Ich will mäandern!

Auf den Wiesen blühen frühe Gänseblümchen und Gamander-Ehrenpreis. Als Kinder unterschieden wir den falschen Frühling, der meist um die Faschingszeit kam, an einem deutlichen Phänomen vom echten: Es schwammen keine Fische in den Wiesen. Die Fische hatten das bessere Gefühl für die trügerische Zeit, in der Eis und Schnee doch noch hereinbrechen konnten ins Ried. Ein, zwei Monate später standen wir wieder in den überschwemmten Bruchwiesen und ließen kleine Fischlein durch unsere Hände gleiten. Kurze Zeit später blühte der Bach-Nelkenwurz oberirdisch, Wasser und Fische waren in den Altrheinarmen verschwunden. Die, so hatte ich das Wort in der Schule gelernt, mäanderten - im Gegensatz zum früh begadigten Rhein.


(Foto: 12019 / Pixabay)


Das Mäandern blieb für mich eins dieser Wörter, die man in eine Schatzkiste stecken möchte: Es wechselt wie der Wasserlauf ständig seine Richtung, schrägt die Vokale ab, plätschert mit seinen weichen Konsonanten dahin und versumpft vielleicht auch einmal im anderen M-Wort, dem Morast, dem Modder. Wie eine Insel steht das "d" und man hüpft unweigerlich beim Sprechen von Stein zu Stein, von Buchstabe zu Buchstabe. Ich mäandere gern.

Vor allem mit Bilbo, meinem Hund. An manchen Tagen lasse ich allein ihn entscheiden, wohin wir laufen, folge ihm still, lasse mich überraschen. Es ist nie ein geradliniges Laufen, auch auf Wegen nicht. Bilbo mäandert mit einer Rehspur, wechselt auf dessen einstigem Liegeplatz hinüber zur frischeren Wildschweinfährte, rüsselt ins Wasser hinein, dass in den Wühlstellen steht - da könnte doch eine leckere Hinterlassenschaft sein? Doch schon lenkt ihn ein Geräusch ab, im Mäuselsprung hüpft er auf ein Mausloch zu. Zu spät, die Maus hat sich in Sicherheit gebracht, also rennen wir einfach mit den Markierungen im Wind, kreuz und quer. Geraden, wie sie der Mensch so liebt, existieren nur als Sichtpunkte und Peillinien, zum Habicht etwa, der über der Wiese steht.

Längst schlagen auch meine Gedanken Haken, springen über Bodenwellen, verschwimmen parallel zum Bach zu einer fließenden Pause; sie waten ein wenig im Wasser, tauchen plötzlich neugierig wie die Hundenase, tauchen wieder auf im Kopf. Abschütteln, trockenschütteln. Die Ohren fliegen und der Kopf dazwischen ist wieder frei. Ich schwebe, brauche den letzten Gedanken nicht mehr, wir fliegen sechsbeinig über die Wiese. Die quietscht und quatscht und spritzt. Alles Schwere fällt ab und selbst die Raben flattern uns zu, als könnten wir fliegen.

Es wird mir immer wichtiger, dieses Mäandern. Weil in der hektischen Welt jenseits der Wiesen alle so geradlinig und laut zu marschieren scheinen. Effektiv muss ein Gang sein, sonst macht man ihn nicht, am besten, er wird im Voraus von Algorithmen berechnet und dann geht es immer weiter geradeaus in der Herde. Nur kein Ausbrechen, die Haut der "Filterbubbel", die Blasenhaut, hält viel aus, wie eine Eihaut hält sie womöglich infantil - und wer oder was bewegt uns eigentlich? Wir setzen eilig einen Fuß vor den anderen, während die Finger noch tippen und der Mund womöglich spricht. Multitasking können wir inzwischen rund um die Uhr - und wenn nicht, gibt es dafür eine App.

Die Leute werden quengelig bei den kleinsten Anlässen. Ich warte darauf, dass der erste beim Bäcker das Smartphone zückt, weil die Bäckerin freundlich mit einer Kundin schwatzt, weil es ihm zu langsam geht, weil er seine Brötchen jetzt gleich mitten im Bäckerladen bei Amazon bestellen will. Videoüberwachung und verbunkerte Türen gibt es in manchen Ämtern, auch das macht quengelig. Ich habe nur einmal gefragt, ob das wegen der Terrorgefahr sei. Nein, die Hassangriffe gegen Mitarbeiter, auch tätliche, hätten enorm zugenommen. Das ist nicht Facebook, das sind keine Kommentarspalten in Medien - es ist das ganz normale "analoge" Leben, in dem man die Menschen auf der einen Seite des Tisches vor denen auf der anderen schützen muss. Schützengräben in öffentlichen Gebäuden, das Rauchen untersagen sie mit großen Hinweistafeln, das Hassen nicht.

Kraft verschleißt eine solche Welt, viel Energie und Kraft, weil man ja trotzdem perfekter als perfekt, effektiv und immer in Bewegung bleiben muss. Aber irgendwie steht diese Dauerbewegung nur noch im Film ausschließlich auf der Seite des Guten. Wir kennen sie von Dr. Who, der durch die Zeiten wandert: Aber auch er mäandert, dieser menschgewordene Mythos in unserer eigenen Dimensionsbeschränkung!

Wann ist das alles gekippt?, fragen viele in meinem Umfeld, warum haben wir diesen und jenen Abgrund nicht gesehen? Und könnte es nicht doch von Vorteil sein, auf der dunklen Seite der Macht ein wenig Licht zu suchen? Wer will sehen, dass es diesen Tanz auf dem Vulkan öfter schon gab, dass man von denen früher etwas lernen könnte? Verzweifelter als noch vor wenigen Jahren klingen auch die Aufgeweckten, die immer alles erklären konnten, die sich interessieren, warum die Welt so tickt, wie sie tickt. Auch das mit der Geschwindigkeit hatten wir schon mal, das mit der Überforderung ... die Texte der 1920er lesen sich, als seien sie 2020 geschrieben, man ersetze nur die Worte Elektrizität oder Trambahn und Fließband. Hinkt der Mensch sich selbst nach? Und warum bleibt nicht einfach jemand stehen und lebt den Moment?

Viele halten mich für naiv, dass ich meine Mittagspause mit dem Hundelauf ersetzt habe. Dass ich behaupte, beim Gehen die Welt besser zu begreifen und mich selbst in meinem Rhythmus zu finden. Ich spüre sofort nach den ersten Schritten, wenn mein Rhythmus nicht stimmt, was mit mir nicht richtig läuft. An solchen Tagen hänge ich zwei Stunden Bergwald an und es wird mir plötzlich ein Fels, ein Baum, ein Bach so wichtig, dass alle künstliche Erregung aus Social Media verblasst. Diejenigen, die mich in durchaus eifersüchtiger Weise wegen des Laufens belächeln, haben schnell einen Satz für ihr Unbehagen auf den Lippen: "Ich kann mich nicht einfach mal ausklinken. Wozu soll das gut sein, eine Stunde lang kein Internet und kein Smartphone zu haben?" In der Welt der perfektionistischen Effektivität könnte doch genau in der einen Stunde etwas Wichtiges passieren! Nur nichts aufschieben, die Anforderungsberge sind schon steil genug, wie soll man den Gipfel erreichen, wenn man auch nur einmal stockt?

Und wie soll man den Berg schaffen, frage ich zurück, wenn man den eigenen Atem nicht mehr wahrnimmt? Wie den Aufstieg, wenn man gegen den eigenen Rhythmus rennt? Wann und wie ladet ihr eure Kraftreserven auf, frage ich solche Leute. Ach, die Kraft, die hätten sie eigentlich schon lange nicht mehr, höre ich. Irgendwann, im nächsten Urlaub vielleicht, wenn man den Stress mit der Fliegerei hinter sich habe und wenn das Hotel endlich mal perfekt den Besprechungen im Netz ähneln würde. Irgendwann in der Rentenzeit, aber die lasse sich auch nicht mehr genießen, alt dürfe man ja heutzutage auch nicht mehr richtig sein, aber dafür sei man wahrscheinlich zu arm zum Genießen.

(Foto: Yuri B. / pixabay)


Vor vielen Jahren, noch im letzten Jahrtausend (wie das klingt!) habe ich Workshops mit Menschen im Bergwald gemacht. Geschichten und Geschichte wollten sie hören, etwas spüren. Aber ich habe schnell gemerkt: Zum wirklichen Spüren hätten manche von ihnen länger bleiben müssen. Die meisten brauchten allein einen Tag, um endlich aus dem Tritt zu kommen, aus dem Trott. Am Anfang rasten sie noch blind selbst an Ausgrabungsstücken vorbei, im Kopf all die entgangenen Termine und Eventualitäten, die Erwartungen anderer und die eigenen und diesen schreienden Hunger: Wann passiert endlich etwas? Es muss in diesem Wald doch etwas passieren, ein Licht vom Himmel ihretwegen oder ein exotisches Tier, ein plötzlicher Wind vielleicht? Schließlich hatten sie dafür bezahlt, aus dem Alltagstrott zu geraten, da musste doch wenigstens ein veritables Waldwunder her!

Es war nicht leicht, sie zu öffnen für die wirklichen Wunder und kleinen Schönheiten. Und dann brach plötzlich eine Frau in einen Heulkrampf aus. Sie hatte sich den ganzen Vormittag mit ihrem Mann gestritten, war dann abseits gelaufen und nun stand sie am Berg und das Wasser floss nur so aus ihr und der Mann rannte weiter. So schluchzte man nicht wegen eines Streits. Ich wusste mir damals nicht anders zu helfen: Ich nahm sie in den Arm und hielt sie fest, sehr sehr lange. Und als sie wieder Luft bekam und Worte, hat es mich zutiefst schockiert. Sie hatte wirklich nicht geweint wegen eines Streits.

"Wissen Sie, was mir passiert ist?", fragte sie mich und erklärte es unvermittelt: "Ich habe zum ersten Mal seit zwanzig Jahren den Wind auf meiner Haut gespürt. Dieses Gefühl hat mich einfach umgehauen!" Und sie schluchzte weiter, von Gartenpartys und von regelmäßigen Urlauben, im Bikini an spanischen Küsten. Aber den Wind, den habe sie eigentlich nie mehr gespürt, der war ihr irgendwann im Laufe ihres Erwachsenenlebens abhanden gekommen. Selbst Stürme hatten ihre Haut nicht mehr erreicht. Sie war stark geworden für diese Welt. Und da stand sie auf einem Waldweg und ließ sich endlich erschüttern vom Luftzug einer kleinen Quelle. Sie hatte es geschafft - den Rest der Zeit mäanderte sie durch den Wald, vergaß die Geraden und die Ziellinien, wurde zu einem Blatt im Wind.

Damals (wie das klingt!) waren die Menschen im Großen und Ganzen voll Hoffnung. Das neue Jahrtausend würde gigantisch und wunderbar werden. So viele Möglichkeiten! Selbst Menschen, die sonst ihren Verstand betonten, glaubten plötzlich an ein "Wassermannzeitalter", an einen "Quantensprung der Menschheit". Sie stritten sich mit der Weltuntergangsfraktion, die jedoch ebenfalls mehrmals versagte. Es trat beides nicht ein. Die Evolution gibt sich weiter ungerührt und das Goldene Zeitalter ist nicht einmal mehr in Märchen glaubhaft. Eigentlich hätten wir doch ganz normal und gemessenen Schrittes in die Zukunft gehen können. Aber da gab es diesen Bruch. Wann eigentlich? Und warum genau? Woraus besteht er? Waren wir insgeheim schon immer diese ekligen, fiesen Typen, vor denen wir uns heute selbst schützen müssen? Was macht uns so überfordert von der Welt, erschöpft von uns selbst?

Ich habe keine Antworten auf all meine Fragen. Ich weiß nur eins und das lehrt mich mein Hund deutlich: Ich muss mehr denn je mäandern. Welche Nachteile die Rheinbegradigung brachte, wissen heute nicht nur die Anwohner des Stromes. Wir haben alle zugeschaut, wie die Auwälder und die Rheinauen dezimiert wurden und die kleinen Schönheiten, die man beim Marschieren nicht sehen kann. Heute kommen sie wieder aus den Städten und lassen sich im Boot durch die Sümpfe führen. Sie wollen das Einst beobachten und Zukunft riechen.


Dickhäuter sind da oft unterwegs. Die Haut ist nicht mehr so durchlässig wie früher und so rasen manche in Schutzhaut, Hornhaut, durch den Wald . Wieviele Tage werden sie brauchen, bis sie wieder den Wind auf der Haut spüren? Bis sie nicht mehr blind mit der Herde ziehen, sondern mäandern und entdecken, mit den Raben lachen und den Tieren springen?

Mäandern - ein Wort, das ich in meiner Wort-Schatzkiste in Blattsamt packen möchte, in Blütenseide, geschnürt mit einem Spinnwebfaden voller Regendiamanten ...


Der Text ist dir etwas wert? Meine Kaffeekasse gibt's hier:

4 Kommentare:

  1. Das ist für mich einer deiner bisher schönsten und berührendsten Texte, nicht nur, weil er so wunderbar Sprache, Erleben und Spracherleben verbindet, sondern auch inhaltlich. Vielleicht bin ich heute so empfänglich dafür, weil hier auch gerade ein bisschen "falscher Frühling" herrscht (es war ein herrlich milder Vormittag, gut, um im Garten so einigen Kleinkram zu erledigen und dabei schon ein paar Vögel singen zu hören). Und der letzte Satz ... Ein Traum! Viel weitermäandern und andere schriftlich daran teilhaben lassen, bitte!

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    1. Liebe Maike,
      du glaubst gar nicht, wie breit mein Lächeln war, als ich das las! Wie sehr mich das zum Mäandern motiviert, muss ich natürlich nicht sagen.
      Der Text ist auch ganz komisch entstanden, nämlich mitten in der Nacht aus einer Stimmung heraus und der Erinnerung an die Fische in der Wiese. Ich machte mir sofort Notizen und wollte das tagsüber nur als Einstiegsbild für einen völlig anderen Text benutzen. Der hat sich dann aber selbst geschrieben, ich hatte nicht mehr viel zu sagen ... so wie beim Hundelauf, wenn ich Bilbo nur hinterher renne.

      Ich stelle fest, es tut mir gut, vorerst keine Bücher mehr zu schreiben. Ich schreibe freier.

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  2. Was für ein schöner, guter Text, und du hast mich an was erinnert....
    Und mal wieder Danke, für's Mitnehmen in eurem Wald :-)

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    1. Merci für das Feedback, liebe Sewsanne!

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