Armaggedon TV

Ich liebe ARTE. Als Grenzgängerin im französisch-deutschen Raum sowieso. Ohne ARTE und ein paar wenige andere Senderausnahmen müsste ich auf meinem Fernseher Videos anschauen - vor allem abends, wenn mir nach einem anstrengenden Tag mit Medienbeschuss und Schreiberei nach Entspannung zumute ist.

Ist der Mensch eine Zecke, die sich selbst anzeckt?
Ich schalte also gestern zum verspäteten Abendessen die Glotze ein und bekomme auf ARTE ein buntes Menu serviert: Giftgasreste im Meer bedrohen unsere Zukunft und eigentlich kann keiner wirklich was machen / macht wirklich was. Nach dieser mächtigen Vorspeise kämpft man im etwas leichteren Hauptgericht ein wenig in den Metropolen um menschenwürdiges Leben und steigert sich, quasi als Fleischgang, zum globalen Hunger. Ist auch diese Sau durch den Kanal getrieben, gibt's ein Dessert mit "Folter made in USA". Aber da ist dann schon fast Mitternacht ... wer so viel Weltuntergang in so wenig Stunden durchgehalten hat, muss besonders tough sein. Da macht ein bißchen Folter nicht mehr wirklich etwas aus.

Ich bin nicht tough. Ich habe schon vor der Vorspeise umgeschaltet. Ich habe es nämlich satt. Nicht, dass ich mich nicht für das Leid auf diesem Planeten interessieren würde oder kritische Dokus nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil! Aber ich mag mir die in Häppchen anschauen, weil sie als Eintopf serviert ihre Wirkung verlieren. Nach spätestens drei zukunftsbedrohenden Szenarien bin ich abgestumpft. Ich mag mir solche Dokus anschauen, wenn ich nicht gerade mein leckeres Abendmenu verspeise, denn so ein Körper braucht auch hingebungsvollen Genuss, wenn er denn die Zukunft erleben will. Ich lese mich den ganzen Tag über durch die Medien dieser Welt, bin fast live in der Ukraine bei der Revolution dabei oder wenn irgendwo Hunderte sterben. Irgendwann brauchen Körper, Seele und Geist eine Auszeit, um wieder zu sich zu kommen, um alles sacken zu lassen, um den nötigen Abstand zu gewinnen.

Ja, ich habe dieses geballte Armageddon-TV langsam gründlich satt! Was bleibt nach so einem Marathon, ist kaum nachwirkende Aufklärung. Wer bitte kann zwischen Giftgas-Zeitbomben, Metropolenkämpfen, weltweitem Hunger und Folter noch klar denken? Wer kann da echte Bewusstheit entwickeln für ein Thema, das allein schon fast zu groß ist, um es zu begreifen? Oder ist das alles nur noch Attitude: "Hab mir wieder drei Gruselzukunftsdokus reingezogen und bin echt noch gut drauf!" - "Alter Sack, verträgst wohl langsam nichts mehr, ich hab mir noch ne Doku bei youtube über Tierquälerei zusätzlich runtergeholt!" - "Geil. Und dazu die Show mit dem veganen Essen ... das muss man erst mal schaffen ..."

Dabei gibt es zwei Alternativen: Zurück zur Null-Bock-Bewegung. Die war in meinen jüngeren Jahren mal hip, als die Jugendlichen keinen Ausweg mehr aus der Misere sahen. ... Depressionen sind die neue Volkskrankheit, heißt es heute. Kein Wunder: So ein Fernsehabend haut einen effektiver runter als das Gesamtwerk von Chopin. So viele Baustellen: Die Welt ist schlecht, der Mensch noch schlechter, homo homini lupus und ich selbst bin ja auch so schlecht, weil ich bei dem Kram mitmache und schweige und nichts tue und immer noch nicht vegan lebe und dem Bauern vom Nachbardorf seinen Mais nicht kaputtmache. Er ist aber halt immer noch der Bauer von nebenan. Der Nestléboykott einer Freundin unlängst endete in Hungergeschrei. Zu viel gehört denen schon, wer boykottieren will, mus selbst anbauen und Kühe halten. Aber wenn der Boden doch auch verseucht ist und die Luft ... und das Leben überhaupt ... nicht mal in den Krankenhäusern ist man mehr sicher und so viele Bestatter hauen einen ums Ohr. Die Welt ist doch echt am Ende, oder?

Ich war in meinen jungen Jahren unter der sogenannten Körnerfresserbewegung und in der Friedensbewegung. Wir sind auf die Straße gegangen und haben uns richtig praktisch, vor Ort, mit vollem Körpereinsatz engagiert. Vielleicht, weil man uns nicht fast täglich die gesammelte Merde der Menschheit im Fernsehen um die Ohren gehauen hat. Wir haben nämlich noch Hoffnung gehabt. Wir konnten ein winzig kleines Lichtlein am Ende des Tunnels erahnen. Wir spürten noch mit vollem Körpereinsatz, dass wir etwas bewirkten. Und wenn es lächerlich kleine Ergebnisse waren. Dafür haben wir gekämpft.

Natürlich klärten wir uns auf. Wir lasen eine Menge Bücher, Flugblätter, Spezialzeitschriften. Vor allem aber verschlangen wir alles, was Visionäre und Zukunftsdenker von sich gaben. Es reichte nicht, auf die Straße zu gehen, sich bei Körnerfraß als besserer Mensch zu fühlen oder besonders tough besonders gruselige Artikel auszuhalten! Wir waren damals verrückt auf unsere Fantasie und Kreativität: Gebt uns eine Scheiß-Welt und wir überlegen, wie wir sie ein kleines Stückchen besser machen können! Stellt uns vor Scheiß-Politiker und wir gehen selbst in die Politik und zeigen denen, was eine Harke ist! Und wählen gehen wir sowieso und zwar so, dass die Ultras keine Chance haben. Jammert euch einen ab und wir testen mal durch, ob es nicht auch anders geht ... ohne zu wissen, wie das perfekte Maximum aussehen könnte, ohne diesen Zwang, ein möglichst großer Moralapostel zu werden. Ganz tief da unten im menschlichen Dreck herumprobieren. Und dazu stehen, wenn's scheitert. Weiterwühlen. Als Mensch mit Fehlern.

Heute scheint kaum noch jemand für die wirklih wichtigen Themen auf die Straße zu gehen. Wir geben uns die tägliche Dosis Gerechtigkeitsschlaf in Gutmenschenmanier und diskutieren beim kurzzeitigen Aufwachen, ob man "Gutmensch" noch sagen darf oder nicht. Sobald wir einen politisch korrekteren Begriff gefunden haben, dösen wir weiter. "Die Hölle, das sind die anderen", hat schon Sartre gesagt. Auswege? Grundlegend neues Denken? Visionen wagen?

Wie bitte das denn, nach so einem Abend Lähmungs-TV? Ist einem da nicht eher nach Wortbombenabschmeißen? Brandreden legen? Man kann so herrlich solche Links teilen und sich aufregen dabei. Füße hoch, Pantoffel an, das neue Horror-Genre im Armageddon-TV. Da fühlt man sich beim Bier endlich wieder wie ein ganzer Kerl. Und denken muss man auch nicht mehr, das machen ja die Redakteure so vorbildlich für einen. Ändern kann man sowieso nichts. Nicht nach vier Gruselproblemen am Stück. Auch in einem dunklen Tunnel kann es bekanntlich heimelig und gemütlich sein.

Anmerkung der Redaktion: Die Fähigkeit, das selbst herauszufinden, soll laut neuesten Studien massiv verlorengehen. Denken Sie sich bitte darum in diesem Beitrag öfter einen Zynismusalarm, kleine lustige Ironieglöckchen und bitter schwarzen Humor.

PPS: Falls ich jetzt ARTE inhaltlich bzgl. der genannten Sendungen Unrecht getan habe und sie gaaaaanz anders waren, entschuldige ich mich. Ich habe sie dank der Katastrophenankündigungen ja nicht angeschaut.

PPPS: Ich ärgere mich über meine Rechtschreibung, aber Titel lassen sich nicht editieren. Man kann mit dem altgriechischen Harmagedon schon mal durcheinanderkommen, wenn man es mit Katastrophenfilmen kreuzt. Muss natürlich heißen: Armageddon!

2 Kommentare:

  1. Gut auf den Punkt gebracht, liebe Petra! Habe die Ironieglöckchen und den Zynismusalarm deutlich gehört. Alternativen zu den Katastrophen gibt es kaum. Da müsstest du schon bunte Knallfrösche im Allaf-Taumel ertragen oder totgeballerte Krimiprotas. Ich selbst mache den Glotzkasten nur an, wenn es um Reise-und Kulturwege geht, das kommt tatsächlich noch vor, und es entspannt tatsächlich.

    Herzlichst
    Christa

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  2. Na, auf Reise- und Kulturwege sind doch ganze Kanäle abonniert, da kommst du auf deine Kosten, Christa.
    Übrigens schaue ich mir ja durchaus "Armageddon-Dokus" an und empfehle sie auch, aber so geballt ...

    Herzlichst,
    Petra

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