Challenge mich mal!

Ich war heute morgen relativ unfrisch - das schwankende Wetter schlägt mir auf den Kreislauf. Sagt mir eine Bekannte, ich solle es doch mal statt meines ewigen Kaffees mit einer "Challenge" versuchen. Ich habe nicht gleich kapiert, was sie will, denn heutzutage nennt man alles so: gute Vorsätze fürs Neujahr, ungeliebte Hausaufgaben, das Ankreuzen von Terminen im "Bullet Journal" und diese komischen Wettbewerbe unserer Konkurrenzwelt, in der möglichst viele Menschen das Gleiche machen. Vor meinem heißgeliebten Morgenkaffee sehe ich darin nur Gleichschaltung und frage mich, was Gewehrkugeln in einem Tagebuch zu suchen haben. Ohne Kaffee könnte ich mir doch gleich die Kugel geben.

Challenges - Herausforderungen. (Foto: pixabay)
Und ohne Kaffee bin ich ungnädig. Ich habe sie deshalb gleich abgewürgt, als sie mir zum Wachwerden und für mehr "Strapazierfähigkeit" seltsame Körner mit unaussprechlichen Namen und irgendetwas absolut eklig Gemixtes empfahl, das schon beim Aussprechen klingt, als müsse man es schnell wieder aus dem Mund nach draußen befördern: Smoothie. Mein Hund frisst Gras ja nur, wenn er Verdauungsbeschwerden hat.

In einer solchen Morgenlaune sollte man Facebook auch nicht aufklappen. In einer Gruppe färben sie wie die Berserkerinnen Stoffe mit Pflanzen und "challengen" sich gegenseitig mit dem noch teureren Spezialkocher, der noch edleren Seide, den exotischsten Pflanzenresten, die sie per Post rund um die Welt schicken, obwohl das aus ökologischen Gründen in den meisten Ländern verboten ist. Irgendwo greint eine, dass in ihrem US-Städtchen jetzt alle Bäume kahl sind, da hat jemand eine Krankheit aus Asien eingeschleppt. Volle Punktzahl für die Challenge: Stoff bunt, Wald tot.

Immerhin bekomme ich keine von diesen Spammails, die an meinem Gewicht, meiner Nase, der Größe meiner Füße oder meiner Haarfarbe herummäkeln. Aber ich mache doch Kunst. Geht das ohne Challenge?

Eine Kollegin im fernen Australien zeigt ihre Fingerübungen in Sachen Papierkunst bei Instagram. Challenge: Jeden Tag das gleiche kleine "Kunststück", nur in anderen Farben. Es sieht ungefähr so aus, als würde sich ein Konzertpianist jeden Tag beim Üben fotografieren. Und jeden Tag würde ich allzu gern fragen, woher sie den Mut nimmt, sich mit dem zu brüsten, was wir alle still und heimlich in den Papierkorb werfen, weil Übungen misslingen dürfen, sollen, können. Aber doch nicht bei Instagram! Da plant man die Fingerübung nach dem Fotowert. Selbstoptimierung, Babe! Es gibt Challenges zum Falten und welche zum Falzen, welche mit und ohne Kleber und welche mit hoffentlich genau den richtigen Stiften von der irre tollen Firma Dingenskritzel. Weil die Frau, die diese Challenge begründet hat, von Dingenskritzel dafür bezahlt wird, auf dass weltweit alle Kritzler sich schlecht fühlen, wenn sie mit etwas anderem kritzeln.

In einer anderen Gruppe gelte ich als Außenseiterin, weil ich bei keiner Challenge mitmache. Weil ich sogar einmal vorsichtig anmerkte, dass dieses serielle und lineare Denken die Wildheit unterbreche, das Spielerische und Experimentelle, das Unverhoffte und Überraschende. Kurzum, diesen Zustand, der sich anfühlt, wie wenn mein Hund mit Schmackes in eine Schlammpfütze springt und Spaß hat, während alle anderen Hunde brav auf dem Asphalt Leinenyoga machen. Pfui, macht man nicht. Ganz arges Pfui. Sowas sagt man nicht laut!

Ich weiß, man sollte in einer solchen Kaffeeentzugslaune nicht über ehrenwerte Menschen herziehen, die nur das Beste versuchen. Die sich täglich über oft lange Zeiträume mühen, brav ihre Hausaufgaben zu machen, durchzuhalten, sich Ziele zu setzen. Habe ich auch nichts dagegen. Es kann auch Wunderschönes dabei entstehen. Was mich aufregt - das merkt man hoffentlich - das sind diese Challenge-Missionare und Jüngerinnen! Ich brauche wirklich keine Ersatzreligion und werde auch nicht zum besseren Menschen dadurch.

Manchmal prasselt es einfach zu schlimm auf einen ein: Eine Challenge will meine Beauty und meine grauen Schwabbelzellen in die Fitnesszelle stecken, damit ich als High Performer brainfriendly Marketing betreiben kann! Nach so einer Buzzword-Challenge kann ich mir sicher anschließend die neueste Brigitte-Diät besser merken und singe mit meiner Schwabbelmasse im Duett "Eideidei"! Irgendwo sehe ich einen Spezialcoach für Listen (wo studiert man so etwas?), der verspricht, wenn ich mein Leben in effektivere Listen reihe und diese intelligent verknüpfte, würde ich an der Ordnung genesen. Schon wieder einer, der auf mein Gehirn anspielt. Der macht mich renitent. Ordnung. Gleichschaltung. Anpassung. Und wir alle schwingen mit und summen Smoothie!

Ich brauchte Gegenprogramm.

Mit genügend Kaffee im Bauch bin ich mit dem Hund in Richtung Wald gelaufen. Ich beschloss einen dieser Trödeltage, wo ich zum Hund sage: "Mach du mal dein Ding" und ich trotte ihm brav hinterher und lasse mich überraschen. Bilbo trödelte auch, verfolgte leckere Spuren, beroch jeden noch so kleinen Ast, an dem ein Tier vorbeigestreift war, leckte sich genüsslich die Geruchspartikel ein zum Abspeichern. Irgendwann nahm er einen Smoothie zu sich: Schleckerte jeden Grashalm ab und soff Schlammwasser nach. Wildschweingeschmack - ich konnte die Tiere riechen. Ein Duft von fruchtiger Fleischbrühe.

Wie also der Hund so trödelte, wurde auch ich langsamer, fand Rindenbast hier und ein wohlgeformtes Eichenblatt dort. Bemerkte, dass die Ahornblätter an einem Holzlagerplatz natürlich zu wunderschönen weißen Gerippen abgefault waren. Das Hainbuchenlaub dagegen zeigte noch bräunliche Adern. Wir beide wurden noch langsamer, noch trödeliger und die tiefen Taschen meiner Jägerjacke füllten sich mit Fundstücken. Ich vergaß den Hund, ich vergaß die weitere Umwelt, ich vergaß mich selbst - war ganz Augen, Nase, Ohren, Fühlen am Waldboden, lutschte an vom Frost süß gewordenen Weißdornbeeren, pfefferte Eicheln in kahlgeschlagenen Flächen und stellte mir vor, es würden dort neue Bäumchen wachsen. Manchmal blieb ich an einer Hainbuche stehen, streichelte die glatte Rinde und legte mein Ohr daran, hörte den Wind im Stamm knarzen und die helleren Töne der Äste im Wipfel. Ich fragte mich, ob sich vielleicht in achtzig Jahren das Baumwesen kratzen würde, weil so ein überaus hektisches, schnelllebiges Ungeziefer an seinem Stamm horchte und viel zu schnell wieder weiterging, um auch den Saft fließen zu hören, das Baumblut.

Einige Momente lang hatten wir Waldwesen alle Zeit der Welt und ich bemerkte, wie ganz nah neben mir ein Buntspecht zu hämmern anfing. Überhaupt kamen immer mehr Vögel, näherten sich zutraulich. Es raschelte im Unterholz und ein Reh sah mich an, sanft und wissend - der Wind stand günstig. Der Hund trödelte nämlich weiter, merkte nichts. Stille. Stille von Menschen. Nur die Töne von Leben, von der Lust am Leben und am Trödeln.

Bilbo und ich schlichen weiter - er erkundete inzwischen die Unterwelt, vermaß dreidimensional unterirdische Mausgänge und oberirdische Maulwurfshügel. Einmal rannten zwei winzige Mäuschen von ihm weg, als er ein Loch inspizierte. Fast sahen sie aus, als kicherten sie triumphierend - sie brauchten sich gar nicht zu beeilen, denn dieser Hund trödelte!

Womöglich habe ich da heute aus Versehen irgendeine Challenge geschafft: den leisesten Tritt, den man mit Gummistiefeln machen kann. Das wärmste Ohr an einem kalten Baum. Das Erriechen eines Wildschweinwechsels.

Was aber, wenn das alles nur passiert ist, weil ich gar nichts wollte? Weil ich nach nichts trachtete, noch nicht einmal ein Ziel hatte? Was, wenn mir dieses Reh nur begegnet ist, weil ich für einen kurzen Augenblick mein dummes streberhaftes Menschsein vergessen konnte und mich mit großer Lust winzig klein und unbedeutend fühlte? Mein Hund blickt mich jedenfalls an, als könne er das Geheimnis erklären.

1 Kommentar:

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