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1. Oktober 2019

Experimente in Stoff

In grauen Zeiten muss man sich mit Schönheit umgeben und sich Gutes tun. Ist so eine Art Überlebensregel, wenn es dicke kommt. Ich erzählte bereits von Bilbo, dem man übrigens absolut nichts anmerkt. Er ist völlig lustig und fit und fröhlich, so dass ich mich manchmal frage, ob es wirklich immer so gut ist, zu genau in Körper hineinsehen zu können. Dafür hänge ich in den Seilen, die zweite üble Kieferentzündung in diesem Jahr, diesmal auf der anderen Seite. Und ich schlucke hoffnungsvoll wahre Bomben von Antibiotika und bin einigermaßen verzweifelt über die Wartezeiten in der Zahnklinik. Zwei Zahnarztpraxen haben dicht gemacht, so langsam haben wir den Ärztenotstand.

Gegen trübe Tage: Farben und Schönheit! Handgefertigte Perle aus dickem Filz, Geschenkband und Stickerei.


Heute hat mich zum ersten Mal befallen, woran in Frankreich (und nicht nur dort) so viele Menschen leiden: Einereits wird alles immer komplizierter - inzwischen ist es eine Wissenschaft, allein den Kostenvoranschlag des Zahnarztes zu verstehen und den Bescheid der Krankenkassen. Ruinös das Ergebnis. Immerhin hat die Regierung endlich beschlossen, dass im Land keiner mehr durch Arztrechnungen ruiniert werden sollte (was bis jetzt der Fall ist), aber das neue Gesetz wird bei Zahnersatz erst bis 2020 komplett ausgerollt werden. Zu diesen diversen Überforderungen kommt hinzu, dass vieles, was einmal gut war, absolut nicht mehr funktioniert.

Diejenigen, die es durchdrücken müssen, zucken nur noch mit den Achseln. Diejenigen, die es betrifft, verzweifeln, fühlen sich alleingelassen. Und so habe ich mich heute bei der Zahnarzthelferin benommen wie all diese grummeligen, nörgligen und schimpfenden Franzosen, weil ich erst in einem Monat einen Termin habe. Ich hab mich vor mir selbst erschrocken und mich entschuldigt. Andere werden inzwischen handgreiflich. Die Aussichtslosigkeit ist eine doppelte: Es hilft einem weder die Resignation noch die Aggression. Es ist der Wurm drin im System. Fürsorge, Güte, Mitmenschlichkeit haben keinen Geldwert. Dafür ist alles im Leben und in uns bis hin zur DNA durchkapitalisiert. Konsumobjekt.

Es braucht ein starkes Gegenprogramm, um in solchen Situationen nicht abzustürzen in düstere Gedanken. Manche retten sich dann vermeintlich in Wutbürgerei und merken nicht, dass sie damit allenfalls zur kurzfristigen Ersatzbefriedigung kommen. Sie selbst drehen sich in die noch viel düsterere Aggressionsspirale hinein.

Hilft mir auch gegen das Trübsalblasen: Tiere. Allem voran das Knuddeln mit dem Hund. Aber auch Kühe entspannen mich wunderbar, sie haben so etwas Friedliches (außer man stört sie). Beinahe wäre ich mal im Straßengraben gelandet, weil ich meinen Blick nicht von zwei schmusenden Kühen losreißen konnte. Und wenn es richtig grau ist im Winter, besuche ich die freilaufenden Highlander. Das hier ist eine Sommerkuh, die Chefin aller Wasserwannen. Alle anderen soffen nach ihr.


Mir helfen - bis jetzt - Waldläufe und Knuddeln mit dem Hund. Wobei ich so manchem Homo sapiens die Weisheit der Tiere wünsche und wenigstens das soziale Verhalten eines Wolfsrudels. Und was mir auch hilft: schöne Sächelchen. Farben. Texturen. Beruhigende, meditative Tätigkeiten.

Die neuen Stoffperlen sind aus Stoff- und Filzresten, uralten Geschenkbändern, Garnen und Glasperlchen. Sie passen bestens zu den Cloisonnéperlen unten rechts, die in Manufakturarbeit hergestellt werden, oder zu den indischen Tonperlen oben links. Oft entstehen sie aus verblüffenden Resten. Die rot-schwarzen Perlen z.B. aus roten Seidenstrümpfen mit Ziernähten und Flicken von einem kaputten Rock mit afrikanischem Muster.


So entstehen im Moment in den raren Pausen kleine Preziosen, die einmal nicht aus Papier sind oder die nur einen Papierkern haben. Stoffperlen. Ich verwende Reste; zerschneide saubere alte, völlig kaputte Klamotten dafür, recycle Reste von uralten Geschenkbändern, Garne - und neue Glasperlen. Denn auf diesen Riesenperlen kann ich wild und intuitiv Muster sticken, aber auch Glasperlchen aufsticken. Ich habe einen uralten Schatz von Geschenkbändern noch aus den 1970ern, je prezioser die aussehen, desto besser. Und bin überrascht, was man aus all den Fetzchen erschaffen kann, die ich früher einfach in den Müll warf, weil sie zu kurz waren.

Zum Glück habe ich von diesem aufgesetzten Geschenkband noch ein Stück übrig - es gefällt mir nämlich sehr. Montiert auf grünen Filz und handbestickt mit winzigen Glasperlchen in Gold und Narzissengelb. Die linke Perle ist noch nicht ganz fertig.


Sehnsüchtig warte ich außerdem auf ein Päckchen aus England. Eine Kollegin hatte mir die Adresse empfohlen. Sie muss ich auch dringend empfehlen, denn Françoise Maillet ist eine wunderbare Künstlerin aus dem Elsass, die inzwischen Atemberaubendes mit Seide anstellt, zu sehen hier auf Instagram.

Ich habe einmal eine Schachtel alter Zierborten und Tressen geerbt, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte. Inzwischen verarbeite ich sie nicht nur in meinen Käferdosen, sondern auch auf diesen Perlen.


Es wird ein Schatzpaket sein, voll von herrlichen Farben und seidenweichen Schönheiten. Jean Oliver und Walter Tapson von Oliver Twists Fibres leben und werkeln in einer britischen Farm, wo sie Stoffe und Garne von Hand färben, aber auch Dinge aus der Stoffentstehung. Sie kaufen nachhaltig ein und so fand ich, was ich seit Monaten vergeblich suche. Für einen floralen Entwurf habe ich eichelgroße Hütchen schon aus rotem Kozopapier gefilzt, aber die werden eben auch hart wie mein Papierschmuck. Ich bräuchte für eine neue Idee allerdings etwas Weicheres, Feineres. Und entdeckte, dass man doch tatsächlich unverarbeitete Seidenkokons von Seidenspinnerraupen kaufen kann! Es handelt sich dabei um die aussortierten Kokons, die für die Seidenindustrie nicht interessant sind, edel gefärbt werden sie sich wunderschön in Schmuck einfügen!

Aus rotem Kozopapier habe ich bereits blütenartige Strukturen gefilzt, wie bei dieser Perlenstickerei. Für das, was ich jetzt vorhabe, sind die Teile zu hart. Die nächsten werde ich aus Seide fertigen!


Was mich auch schon lange interessiert: Die wunderschönen indischen Saris werden inzwischen immer öfter recycelt. Das passiert schon mit den Abfällen bei der Stofffertigung, aber auch mit den abgelegten Kleidungen. Zum Glück, denn in Mixedmedia-Kreisen ist reger Bedarf daran entstanden. Man bekommt da wild gedrehte Seidengarne aus Resten, die alleine ein Augenschmaus sind, Überraschungstüten oder breite Streifenbänder.

Handgefertigte Stoffperlen aus dem Atelier Tetebrec.


Was mich ganz besonders interessiert, sind ungewaschene und ungesponnene Seidenfasern vom Äußeren der Kokons, die besonders viel Sericin enthalten. Das ist eines der Kleberproteine, die die Kokons stabilisieren und im Fall des Sericins aneinanderkleben. Normalerweise wird diese "Gummierung" ausgewaschen und dann die Seide zu Fäden gewickelt und schließlich versponnen. Lässt man aber diesen Kleber drin, kann man etwas fertigen, das sich zwischen zwei Materialien bewegt: Papier aus Seide! Keine Frage, dass ich das in einem Paper Art Atelier dringend ausprobieren muss. Hochinteressant ist dieser Rohstoff auch für Freundinnen des Filzens.

Und natürlich wird es die Ergebnisse im Herbst auch in meinem Etsy-Shop geben, wenn ich es denn schaffe, den zu bestücken in dieser Chaoszeit. Ich kann allerdings auch spontan sein. Wenn man mir z.B. zuruft: Ich will gern die und die Perle haben, mach mir etwas daraus - kein Problem!

PS: Frei nach dem alten Spruch "wenn man den Esel nennt, kommt er gerennt", ist eben nach Posten dieses Beitrags das Päckchen aus England angekommen. Ein absoluter Traum, eine echte Schatzkiste, noch schöner als auf den Fotos. Ich werde bei Gelegenheit Fotos auf Instagram posten. Jetzt schwelge ich erst einmal mit den Händen. Träume mir neue Perlen und Schmuck zusammen. Und dann lege ich mich mit einer guten Lektüre nebst Hund frech tagsüber ins Bett, wir haben das verdient (und die Antibiotika mit dem kilometerlangen Beipackzettel hauen tüchtig rein). Die Lektüre kann ich auch nur SEHR heiß empfehlen: Robert Macfarlane: Underland. Hier gibt es Einblicke und hier ein sehr hörenswertes Interview. Es existiert auch eine deutschsprachige Übersetzung.

3 Kommentare:

  1. Nachdem die gute-Besserung-Wünsche bei Bilbo geholfen haben, schicke ich nun dem Frauchen welche.

    Bei fiebrigen Sachen wie Erkältung etc. kaufe ich immer ANGOCIN (homöop. Antibiotikum) in der Apotheke. Ob das beim Zahn hilft, weiß ich nicht. Auf jeden Fall haue ich zusätzlich immer jede Menge Arnica-Globuli in hoher Potenz rein, weil die gut für alles sind.

    Ach ja, ein tolles Mundwasser ist das ebenfalls frei verkäufliche ROTOKAN mit Kamille, Ringelblume und Schafgarbe. Damit zu Gurgeln hat Wunder geholfen, als mir mal mehrere Zähne auf einmal gezogen wurden (von meinem Bruder, der Zahnarzt ist).

    Soweit die Tipps von jemandem, der eine Weißkittel-Phobie hat und sich immer selbst mit Globuli & Co behandelt.
    Das Gesundheitssystem heutzutage ist der Horor.

    Auf jeden Fall wünsche ich dir ganz schnell gute Besserung.

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    1. Liebe Elli,
      ich danke dir sehr für die guten Wünsche und den Zahnarzt-Mundwasser-Tipp. Wenn ich mal wieder nach Deutschland komme ...
      Aber obwohl ich auch Homöopathie nehme, in diesem Fall kann ich nur schärfstens davon abraten. Eine Kieferentzündung wie diese landet unbehandelt unweigerlich in der Sepsis, früher Blutvergiftung genannt, also ganz schnell in der Notaufnahme und bei multiplem Organversagen. Da helfen nur noch die ganz großen Bomben.
      In Frankreich ist man wegen der vielen resistenten Keime nicht mehr schnell mit dem Verschreiben von Antibiotika (das hat sich massiv geändert) - und wenn ich die bekomme, dann, weil nichts anderes mehr hilft. Auch nicht mehr die leichteren.

      Ich schlucke nun ganz brav eine Woche lang 4 Kapseln einer Art Penicillin täglich, weil es längst nicht mehr nur um Zähne geht. Und stell mir vor, wie die Wirkstoffe mit Agentenautos durch meine Blutbahnen fahren und die fiesen Bakterien wie die Ninjas niedermachen. Dazu nehme ich ein probiotisches Medikament, in dem verschiedene gutartige Bazillen noch lebendig herumschwirren, die sich dann mit meinem Mikrobiom verbünden. Klingt kindlich, aber weil bekanntlich Placebo auch viel wirkt, stelle ich mir Hämmer von Medikamenten gern so vor und dann vertrage ich sie auch. ;-)

      In meinem Körper tobt tatsächlich ein Krieg, ich spüre das. Und werde mir heute genüsslich eine Auszeit nehmen und aus Seide Papier machen und viel schlafen und mit dem Hund knuddeln!

      Alles Liebe,
      Petra

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  2. Schöne Beschreibung, liebe Petra. Ich kann mir jetzt die Agentenautos richtig vorstellen. Stimmt. Manchmal helfen nur noch Hämmer. James Bond lässt grüßen.
    Dann ruh dich ordentlich aus - mit Bilbo auf der Couch und werd schnell gesund.

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