Der schmale Grat des Normalseins

Einen Vorteil hat es, wenn einen der Welpe auch nachts auf Trab hält: Man sieht ab und zu die Filmperlen des spätesten Spätprogramms. Ich war beeindruckt von dem Film Awakenings (dt. "Zeit des Erwachsens", 1990) und der grandiosen Schauspielleistung von Robin Williams, der einmal mehr den etwas wunderlichen Arzt gab, und Robert de Niro als Patient und "Versuchskaninchen". Der Plot hätte geradezu nach einem Roman geschrien, wenn er erfunden worden wäre. Aber der Film basiert auf der Wirklichkeit und jener Dr. Sayers war niemand anderes als der weltberühmte Neurologe, Bestsellerautor und Professor Oliver Sacks. Das ist der Mann, der Sachbücher so grandios und spannend erzählen kann, dass man dafür jeden Thriller wegwirft.

Der Film basiert auf einem seiner Bücher, worin er erzählt, wie er 1969 in einem Langzeitpflege-Krankenhaus in der Bronx mit Patienten in Berührung kam, die im Wachkoma zu sein schienen, völlig katatonisch waren und teilweise Parkinson-Symptome zeigten. Sie befanden sich seit 40 Jahren in diesem Zustand, von dem man nicht wusste, ob sie überhaupt etwas wahrnahmen - allesamt waren sie Opfer der bis heute geheimnisvollen Epidemie der Encephalitis lethargica, die zwischen 1915 und 1926 umging. Oliver Sacks hörte damals bei einem Parkinson-Kongress von einer neuen Droge namens L-Dopa, die zu Dopamin umgewandelt werden kann, und nahm Versuche mit den Patienten vor.


Das Wunder geschah: Die Patienten wachten wie aus einem Dornröschenschlaf auf, mussten 40 Jahre "Wegsein" verkraften und konnten berichten, dass sie Besuche der Angehörigen, die Pflege ... alles mitbekommen hatten. Der Schock, von der Zeit des Ersten Weltkriegs auf 1969 umzuschalten, erfüllte die meisten eher mit Lebensfreude - da war so viel Hoffnung, Lust am Leben, an anderen Menschen. Leider bildet der Körper jedoch Resistenzen gegen das Medikament und höchst unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zu Psychosen, bevor der Patient irgendwann wieder in jenen "Schlaf" verfällt. Robert de Niro spielte das Wunder der "Menschwerdung", das "Aufwachen" in ein normales Leben und den kommenden Zerfall von Persönlichkeit und Körper absolut glaubhaft und authentisch. Mich hat der Film vor allem aus einem Grund beeindruckt: Dieser Arzt war kein eiskalter Forschertyp, für ihn stand der Mensch im Vordergrund. Das, was die Krankheit und die Genesung mit ihm und seinen Angehörigen machte. Jene Frage, was Normalsein sein könnte und die Theorie, dass Menschsein eben auch außerhalb der Normen möglich ist.

Erstaunlich aber war, dass der Film mir etwas über mich selbst erzählt hat. Woher es kommen mag, welche Buchthemen ich mir auswähle (oder wählen sie eher mich aus?). Ich erinnerte mich plötzlich an meine Jugendzeit. Als ich 14 war, bekam ich von einem Onkel ein Abonnement des Reader's Digest geschenkt. Damals in den 1970ern war die Zeitschrift noch etwas Besonderes und versammelte Literaten wie große Journalisten als Autoren. Aufgewachsen in einem recht buchfernen Haushalt, schmökerte ich mich jeden Monat durstig durch das dicke Heft und konnte die nächste Lieferung nicht erwarten. Es gab darin immer wieder Tatsachenberichte aus der Medizin, die mich total faszinierten. Menschen, die irgendwelche absolut unbekannten oder besonders seltsamen Krankheiten hatten, Menschen, die von den Medizinern aufgegeben worden waren. Und dann packte dieser Mensch oder sein Arzt und am besten beide zusammen das Problem auf eine höchst unkonventionelle Weise an ... und da war wieder Leben möglich und ein wenig Glück.

Man kann darüber schmunzeln: Natürlich war das teilweise der typisch amerikanische Wunderschmalz. Aber es gab darin eben auch Geschichten wie die von Oliver Sacks, hinter denen etwas von Tiefe und existentiellen Dingen hervorblitzte. Etwas von dieser Wahrheit, was das Menschsein ausmacht und dass Durchnormierung nicht das erstrebenswerte Ziel sein kann. Ich habe heute Nacht erst wirklich bemerkt, dass mich diese Lektüre derart geprägt hat, dass ich mir immer wieder Menschen auf dem schmalen Grat als Buchfiguren aussuche, auf diesem Grat, wo dem man auf die eine oder andere Seite wegkippen kann.

Ich war zu dumm und zu naiv, als ich meine ersten beiden Romane schrieb, um das zu erkennen. Aber insgeheim lehnte ich mich bereits gegen jene Verlagswünsche auf, nach denen ich doch eher heitere Frauenromane und Liebesgeschichten verfassen sollte. Stattdessen hat mich in "Alptraum mit Plüschbär" (alter Titel: "Stechapfel und Belladonna") meine Hauptfigur Karen auf der Kippe interessiert: Als sie nach langjähriger Ehe urplötzlich verlassen wird, bricht ihre gewohnte Welt zusammen, kommt ihr das Gefühl für Sicherheit abhanden. Zustände, wie sie viele Menschen ereilen, nicht nur nach Trennungen. Wie setzt man sich nach einer solchen Katastrophe wieder zusammen? Wie findet man seinen Platz wieder in der Welt, einer neuen, ungewohnten Welt? Das auszuloten war die Triebkraft, die mich schreiben ließ. Bei Dahlia im "Lavendelblues" war es dann ein ganz aktueller Anlass: Als ich das Buch schrieb, ging die erste wirtschaftliche Krise um, viele wurden arbeitslos, Firmen gingen bankrott. Wie würden sich drei Frauen unterschiedlichen Alters am Rande der Existenzangst bewähren? Könnten sie es schaffen, sich gegenseitig aus dem Sumpf zu ziehen? Was mussten sie leisten, um ihren Traum auch in einer Zeit zu verwirklichen, die gegen alle und alles zu sein schien?

Irgendwann hatte ich mich von Vorgaben und Verlagswünschen befreit. Es war ursprünglich ein Auftrag, etwas über Vaslav Nijinsky und die Ballets Russes zu schreiben - und natürlich siegte zuerst meine Faszination an der Avantgarde und der kulturellen Leistung dieser Compagnie. Wirklich "gebissen" war ich jedoch, als ich das Buch des Psychiaters Peter F. Ostwald, "A Leap into Madness", entdeckte, der minutiös Nijinskys Krankenakten durchforstet hatte. War der Mann wirklich schizophren gewesen, wie alle Welt heute noch behauptet? Woher kamen seine scheinbar psychotischen Attacken? Wie sehr sind "besessenes Künstlertum" und psychische Krankheit tatsächlich verbunden - oder besser gesagt, woher kommt eigentlich dieser Mythos, alle Künstler seien irgendwie verrückt? Sind vielleicht eher die "Normalen" verrückt, weil sie einfach manches nicht kapieren wollen? Wie drückt sich eine Seele aus, der man langsam alle Ausdrucksmittel nimmt? Inwieweit ist Nijinsky auch Opfer der Psychiatrie seiner Zeit geworden? Und dahinter die Frage aller Fragen: Kann es sein, dass manche psychischen Störungen gesellschaftlich und historisch verankert sind ... und also gar keine Krankheiten im eigentlichen Sinne wären? Diesen Menschen hinter der Fassade und dem Starkult wollte ich in "Faszination Nijinsky" sichtbar machen.

Und irgendwie kleben diese Urfragen weiterhin an mir. Wenn ich nach all den zeitfressenden Geldverdienarbeiten endlich zu dem Luxus komme, an meinem nächsten Roman weiterzuschreiben, so wird auch die Hauptfigur darin eine sehr exotische "Beschädigung" haben. Eine Störung, die laut einem bekannten Psychiatriewissenschaftler angeblich im 19. Jahrhundert erfunden wurde und vor dem Ersten Weltkrieg versiegte ... aber es gibt vermehrt Fälle in unserer Zeit und vor allem dort, wo Menschen unter großen Belastungen zusammenzubrechen drohen. Ich möchte in dem Buch einen wahren Fall zeitlich zurückverlegen und eine Geschichte erzählen, die im wirklichen Leben bis heute nie geklärt werden konnte.

In einem Interview hat mich Sandra Matteotti unlängst gefragt, warum ich so viel "Leid und Düsternis" als Thema wählen würde. Ich habe diese Frage damals gar nicht verstanden. Weil für mich all diese Menschen ungeheuer starke Menschen sind. Wenn eine Romanfigur in voller geistiger und körperlicher Gesundheit, vor Jugend und Geld strotzend, am Pool liegt, so ergeben sich daraus für mich Plots, die mich zu Tode langweilen. Nein, mich interessieren die Menschen auf dem schmalen Grat. Dass dann auch "Wassili Schukowski. Romantiker zwischen den Welten" so einer war, ein Schriftsteller, der einen elenden Kampf mit dem Leben kämpfte ... das ist reiner Zufall, ich schwöre. Der Vortrag, auf dem das Buch basiert, war ein Auftrag. Aber vielleicht ist das schon lange kein Zufall mehr, dass auch Auftraggeber meine Sensibilität für ein Thema nutzen?

Lesetipp:
Interview mit mir in "Denkzeiten"
Leseprobe "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos"

2 Kommentare:

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    I'd like to ask if you do not mind. I was curious to know how you center yourself and clear your thoughts before writing.
    I have had a difficult time clearing my mind in getting my thoughts out.
    I do enjoy writing but it just seems like the first 10 to 15 minutes are wasted
    simply just trying to figure out how to begin. Any suggestions or hints?
    Thanks!

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  2. Thank you for the compliment. It's difficult to answer, because everyone has to find an own way, people are so different.
    Well, I write professionally, will say - I just start and do it. Sounds too easy, but a certain regularity and fixed hours can help. I start even if I am not in a mood and it could become trash. If I write trash, I can edit my texts later, improve them.
    Writing longer texts or books I make a plan before. And I have "micro plans": Before I end my work in the evening, I write down what I have to do on the next morning. So I know where to start.

    To get your thoughts out - it often helps, if you don't put so much pressure on yourself. If you sit down and think "I have to write the perfect text right now" it could kill the text before it is born. Take a notebook with you, where you can note even nonsense, thoughts beyond thinking too much. Play around, be crazy, make experiments in your notebook. And use it for your text-work.

    If nothing works, I go out into nature or work with my hands. Breaks are important, too.
    Hope something could help you!

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