Gehirn auf Durchzug?
Kürzlich ist mir etwas absolut Nebensächliches begegnet, dass mir sehr zu denken gibt. Wer kennt nicht den Film "Blues Brothers"? Ich muss wohl kaum etwas über die Erinnerungen und Emotionen sagen, die mit diesem Stück Kult verbunden sind. Ich habe ihn mehrmals gesehen und immer besondere Gänsehaut gehabt, wenn Cab Calloway "Minnie the Moocher" singt. Das war 1980 - und wer sich mit dieser Musik auskannte, dem stand das Original vor Augen, als Cab Calloway noch im Cotton Club in Haarlem sang: 1931 kam der Song heraus (hier eine Filmfassung von 1958). Ein halbes Jahrhundert Emotionen! Und als ich zufällig bei einer Recherche auf die youtube-Videos traf: NICHTS. Vorspulen, abspulen, kein Gefühl. Arbeit.
Nun ist auch dieser Effekt nichts Besonderes. Als ich meine Journalistenausbildung machte, gab es noch den Raum mit den "Tickern", wie wir Fernschreiber oder Telex nannten. Es war laut, es rasselte, und die Dinger spuckten gefühlt Kilometer von Papier aus. Wer Dienst bei der "Tickerauswahl" hatte, schaltete innerlich auf abgestumpften Modus und wählte im Affenzahn aus, was am nächsten Tag als Nachrichtenmeldungen ins Blatt fand. Wie heute auch gab es Kriterien für die Wichtigkeit und Relevanz von Meldungen. Und dass am Abend Hunderte von unbeachteten Toten, exotische Konflikte am anderen Ende der Welt oder Katastrophenmeldungen im Papierkorb landeten, durfte einen seelisch nicht ankratzen. Die Welt drehte sich weiter, der Aufreger von gestern war morgen vergessen. Wenn wir von unseren Ausbildern wissen wollten, wie man in diesen Modus gelangte, hieß es nur:
Und auch das ist wissenschaftlich untersucht: Erinnerungen graben sich besonders ein, wenn sie mit Emotionen und Sinnesreizen wie Gerüchen verbunden sind. "Minnie the Moocher", die Musik der Blues Brothers, der Geruch von noch lauwarmem Popcorn im Kino, das Regenwetter, als man in der Schlange stand - so etwas kann zu einer sehr tiefen Jugenderinnerung werden. Und wenn dann im Alter das Lied wieder erklingt, ist man gerührt, vergießt vielleicht sogar ergriffen ein paar Tränen. Warum diesmal bei youtube nicht? Warum dieser "abgestumpfte Modus", dieses "Hirn auf Durchzug"?
Es ist ein normaler Vorgang, den ich gleich erklären werde. Dazu muss man vorab wissen, dass unser Gehirn nicht ordentlich und linear abspeichert wie eine Maschine. Es entscheidet sozusagen selbst, was erinnerungswürdig ist, aber wir können es dabei unterstützen: Wenn wir uns zurücklehnen, der Hektik entkommen und und immer wieder gern an die gleichen Dinge erinnern, davon erzählen, uns wohlfühlen, dann werden uns diese Dinge eher vor Augen stehen. Das kann allerdings auch so weit gehen, dass wir uns an Dinge erinnern werden, die doch anders abgelaufen sind oder vielleicht nie stattgefunden haben. Genauso, wie der Mensch vergisst, kann er sich auch falsch erinnern und Erinnerungen fälschen. Wir sind beeinflussbar durch andere. Und wir sind es umso mehr, je aktueller eine Situation ist, je mehr wir uns damit beschäftigen.
Die dunkle Seite sind die Entzugserscheinungen. Wir müssen ständig unsere Nachrichten checken, dabeisein, Feedback von anderen abrufen. Und wir müssen das nicht, weil wir es wollen, unser Gehirn wird abhängig vom Endorphinkick wie das Hirn eines Extremsportlers, der einen immer größeren Kick braucht, um sich noch zu spüren. Am anderen Ende warten Internetsucht und Depressionen oder andere Störungen.
Ganz genau: Jede Maschine würde streiken. Festplatte voll. Datenmenge erreicht, Kapazitäten erschöpft. Das Gehirn will und muss löschen, vergessen, sonst geht es uns irgendwann wie der Frau mit dem totalen Gedächtnis, die ihre Realität nicht mehr ungestört wahrnehmen kann. Kommen dann noch drei Fake-Stories hinzu, die wir eigentlich kritisch überprüfen müssten, blinken sozusagen die roten Lichter, der Alarm schrillt: Overflow! Wir können nicht mehr ... und wollen vielleicht einfach nur noch glauben, glauben ...
Auch das ist ein Reflex aus der Kindheit, als der Glaube an ein Christkind mit Geschenken noch darüber hinwegtäuschte, dass Onkel Alfred beim Weihnachtsessen vielleicht immer sturzbetrunken war. So ein festes geschlossenes System, das uns vorgaukelt, die Glasglocke über einer sicheren und heilen, vor allem aber überschaubaren Welt zu sein, lässt sich doch glatt verwechseln mit den Like-Endorphinen? Erschöpft, überfordert, sehnsüchtig nach Erklärungen geben wir uns hin. Klicken vielleicht einmal zu viel an der falschen Stelle. Teilen einmal zuviel nicht durchschauten Dreck. Und damit sind wir bei dem Artikel im American Scientific, dessen Lektüre eigentlich der Auslöser für mein Nachdenken war.
Der Computerwissenschaftler Filippo Menczer der Indiana University Bloomington (I.U.), einer der Co-Authoren des neuen Modells, stützt sich ebenfalls auf die Theorie von Überforderung und Overload. Er geht sogar so weit, über Fake-Informationen zu sagen:
Wer sich diese Fragen selbst ehrlich beantwortet, wird erschrecken, wie unsere Erinnerung an ein Ereignis, bei dem die meisten nicht einmal selbst dabei waren, völlig anders sein kann als die unseres Gegenübers, ja selbst anders als die Realität!
Die meisten haben sich zuerst in Social Media ein Bild gemacht, ein Bild von vielen möglichen. Denn es war abhängig von den Menschen, denen wir folgen oder die bei Hashtags und Topmeldungen nach oben gespült wurden. Das Gute kommt selten nach oben, sagt die eben erwähnte Studie. Es waren die Bilder von Gewalt, von brutalen Demonstranten wie knüppelnden Polizisten, die alles überstrahlten. Und da kommt eine Überforderung ins Spiel, über die mMn viel zu wenig gesprochen wird: der emotionale Overflow. Hass, Frust, Trauer, in Wechselduschen mit Herzelchen-Geknuddel und Katzenschmalz - was macht das eigentlich mit unseren Alltagsemotionen und unserer Fähigkeit, tiefe Gefühle zu entwickeln?
Eine skandinavische Studie hat Studenten in Tagebuchform befragt: Auch wenn ein größerer Teil Social Media eher als positiv und unverzichtbar erlebt oder fast bis zur Sucht kommt, zeigt etwa ein Fünftel von ihnen bewusste Probleme mit der eigenen Abhängigkeit und unguten oder überraschenden Gefühlen, die durch den Konsum entstehen. Die Plattformbetreiber nutzen Emotionen längst, um ihre "Laborratten" zu manipulieren. Als Twitter plötzlich Herzchen einführte, war der Aufschrei groß. Und tatsächlich stand dahinter die Absicht, Menschen über die Endorphinausschüttung an das Medium zu binden. Glaubt man einer Studie über Wetter-Posts, so scheinen positiv oder negativ abgefasste Beiträge sogar unsere Emotionen zu nivellieren: Wir schließen uns einer vermeintlichen Mehrheit an. Weil die Mehrheit schlechtes Wetter negativ kommentiert oder negative Emojis anklickt, kommen wir seltener auf die Idee, Regen zum fröhlichen Tanzen zu finden. Kommt zum Overflow der Emotionstrigger also auch noch eine zusätzliche Verflachung der Emotionen durch Anpassung an die Mehrheit?
Da sitze ich also, schaue mir Cab Calloway via Social Media an - und empfinde fast nichts. Jetzt müsste nur jemand die Aufnahme einbetten in einen extrem emotionalen Beitrag, der entweder Hass erzeugen soll oder Wohlgefühl. Würde ich diesen Beitrag schneller und unbedachter teilen, weil ich das Lied kenne? Würde ich den Beitrag vielleicht besonders unkritisch teilen, weil mir in all meiner Medienüberforderung und der Verflachung der Emotionen endlich wieder ein Gefühl versprochen, vielleicht sogar vermittelt wird? Ist die stinkige Laune für manche vielleicht besser als das Nichts? Und ab wann wird sie Mainstream, weil sie im Echoraum viel lauter hallt als jedes Lied?
Welche Strategien kann ich eigentlich entwickeln, um mich vor solcher Manipulation und Abhängigkeit zu wappnen? Und welche, um mein Fühlen intakt zu halten?
Wer nach diesem Artikel übrigens das "Hidehidehi und Hidehideho" nicht mehr aus dem Kopf bekommt, ist Opfer eines Tricks geworden. Denn auch trocken wissenschaftliche Artikel transportieren sich leichter über Emotionen und Erinnerungen. "The Hide De Ho Man" Cab Calloway hat diesen seinen Markennamen zeitlebens nicht losbekommen und von diesem Kult lebt schon die Szene in den Blues Brothers. Und wenn wir das jetzt singen, erinnert es uns vielleicht daran, wie faszinierend und auch frech eigenständig unser Gehirn funktioniert, wie es bei einer Übermenge von Reizen aber auch verführbar wird. Hi de ho!
Von diesem Effekt freikaufen kann man sich leider nicht. Aber gern etwas in die Kaffeekasse spenden, wenn einem der Artikel einen geistigen oder emotionalen Gewinn brachte ... oder das Gehirn einfach mal wieder trainiert wurde, denn meines hat dafür geschafft:
Und wenn wir uns noch so sehr nach einer geschlossenen heilen Welt sehnen- die Neugier überwiegt doch. Selbst unser Gehirn macht nicht immer, was wir wollen. (La forme du ciel, Flammarion, 1888, Wikipedia) |
"Du musst einfach dein Hirn auf Durchzug schalten!"
Kann das Gehirn Erinnerungen fälschen?
Das menschliche Hirn sortiert nämlich genauso gnadenlos aus und hat noch eine weitere Funktion, um nicht an der Überfülle durchzudrehen: das Vergessen. Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt, wer vergisst, lernt dafür auch wieder Neues. Anders gäbe es vielleicht irgendwann eine Art "Overflow". Man stelle sich die Festplatte eines Computers vor, auf der nie etwas gelöscht würde! Extrem selten ist darum der Zustand des anderen Extrems: "Die Frau, die nichts vergisst", Jill Price, wurde mit ihrem Outing und einem Buch bekannt. Womöglich traumabedingt erinnert sich diese Frau an jede Einzelheit ihres Lebens seit ihrem 14. Lebensjahr, sie empfindet ihre Wirklichkeit wie einen geteilten Bildschirm: auf der einen Seite der nicht endend wollende Film der Erinnerungen, auf der anderen die Jetztzeit. Das hatte sie u.a. in eine tiefe Depression getrieben. Die Auslöser für Erinnerungen waren wie bei uns Lieder, Gerüche, Namen ...Und auch das ist wissenschaftlich untersucht: Erinnerungen graben sich besonders ein, wenn sie mit Emotionen und Sinnesreizen wie Gerüchen verbunden sind. "Minnie the Moocher", die Musik der Blues Brothers, der Geruch von noch lauwarmem Popcorn im Kino, das Regenwetter, als man in der Schlange stand - so etwas kann zu einer sehr tiefen Jugenderinnerung werden. Und wenn dann im Alter das Lied wieder erklingt, ist man gerührt, vergießt vielleicht sogar ergriffen ein paar Tränen. Warum diesmal bei youtube nicht? Warum dieser "abgestumpfte Modus", dieses "Hirn auf Durchzug"?
Es ist ein normaler Vorgang, den ich gleich erklären werde. Dazu muss man vorab wissen, dass unser Gehirn nicht ordentlich und linear abspeichert wie eine Maschine. Es entscheidet sozusagen selbst, was erinnerungswürdig ist, aber wir können es dabei unterstützen: Wenn wir uns zurücklehnen, der Hektik entkommen und und immer wieder gern an die gleichen Dinge erinnern, davon erzählen, uns wohlfühlen, dann werden uns diese Dinge eher vor Augen stehen. Das kann allerdings auch so weit gehen, dass wir uns an Dinge erinnern werden, die doch anders abgelaufen sind oder vielleicht nie stattgefunden haben. Genauso, wie der Mensch vergisst, kann er sich auch falsch erinnern und Erinnerungen fälschen. Wir sind beeinflussbar durch andere. Und wir sind es umso mehr, je aktueller eine Situation ist, je mehr wir uns damit beschäftigen.
Das Zuckerbrot-System
Da sind wir jetzt beim eigentlichen Thema: unserem Zustand in Social Media. Vor allem bei Facebook, kurzzeitiger bei Twitter, setzen wir unser Hirn freiwillig einer ungeheuren Flut von Tagesaktualitäten, Aufregern und scheinbar extremen Emotionen aus, von einer Unzahl von Menschen, die wir meist gar nicht persönlich kennen und die uns womöglich deshalb auch nicht besonders berühren. Anders als der Volontärin im Tickerraum ist es uns kaum möglich, "das Gehirn auf Durchzug" zu schalten, weil uns eine ausgeklügelte Kommunikationsstruktur ständig zwingt, Dinge zu liken, zu teilen, wegzuklicken, zu blockieren. Schlimmer noch: Die ständige Interaktion ist in ein Belohnungssystem eingebunden. Auch wenn wir uns das selten zugeben wollen: Die Herzchen bei einem Beitrag, die Reaktion anderer und der eigene Klick lösen Endorphine, Glücksbotenstoffe aus. Dazu gibt es viele Artikel, etwa die Studie der Universität Oxford von 2016, dass große virtuelle Freundeskreise Menschen schmerzumempfindlicher machen. Benachrichtigungen geben uns das Gefühl, dass uns jemand wichtig nimmt oder brauchen könnte. Längst nutzen Marketingexperten das "Social Media High" für ihre Zwecke und Facebook ist ja nicht zufällig so designed - unsere Verweildauer und unser Bedürfnis danach sollen angestachelt werden.Die dunkle Seite sind die Entzugserscheinungen. Wir müssen ständig unsere Nachrichten checken, dabeisein, Feedback von anderen abrufen. Und wir müssen das nicht, weil wir es wollen, unser Gehirn wird abhängig vom Endorphinkick wie das Hirn eines Extremsportlers, der einen immer größeren Kick braucht, um sich noch zu spüren. Am anderen Ende warten Internetsucht und Depressionen oder andere Störungen.
Overflow und Glasglocke
So weit muss es natürlich nicht kommen. Kehren wir zurück zur Internetrecherche und dem Lied, das plötzlich keine Emotion hervorruft, obwohl es eine sehr emotional besetzte Erinnerung war. Aber die Herangehensweise war anders. Für die Bluesbrothers habe ich mich mit Freunden im Kino getroffen. Man freute sich lange vorher auf den Abend, plante das Ausgehen, fuhr extra in die nächste Stadt. Hatte schöne Gespräche und eine tolle Zeit, vertiefte den Film anschließend in der Kneipe. Und jetzt? In einem Tab läuft Facebook und zählt durch, wie viele Benachrichtigungen auflaufen. Soll ich nach 5 schon nachlesen oder erst bei 10? Gleichzeitig recherchiere ich ja etwas, schaue im dritten Tab quer durch zig Videos und rege mich im vierten Tab über einen Politiker auf, der bei Twitter wieder besonders Dumpfes in die Welt gespuckt hat. Und sollte ich nicht auch endlich mal up-to-date sein in Sachen Hamburg, wo doch alle davon reden und jeder alles besser zu wissen scheint als ich?Ganz genau: Jede Maschine würde streiken. Festplatte voll. Datenmenge erreicht, Kapazitäten erschöpft. Das Gehirn will und muss löschen, vergessen, sonst geht es uns irgendwann wie der Frau mit dem totalen Gedächtnis, die ihre Realität nicht mehr ungestört wahrnehmen kann. Kommen dann noch drei Fake-Stories hinzu, die wir eigentlich kritisch überprüfen müssten, blinken sozusagen die roten Lichter, der Alarm schrillt: Overflow! Wir können nicht mehr ... und wollen vielleicht einfach nur noch glauben, glauben ...
Auch das ist ein Reflex aus der Kindheit, als der Glaube an ein Christkind mit Geschenken noch darüber hinwegtäuschte, dass Onkel Alfred beim Weihnachtsessen vielleicht immer sturzbetrunken war. So ein festes geschlossenes System, das uns vorgaukelt, die Glasglocke über einer sicheren und heilen, vor allem aber überschaubaren Welt zu sein, lässt sich doch glatt verwechseln mit den Like-Endorphinen? Erschöpft, überfordert, sehnsüchtig nach Erklärungen geben wir uns hin. Klicken vielleicht einmal zu viel an der falschen Stelle. Teilen einmal zuviel nicht durchschauten Dreck. Und damit sind wir bei dem Artikel im American Scientific, dessen Lektüre eigentlich der Auslöser für mein Nachdenken war.
Sind Fakes wie Viren?
Wissenschaftler wollen natürlich wissen, wie sich Fake Stories und erlogene Meme in Social Media verbreiten. Als Hilfe dient dazu u.a. die Vorstellung von einem Krankheitsvirus, den ich mir einfangen kann, wenn ich nicht Acht gebe. Stecke ich damit zuerst meine Freunde an und wie?Der Computerwissenschaftler Filippo Menczer der Indiana University Bloomington (I.U.), einer der Co-Authoren des neuen Modells, stützt sich ebenfalls auf die Theorie von Überforderung und Overload. Er geht sogar so weit, über Fake-Informationen zu sagen:
The competition is so harsh that the good stuff cannot bubble to the top. - Der Wettbewerb ist so hart, dass die guten Stoffe nicht nach oben kommen können.Darum geht das neue Modell auch nicht mehr von der einfachen "Ansteckung" aus, sondern differenziert vom Virus. Untersucht also auch, wie viel wir in unserem Stream an Meldungen sehen, bevor wir lieber passiv teilen, als selbst aktiv eine neue Meldung produzieren. Die Forscher wollten auch wissen, warum die erfolgreichsten Meme eigentlich erschreckend gewöhnliche Dinge sind und warum selbst kritische Geister oft darauf hereinfallen. Sehr lesenswert der Artikel, hier im Link:
You don’t have to assume that the reason why junk spreads is because people like it or because they can’t tell the difference,” Menczer explains. “You could assume that people do know the difference, and still the fake stuff would go viral, simply because of information overload.Ein Minimalmodell, dass natürlich auch viele Fragen offen lässt. Und in dem eine Frage nicht bedacht wurde: Wenn die Verbreitung von Fake Stories so viel mit Überforderung und Überfülle zu tun hat, wie verhält sich das dann im Zusammenhang mit Emotionen? Die Frau, die zu viele Erinnerungen hat, lässt grüßen! Und wird das nicht vielleicht sogar dadurch verstärkt, dass wir fähig sind, auch Erinnerungen zu fälschen?
Und wenn man Emotionen dazukippt?
Die Probleme lassen sich im Moment hervorragend am Beispiel des Themas G20-Gipfel in Hamburg aufzeigen. Zwar halten sich echte Fakes je nach Filterblase in Grenzen, aber was genau haben wir bei dem Stichwort im Kopf? Erinnern wir uns an die Themen, über die beraten wurde? Haben wir eine Ahnung, was genau im fünfzehnseitigen Communiqué am Ende stand? Was fand statt, wenn Trump nicht dabei war und für Schlagzeilen sorgte? Gab es überhaupt friedlichen Protest? Gab es vielleicht sogar kreativen Protest?Wer sich diese Fragen selbst ehrlich beantwortet, wird erschrecken, wie unsere Erinnerung an ein Ereignis, bei dem die meisten nicht einmal selbst dabei waren, völlig anders sein kann als die unseres Gegenübers, ja selbst anders als die Realität!
Die meisten haben sich zuerst in Social Media ein Bild gemacht, ein Bild von vielen möglichen. Denn es war abhängig von den Menschen, denen wir folgen oder die bei Hashtags und Topmeldungen nach oben gespült wurden. Das Gute kommt selten nach oben, sagt die eben erwähnte Studie. Es waren die Bilder von Gewalt, von brutalen Demonstranten wie knüppelnden Polizisten, die alles überstrahlten. Und da kommt eine Überforderung ins Spiel, über die mMn viel zu wenig gesprochen wird: der emotionale Overflow. Hass, Frust, Trauer, in Wechselduschen mit Herzelchen-Geknuddel und Katzenschmalz - was macht das eigentlich mit unseren Alltagsemotionen und unserer Fähigkeit, tiefe Gefühle zu entwickeln?
Eine skandinavische Studie hat Studenten in Tagebuchform befragt: Auch wenn ein größerer Teil Social Media eher als positiv und unverzichtbar erlebt oder fast bis zur Sucht kommt, zeigt etwa ein Fünftel von ihnen bewusste Probleme mit der eigenen Abhängigkeit und unguten oder überraschenden Gefühlen, die durch den Konsum entstehen. Die Plattformbetreiber nutzen Emotionen längst, um ihre "Laborratten" zu manipulieren. Als Twitter plötzlich Herzchen einführte, war der Aufschrei groß. Und tatsächlich stand dahinter die Absicht, Menschen über die Endorphinausschüttung an das Medium zu binden. Glaubt man einer Studie über Wetter-Posts, so scheinen positiv oder negativ abgefasste Beiträge sogar unsere Emotionen zu nivellieren: Wir schließen uns einer vermeintlichen Mehrheit an. Weil die Mehrheit schlechtes Wetter negativ kommentiert oder negative Emojis anklickt, kommen wir seltener auf die Idee, Regen zum fröhlichen Tanzen zu finden. Kommt zum Overflow der Emotionstrigger also auch noch eine zusätzliche Verflachung der Emotionen durch Anpassung an die Mehrheit?
Wie die Ratten im Hirnforschungslabor
Wie gefährlich das sein kann, haben wir schon wieder vergessen. Es ist erst drei Jahre her, da sorgte ein Experiment bei Facebook für einen kurzen Aufschrei. Schlimm war nicht gewesen, dass jemand Social Media für Studien benutzte, sondern dass für ein Experiment die User nicht nur im Dunklen gelassen wurden, sondern dafür eigens die Newsfeeds von fast 700.000 Menschen manipuliert worden waren. Kostenlose Laborratten also, denen man nicht einmal mitteilte, dass sie Teil eines Experiments waren. Und bei dem ging es um Emotionen. Man wollte herausfinden, wie sich Emotionen durch große Bevölkerungsgruppen "übertragen" ließen. Die User bekamen wechselweise positive und negative Emotionen zugespielt. Der manipulierbare Bürger: Willst du eine Revolution, bring ihn in Rage - willst du Verkäufe anheizen, umherze ihn! Als ein anderes Experiment von Facebook im Jahr 2010 sich mit Wahlverhalten beschäftigte, war zumindest in der Wissenschaftssphäre die Diskussion da: Wenn unsere Emotionen derart manipuliert werden und manipulierbar sind, müssen wir endlich über ethische Regeln reden - die New York Times berichtete. Auch bei den letzten US-Wahlen ist die Rolle von Facebook umstritten.Da sitze ich also, schaue mir Cab Calloway via Social Media an - und empfinde fast nichts. Jetzt müsste nur jemand die Aufnahme einbetten in einen extrem emotionalen Beitrag, der entweder Hass erzeugen soll oder Wohlgefühl. Würde ich diesen Beitrag schneller und unbedachter teilen, weil ich das Lied kenne? Würde ich den Beitrag vielleicht besonders unkritisch teilen, weil mir in all meiner Medienüberforderung und der Verflachung der Emotionen endlich wieder ein Gefühl versprochen, vielleicht sogar vermittelt wird? Ist die stinkige Laune für manche vielleicht besser als das Nichts? Und ab wann wird sie Mainstream, weil sie im Echoraum viel lauter hallt als jedes Lied?
Welche Strategien kann ich eigentlich entwickeln, um mich vor solcher Manipulation und Abhängigkeit zu wappnen? Und welche, um mein Fühlen intakt zu halten?
Und die Blues Brothers?
Es gab da eine Möglichkeit für mich: Ich habe all die Tabs geschlossen bis auf einen und erst einmal abseits vom Computer meinen eigenen Erinnerungen nachgefühlt. Wie war das damals, als ich die Blues Brothers zum ersten Mal im Kino sah? Wie roch das Popcorn, wie fühlte es sich an, als alle Leute mitwippten? Mit all den Erinnerungen im Kopf habe ich mir dann das youtube-Video noch einmal sehr aufmerksam angeschaut. Ohne mich von irgendetwas ablenken zu lassen. Und da war es wieder da, das Feeling! Es klappte wieder mit den Emotionen!Wer nach diesem Artikel übrigens das "Hidehidehi und Hidehideho" nicht mehr aus dem Kopf bekommt, ist Opfer eines Tricks geworden. Denn auch trocken wissenschaftliche Artikel transportieren sich leichter über Emotionen und Erinnerungen. "The Hide De Ho Man" Cab Calloway hat diesen seinen Markennamen zeitlebens nicht losbekommen und von diesem Kult lebt schon die Szene in den Blues Brothers. Und wenn wir das jetzt singen, erinnert es uns vielleicht daran, wie faszinierend und auch frech eigenständig unser Gehirn funktioniert, wie es bei einer Übermenge von Reizen aber auch verführbar wird. Hi de ho!
Von diesem Effekt freikaufen kann man sich leider nicht. Aber gern etwas in die Kaffeekasse spenden, wenn einem der Artikel einen geistigen oder emotionalen Gewinn brachte ... oder das Gehirn einfach mal wieder trainiert wurde, denn meines hat dafür geschafft:
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