ca. 250 Jahre alten, gefällten Eiche hatte ich im vergangenen Jahr Eicheln gesammelt und in Töpfen kleine Bäumchen gezogen. Es sind Kinder eines uralten Wesens ...

Träumend und in gemütlichstem Schlendertempo schlappten wir einen Waldweg entlang. Ich suchte nach schönen Steinen, während Bilbo jede Wildmarkierung genoss.

Plötzlich ein bedrohlich wirkendes, grollendes Geräusch in der Ferne. Ein Erdbeben? Das Geräusch kam schnell näher, die Erde vibrierte tatsächlich leicht. Eine neue Waldmaschine? Auf unserem Weg kommen normalerweise kleine Traktoren durch, Platz ist da genug. Denn beide Seiten waren von hohem Stachelgebüsch blockiert. Aber mir stellten sich die Haare im Nacken. Ich spürte, was da im Karacho von hinten auf uns zukam, würde größer sein als der Weg breit war.

Es ging dann alles ganz schnell. Während ich hinter uns ein riesiges Pferd in vollem Panikgalopp sah, dass auf dem Weg breit hin und her schlingerte und fürchterlich ausschlug, war ich ein paar Dutzend Meter mit dem Hund gesprintet, in einen Bachlauf gesprungen, der zum Glück ausgetrocknet war. Ich erinnere mich nur, dass ich Bilbo knapp am Halsband hatte und wir beide uns ganz tief duckten. Wenn sich ein Jagdhund und Pferdeliebhaber schon mal freiwillig duckt! In dem Moment raste das Pferd auch schon an uns vorbei, seine Augen rollten fürchterlich vor Angst.

Wieder aus dem Bachlauf gekrabbelt und durchgeschnauft, fragte ich mich, wazu manche Leute teure Abenteuerreisen buchen. Geht auch im heimischen Wald. Dann war ich so klar, dass ich mich erinnerte. Das Pferd war gesattelt gewesen und es rannte Richtung Dorf, also nach Hause. Denn dort gibt es einen Pferdezüchter. Ich machte mir nämlich Sorgen, dass irgendwo eine Reiterin verletzt im Wald liegen könne. Die Stelle, von der zum ersten Mal die Trappelgeräusche gekommen waren, lag mindestens sechs Kilometer entfernt. Der Bergwald ist meist menschenleer, es gibt dort zig Wege und Pfade, die sich kreuzen, so dass man nicht weiß, wo suchen. Und ich hatte kein Smartphone dabei, weil ich ja eigentlich nur kurz vor die Haustür gewollt hatte ...

Zum Glück gab es dann Dorfbewohner und Waldarbeiter am Ende des Wegs, die das Pferd auch gesehen hatten, wie es übers Feld galoppiert war. Richtung Pferdezüchter. Die versprachen, dort anzurufen, auch falls jemand verletzt wäre. Ich habe übrigens gestern von einer Reiterin erfahren, dass normalerweise Reiter in solchen Gegenden nie alleine ausreiten sollten und obendrein Sicherheitssysteme wie Sturzmelder etc. hätten.

Tja, wie man in der Pfalz so schön sagt: Mei Närwwe!!!

Mehr Aufregung brauche ich im Moment echt nicht. Bilbo ist sicher auch glücklich über etwas normalen Trott. Und darum machen wir jetzt etwas, was auch Freiberuflerinnen nicht einfach so machen: Wir legen uns beide heute nachmittag am hellichten Tag aufs Öhrchen - ich mit einem guten Buch. Ich muss erst mal runterkommen, um zu begreifen, dass dieser wunderbare, heißgeliebte Hund NICHT totkrank ist!!!

Ich danke euch allen ganz ganz herzlich für all die guten Wünsche und das Mitfühlen!


1. Oktober 2019

Experimente in Stoff

In grauen Zeiten muss man sich mit Schönheit umgeben und sich Gutes tun. Ist so eine Art Überlebensregel, wenn es dicke kommt. Ich erzählte bereits von Bilbo, dem man übrigens absolut nichts anmerkt. Er ist völlig lustig und fit und fröhlich, so dass ich mich manchmal frage, ob es wirklich immer so gut ist, zu genau in Körper hineinsehen zu können. Dafür hänge ich in den Seilen, die zweite üble Kieferentzündung in diesem Jahr, diesmal auf der anderen Seite. Und ich schlucke hoffnungsvoll wahre Bomben von Antibiotika und bin einigermaßen verzweifelt über die Wartezeiten in der Zahnklinik. Zwei Zahnarztpraxen haben dicht gemacht, so langsam haben wir den Ärztenotstand.

Gegen trübe Tage: Farben und Schönheit! Handgefertigte Perle aus dickem Filz, Geschenkband und Stickerei.


Heute hat mich zum ersten Mal befallen, woran in Frankreich (und nicht nur dort) so viele Menschen leiden: Einereits wird alles immer komplizierter - inzwischen ist es eine Wissenschaft, allein den Kostenvoranschlag des Zahnarztes zu verstehen und den Bescheid der Krankenkassen. Ruinös das Ergebnis. Immerhin hat die Regierung endlich beschlossen, dass im Land keiner mehr durch Arztrechnungen ruiniert werden sollte (was bis jetzt der Fall ist), aber das neue Gesetz wird bei Zahnersatz erst bis 2020 komplett ausgerollt werden. Zu diesen diversen Überforderungen kommt hinzu, dass vieles, was einmal gut war, absolut nicht mehr funktioniert.

Diejenigen, die es durchdrücken müssen, zucken nur noch mit den Achseln. Diejenigen, die es betrifft, verzweifeln, fühlen sich alleingelassen. Und so habe ich mich heute bei der Zahnarzthelferin benommen wie all diese grummeligen, nörgligen und schimpfenden Franzosen, weil ich erst in einem Monat einen Termin habe. Ich hab mich vor mir selbst erschrocken und mich entschuldigt. Andere werden inzwischen handgreiflich. Die Aussichtslosigkeit ist eine doppelte: Es hilft einem weder die Resignation noch die Aggression. Es ist der Wurm drin im System. Fürsorge, Güte, Mitmenschlichkeit haben keinen Geldwert. Dafür ist alles im Leben und in uns bis hin zur DNA durchkapitalisiert. Konsumobjekt.

Es braucht ein starkes Gegenprogramm, um in solchen Situationen nicht abzustürzen in düstere Gedanken. Manche retten sich dann vermeintlich in Wutbürgerei und merken nicht, dass sie damit allenfalls zur kurzfristigen Ersatzbefriedigung kommen. Sie selbst drehen sich in die noch viel düsterere Aggressionsspirale hinein.

Hilft mir auch gegen das Trübsalblasen: Tiere. Allem voran das Knuddeln mit dem Hund. Aber auch Kühe entspannen mich wunderbar, sie haben so etwas Friedliches (außer man stört sie). Beinahe wäre ich mal im Straßengraben gelandet, weil ich meinen Blick nicht von zwei schmusenden Kühen losreißen konnte. Und wenn es richtig grau ist im Winter, besuche ich die freilaufenden Highlander. Das hier ist eine Sommerkuh, die Chefin aller Wasserwannen. Alle anderen soffen nach ihr.


Mir helfen - bis jetzt - Waldläufe und Knuddeln mit dem Hund. Wobei ich so manchem Homo sapiens die Weisheit der Tiere wünsche und wenigstens das soziale Verhalten eines Wolfsrudels. Und was mir auch hilft: schöne Sächelchen. Farben. Texturen. Beruhigende, meditative Tätigkeiten.

Die neuen Stoffperlen sind aus Stoff- und Filzresten, uralten Geschenkbändern, Garnen und Glasperlchen. Sie passen bestens zu den Cloisonnéperlen unten rechts, die in Manufakturarbeit hergestellt werden, oder zu den indischen Tonperlen oben links. Oft entstehen sie aus verblüffenden Resten. Die rot-schwarzen Perlen z.B. aus roten Seidenstrümpfen mit Ziernähten und Flicken von einem kaputten Rock mit afrikanischem Muster.


So entstehen im Moment in den raren Pausen kleine Preziosen, die einmal nicht aus Papier sind oder die nur einen Papierkern haben. Stoffperlen. Ich verwende Reste; zerschneide saubere alte, völlig kaputte Klamotten dafür, recycle Reste von uralten Geschenkbändern, Garne - und neue Glasperlen. Denn auf diesen Riesenperlen kann ich wild und intuitiv Muster sticken, aber auch Glasperlchen aufsticken. Ich habe einen uralten Schatz von Geschenkbändern noch aus den 1970ern, je prezioser die aussehen, desto besser. Und bin überrascht, was man aus all den Fetzchen erschaffen kann, die ich früher einfach in den Müll warf, weil sie zu kurz waren.

Zum Glück habe ich von diesem aufgesetzten Geschenkband noch ein Stück übrig - es gefällt mir nämlich sehr. Montiert auf grünen Filz und handbestickt mit winzigen Glasperlchen in Gold und Narzissengelb. Die linke Perle ist noch nicht ganz fertig.


Sehnsüchtig warte ich außerdem auf ein Päckchen aus England. Eine Kollegin hatte mir die Adresse empfohlen. Sie muss ich auch dringend empfehlen, denn Françoise Maillet ist eine wunderbare Künstlerin aus dem Elsass, die inzwischen Atemberaubendes mit Seide anstellt, zu sehen hier auf Instagram.

Ich habe einmal eine Schachtel alter Zierborten und Tressen geerbt, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte. Inzwischen verarbeite ich sie nicht nur in meinen Käferdosen, sondern auch auf diesen Perlen.


Es wird ein Schatzpaket sein, voll von herrlichen Farben und seidenweichen Schönheiten. Jean Oliver und Walter Tapson von Oliver Twists Fibres leben und werkeln in einer britischen Farm, wo sie Stoffe und Garne von Hand färben, aber auch Dinge aus der Stoffentstehung. Sie kaufen nachhaltig ein und so fand ich, was ich seit Monaten vergeblich suche. Für einen floralen Entwurf habe ich eichelgroße Hütchen schon aus rotem Kozopapier gefilzt, aber die werden eben auch hart wie mein Papierschmuck. Ich bräuchte für eine neue Idee allerdings etwas Weicheres, Feineres. Und entdeckte, dass man doch tatsächlich unverarbeitete Seidenkokons von Seidenspinnerraupen kaufen kann! Es handelt sich dabei um die aussortierten Kokons, die für die Seidenindustrie nicht interessant sind, edel gefärbt werden sie sich wunderschön in Schmuck einfügen!

Aus rotem Kozopapier habe ich bereits blütenartige Strukturen gefilzt, wie bei dieser Perlenstickerei. Für das, was ich jetzt vorhabe, sind die Teile zu hart. Die nächsten werde ich aus Seide fertigen!


Was mich auch schon lange interessiert: Die wunderschönen indischen Saris werden inzwischen immer öfter recycelt. Das passiert schon mit den Abfällen bei der Stofffertigung, aber auch mit den abgelegten Kleidungen. Zum Glück, denn in Mixedmedia-Kreisen ist reger Bedarf daran entstanden. Man bekommt da wild gedrehte Seidengarne aus Resten, die alleine ein Augenschmaus sind, Überraschungstüten oder breite Streifenbänder.

Handgefertigte Stoffperlen aus dem Atelier Tetebrec.


Was mich ganz besonders interessiert, sind ungewaschene und ungesponnene Seidenfasern vom Äußeren der Kokons, die besonders viel Sericin enthalten. Das ist eines der Kleberproteine, die die Kokons stabilisieren und im Fall des Sericins aneinanderkleben. Normalerweise wird diese "Gummierung" ausgewaschen und dann die Seide zu Fäden gewickelt und schließlich versponnen. Lässt man aber diesen Kleber drin, kann man etwas fertigen, das sich zwischen zwei Materialien bewegt: Papier aus Seide! Keine Frage, dass ich das in einem Paper Art Atelier dringend ausprobieren muss. Hochinteressant ist dieser Rohstoff auch für Freundinnen des Filzens.

Und natürlich wird es die Ergebnisse im Herbst auch in meinem Etsy-Shop geben, wenn ich es denn schaffe, den zu bestücken in dieser Chaoszeit. Ich kann allerdings auch spontan sein. Wenn man mir z.B. zuruft: Ich will gern die und die Perle haben, mach mir etwas daraus - kein Problem!

PS: Frei nach dem alten Spruch "wenn man den Esel nennt, kommt er gerennt", ist eben nach Posten dieses Beitrags das Päckchen aus England angekommen. Ein absoluter Traum, eine echte Schatzkiste, noch schöner als auf den Fotos. Ich werde bei Gelegenheit Fotos auf Instagram posten. Jetzt schwelge ich erst einmal mit den Händen. Träume mir neue Perlen und Schmuck zusammen. Und dann lege ich mich mit einer guten Lektüre nebst Hund frech tagsüber ins Bett, wir haben das verdient (und die Antibiotika mit dem kilometerlangen Beipackzettel hauen tüchtig rein). Die Lektüre kann ich auch nur SEHR heiß empfehlen: Robert Macfarlane: Underland. Hier gibt es Einblicke und hier ein sehr hörenswertes Interview. Es existiert auch eine deutschsprachige Übersetzung.