Endlich bin ich wieder Mensch!
Endgültig abwärts geht es an dem Tag, an dem man beschließt: Erst mal genug recherchiert, nun wirf Schrift auf die erste leere Seite und entwirf das erste Kapitel! Alte Hasen wissen, dass es nicht nur um ein Kapitel geht, sondern um die gesamte Konzeption, den Atem des zu Erzählenden, die Kunst, den Leser sofort in eine andere Welt hinein zu ziehen. Ungefähr so muss sich Gott gefühlt haben, als er noch nicht wusste, dass er am siebten Tag endlich ausruhen kann. Da soll man also mitten im Nichts ein Tohuwabohu ordentlich scheiden und sagen: "Es werde Text!" Größenwahn befällt mich, ich bin mir absolut sicher, wenn ich nur diszipliniert genug beginne, wird aus einem genialischen Traum ein völlig neuer Kosmos. Wie mit Blitz und Donner werfe ich meine Ideen auf die Seite. Und erstarre.
Was dabei herauskommt, bringt allenfalls die Götter zum Weinen. Man sollte meinen, angesichts der schöpferischen Ewigkeit sei ein Jahrhundert nichts. Eine Handvoll Menschlein sollen sich in einer einzigen Straße bewegen und lebendig werden - und ich schaffe noch nicht einmal einen von ihnen. Wie ein hölzerner Golem stakst die erste Figur über die Seite und verliert im Affenzahn ihre jämmerlichen Lumpen. Ich tauge nicht einmal als Demiurg. Von wegen "schöpferische Arbeit", das ist Fegefeuer pur! Denn jetzt erkenne ich, was ich alles nicht weiß, nicht kann, vielleicht nie lerne. Im gleichen Ausmaß, in dem dieser Rohentwurf wächst, schrumpfe ich zusammen. Sind wir Schriftsteller vielleicht nur Zecken, die sich an den Buchstaben anderer vollsaufen und im falschen Moment vom Wirt plumpsen: fett, unbeweglich, zu keiner Eigenbewegung mehr fähig?
High-Tech-Vorbereitung für einen Spaziergang (zum Vergrößrn anklicken) |
Dieses Mal habe ich Monate gekämpft, während ich äußerlich wie der Teufel recherchierte (verrückt, was ich über das 19. Jahrhundert alles nicht weiß), großspurig von meinen Ideen herumschwärmte (kostet ja nichts), mich mit allem Möglichen ablenkte (angeblich verschaltet das Synapsen leichter) und gleichzeitig versuchte, einen wahren Moloch zu bändigen.
Vorsatz: Ein literarisches Sachbuch, kundig und trotzdem locker zu lesen. Verwendbar als Reisebuch, um die Handlungsorte in der Realität abzuklappern. Lesbar auch ohne räumliche Fortbewegung, als eine Reise durch die Geschichte, zwei Jahrhunderte nur, als einen Ritt durch Literatur und Kultur. Ein Buch über Deutsche und Russen und andere Europäer. Ausgerechnet über die schlimmsten Kriege und Abgründe der Zeitgeschichte hinweg von Napoleon bis Hitler. Und weil mir das in Sachen Komplexität nicht reichte: Ein Buch für zwei Nationen.
Die Sache mit dem Zielpublikum ist besonders heikel, denn das Buch soll recht zeitnah auf Russisch übersetzt und auch in Russland verkauft werden. Meine russische Freundin und Übersetzerin kann wahrscheinlich bald ein Witzbuch über mich schreiben, über meine Unsicherheiten und dummen Fragen. Wie lesen Russen? Was interessiert sie besonders? Worauf springen sie an, was berührt sie nicht? Wie muss ein russischer Text "funktionieren"? Welche kulturellen Unterschiede gibt es womöglich im Texten? Sie lacht dann immer und stellt mir die Gegenfrage mit dem deutschen Zielpublikum. Selten habe ich so viel über Leserinnen und Leser nachgedacht und womöglich gelernt. Bis ich auf den Trichter kam: Der Mensch reagiert grundsätzlich über Bilder, Sinneseindrücke und Gefühle. Aber so weit war ich doch mit meinem Elsassbuch schon einmal? Anspruchsvoller wird mein ausländisches Publikum sein - aber erhoffe ich das nicht auch von meinem deutschen? Letzterem kann ich ja viel erzählen über die berühmten Russen, die Schulkenntnisse sind nur rudimentär. Aber auf der anderen Seite lauert eine Schulbildung, die ich bestaune. Ich bin dabei, mir einen richtigen Stab von Beratern und Kritiklesern zu bilden, von der deutschen Bibliothekschefin bis zum russischen Professor. Allein ist so etwas nicht zu stemmen. Ist Schriftstellerei auch die Kunst, zum eigenen Leser zu werden?
Und so saß ich also über den ersten hölzernen fünf Seiten und wollte gestern wieder einmal alles wegwerfen, wollte aufgeben, schalt mich für verrückt, das Projekt für zu komplex. Ich schaffe das nicht. Und wenn ich mich noch so blamiere, weil ich überall von dem Projekt herumtöne.
Das ist gewöhnlich der Moment, wo ich sogar körperlich leide und mich wie unter einem unmäßigen Kater an den Computer schleppe und mich im Geiste ankette. Die heilige Disziplina schwingt ihre Geißel. Du verlässt das Gerät erst, wenn du diesen Humbug sortiert hast! Ich lege erst einen kleinen Hammer und einen Meißel an, kratze mit der Feile mal hier mal da. Irgendwann habe ich die Nase voll und greife zur Axt. Kill your darlings? Könnt ihr haben! Und zack! Am liebsten würde ich die Axt auch noch gegen mich selbst richten. Schließlich war ich es, die diese absolut bekloppte Idee für den Einstieg hatte.
Ich laufe in Baden-Baden durch die Sophienstraße, um 1830 der erste Boulevard der Stadt. Aus dem Recherche-Overflow im Hirn blinken immer wieder zwei Namen auf, völlig zufällig, ohne scheinbaren Grund: Der damals größte russische Dichter Wassilij Schukowski, Begründer der Romantik, Monarchist aus tiefster Überzeugung, im einen Haus. Im anderen einer der berühmtesten deutschen Dichter des Vormärz, Republikaner und Revolutionär aus ganzem Herzen: Georg Herwegh. Die Dramaturgin in mir murmelt etwas von Protagonist und Antagonist. Aber sollte ich nicht ein Sachbuch schreiben? Konnte man zwei derart extrem unterschiedliche Menschen zusammenbringen, nur weil sie in der gleichen Straße gewohnt hatten?
Man kann. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich real durch die Straße gelaufen bin (durch die ich schon seit der Schulzeit immer wieder gehe). Schließlich habe ich sogar die Häuser abfotografiert, um am Schreibtisch jene Gefühle wieder hochholen zu können. Ich habe die Straße mit den Augen von Zeitgenossen besucht, habe sie durch die Reiseführer des 19. Jahrhunderts angeschaut.
Und dann ist es passiert. Dieses Wunder, dass eine Schriftstellerin wieder zum Menschen macht: Die Figuren beginnen zu leben. Sie entwickeln ein Eigenleben. Herwegh trifft sich mit Turgenew und Bakunin und Georges Sand. Schukowski trifft sich mit Leuten, die wieder mit diesen Kreisen zu tun haben könnten. Der Verleger Cotta macht Reibach mit seinem Luxushotel, Nikolaj Gogol ist immer wieder da und seine Texte werden in Karlsruhe verlegt, seine berühmt-berüchtigte Muse nistet sich in einer Villa am Hang ein. Ein anderer Dichter geht bei Schukowski aus und ein und teilt sein Schicksal mit ihm: Beide leiden fürchterlich daran, dass sie bald völlig erblinden, der Russe wie der Deutsche Justinus Kerner, den ersterer übersetzen wird.
Aus einem rohen Steinklotz wachsen plötzlich erkennbare Formen. Ich höre das Sprachgemisch auf dem Boulevard, wo heute noch die gleiche Baumsorte wächst wie damals, ich höre die Kutschen übers Pflaster rattern, rieche den Duft der Schönen. Ich lache über die zeitgenössischen Restaurantkritiken eines Engländers, der die badische Küche für völlig überbewertet hält und von Beutelschneiderei spricht. Und ich spüre die Angst vor der Cholera, die zum ersten Mal in der Geschichte Europa erreicht, rieche den Brandgeruch der Revolution. Iwan Turgenew wird sich mutig das Gemetzel von der Yburg aus ansehen. Schukowski, der längst ausreisen wollte, wird sich wie ein Gefangener fühlen und heimwehkrank sein Exil bis zum Tode verfluchen.
Sie leben, die Figuren, mit denen ich monatelang maßlos gerungen habe. Und ich bin heute zum ersten Mal zufrieden, weil nun ein Text vorhanden ist, an dem ich nur noch kratzen muss. Endlich habe ich genügend in der Hand, um diese Welt so zu backen, dass sie keine Kanten mehr hat, sondern verführt. Es ist absehbar, dass ich nach zig Schnitzereien jenen Ton verinnerliche und ein tragfähiges Konzept habe. Nach schätzungsweise zehn harschen Redigiervorgängen werde ich täglich ein Stück weiterschreiten in der zu erzählenden Geschichte. Bis hierher habe ich viel geschaffen und doch wenig geschafft: elf Seiten in ein paar Monaten. Und währenddessen muss ich überall hören und lesen, dass man doch mehr als ein Buch im Jahr schaffen muss, will man ein richtiger Schriftsteller sein.
Sehr offen, sehr ehrlich - und letztendlich ein ganz normaler Prozess!
AntwortenLöschenIch halte nicht viel von Ratgebern wie "Ihr e-Book in 7 Tagen", "Schreiben Sie einen Roman in 30 Tagen" oder "Schreiben Sie eine Dissertation mit einem Zeitaufwand von 15 Minuten pro Tag".
Ein sehr sympathischer Artikel, der mir aus der Seele spricht - obwohl ich keine Romane, sondern andere Publikationen schreibe. Letztendlich sind die damit verbundenen Herausforderungen aber wohl immer dieselben!
Und von anderen sollte man sich so und so nicht unter Druck setzen lassen.
Weiterhin gutes Gelingen!
Herzlichen Gruß, Huberta Weigl
Liebe Huberta,
AntwortenLöschenich habe kürzlich erst irgendwo eine Bemerkung gelesen nach dem Motto, Schriftsteller, die in Armut lebten, sollten sich nicht wundern, wenn sie drei Jahre an einem einzigen Buch schrieben ...
Übrigens geht's hier auch nicht um einen Roman, sondern um ein erzählendes Sachbuch ;-)
Und was den Druck betrifft, der wird dann gigantisch werden, wenn der erste Sponsor anbeißen wird, denn dann arbeite ich mit Fremdgeld, auf Vertrauensbasis. Das ist völlig neu für mich und fühlt sich doch anders an als ein Verlagsvorschuss. Und um die Sponsoren zu finden, muss das erste Kapitel wenigstens in anschaulichen Teilen stehen. Drum kann ich die guten Wünsche bestens brauchen!
Schöne Grüße, Petra