Ein Jahr der Heilung

Die gestrige Nacht fühlte sich gespenstisch an in unserem Dorf. Irgendwo weit weg am Berghang, Richtung Stadt, böllerte irgendwer. Unverbesserlich. Ansonsten: Stille, absolute tiefe Stille, denn es gab ja auch nicht mehr den Verkehr auf den Straßen, wo man sich bisher gute Aussichtspunkte suchte, um das Feuerwerk zu betrachten. Selbst bei den Nachbarn, die sonst wahre Freudenfeuer abzünseln, herrschte Totenstille. Die Ausgangssperre ab 20 Uhr verhinderte ein weiteres Ritual: mit den Sektgläsern nach draußen gehen und auf der Straße mit ihnen und allen möglichen weiter weg wohnenden Leuten anstoßen, sich Gutes wünschen ... Ich habe meine Nachbarn seit vor Weihnachten nicht mehr gesehen. Das Schmuddelwetter hält uns drinnen.

 

Wie wird die Zukunft? Die Karten können viel reden. Ob wir lieber kleine oder große Brötchen backen, haben wir selbst in der Hand.

 

 

Ich bin ein Mensch, der wegen der Tiere das Geböllere eigentlich nicht abkann, aber dann doch gern wie ein kleines Kind angesichts der bunten Farben Ah und Oh ruft. Die Pro-und-Contra-Diskussionen in Social Media, die sich allzu schnell erschöpfen in einem Dualismus von Selbstgerechtigkeit versus unreifem Trotz, führen nicht weiter. Und sie erinnern manchmal fast rührend daran, wie ungern viele akzeptieren, dass Menschen an sich fehlbar, fehlerhaft und unvollkommen sind. Auch wenn manche sich gern in der Illusion wiegen, es sei irgendwann die totale Sicherheit, das totale Wohlverhalten zu erreichen, das totale Miteinander: "Total" bedeutet eben Totalitarismus, Faschismus - der von allen Seiten kommen kann.


2021 - in meinen Augen wird es jetzt Zeit, auch die eigenen Narrative kritisch zu analysieren und zu ändern. Wir leben in einer Umbruchzeit, in der wir uns fragen dürfen, wie wir positiv und konstruktiv mit all dem "Gemenschele" umgehen wollen. Mit der Tatsache, dass wir eben keine Göttinnen und Götter sind, sondern einfach nur Säugetiere mit ein paar faszinierenden Eigenschaften und dem freien Willen auch zum Bösen. Mit Sozialverhalten, das manchmal vorbildhaft ist und manchmal vollends nicht einmal an das eines Steins heranreicht .... und jeder Menge Farbtöne und Facetten dazwischen. Eben weil wir so unterschiedlich sind und nicht totalitär genormt, können wir voneinander lernen, uns gegenseitig inspirieren und das ein oder andere nachjustieren. Wenn das viele machen, machen es viele nach.


Gestern in der stillen Nacht merkte ich, was fehlte. Dieser Silvester sollte sich ja nicht anfühlen wie eine stille Weihnacht. Ich hatte das Bedürfnis, dieses grausame Jahr massiv in den Hintern zu treten, es im Reißwolf zu schreddern. Nie hatte ich solche Lust, es mit Feuergewalt und einem großen Knall symbolisch weg ins All zu schießen. Vernunft allein nährt nicht unsere Seele. Auch Säugetiere pflegen Rituale.


Umbruchszeit: Wir können neue Rituale finden. Uralte wieder ausgraben. Oder ganz persönliche pflegen: den Übergang ins neue Jahr kann man auch einfach verschlafen! Früher hier auf dem Land haben sie die bösen Geister ausgetrieben, mit viel Lärm und Feuerkraft. Es gab laute Rätschen, die man in der Hand drehte, die Bauern knallten mit Peitschen auf der Straße. Man rasselte die Geister weg. Und dann wurden Haus und Hof und Ställe fein ausgeräuchert, mit Kräuterbündeln, die man zur Erntezeit getrocknet hatte. Feuerwerk dagen ist in unseren Breiten ein recht neuzeitlicher Brauch.


Ich frage mich was wäre, wenn wir unsere so bunte Vielfältigkeit einfach akzeptierten, mitsamt unseren Schwächen, unserem Hang zur Nichtperfektion. Wir hätten jede Menge Energie übrig! Wer sich nicht ständig selbst kasteit mit dem Streben nach irgendeinem neuen Trend von Perfektion, von positivistisch hohlem "alles wird gut", der wird auch nicht so schnell enttäuscht, wenn das Bestreben nach Veränderung mal in die Hose geht. Einfach weitermachen - es noch einmal anders versuchen.


2020 hat uns gezeigt, wozu die Menschheit wirklich fähig ist: Sie hat sich in einer faszinierenden Weise global vernetzt, um in einem Affenzahn und irrsinnigen Anstrengungen gegen einen Virus zu kämpfen, der übler unter uns haust, als wir das anfangs glauben mochten. Denn er verursacht auch Nebenwirkungen für unsere Leben, wenn wir ihn nicht bekommen. - Natürlich gab es auch immer wieder die Unvernünftigen, die Unsozialen, die Egoisten, die Nationalisten, die Fundamentalisten - aber sind sie wirklich die laute Mehrheit, als die sie sich gern gebärden? Studien sprechen eine andere Sprache.


Es erinnert mich an einen Katastrophenfilm. Plötzlich greifen Killertomaten oder Rieseninsekten an, ganze Länder sind bedroht. Nur gemeinsam kann die Menschheit überleben. In jedem dieser Filme gibt es der Spannung wegen die Antihelden. Wir alle kennen diese Typen: Es sind diejenigen, die Rettungsaktionen zerschießen, die egomanisch andere Leben aufs Spiel setzen, andere im wahrsten Sinn des Wortes verrecken lassen und dabei womöglich lachend zuschauen. Menschen haben alle Seiten in sich und darum haben sie eine Wahl. Und deshalb gibt es im Film dann die wahren Heldinnen und Helden. Sie riskieren selbst ihr eigenes Leben, um andere zu retten. Sie haben die zündende Idee, wie man miteinander Lösungen findet und mutig Ungewöhnliches ausprobiert. Keiner würde heute mehr wie in den 1950ern mit dem Militär gegen die Killertomaten losgehen. Daraus haben wir gelernt, der kalte Krieg ist vorbei. Heute kämpfen wir subtiler, in Krankenhäusern und in Laboren.


Es gibt unter Autor:innen den Spruch, wenn man ein noch so fantastisches Szenario erfindet und beschreibt, im Film oder Buch, könne es Wirklichkeit werden. Natürlich ähnelt die Wirklichkeit weniger einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn Science Fiction irgendwann Alltag wird, dann lediglich deshalb, weil sich Fantasie an der Realität entzündet und manche Leute einfach extrapolieren können. Viele Schauergeschichten, Horrorfilme und Dystopien erfüllen sich jedoch nie: Weil Menschen lernfähig sind, zu verhindern wissen, Fakten analysieren können. Und dazu brauchen sie Freiraum im Kopf. Einen Freiraum, in dem es ruhig und friedlich ist und wo Hoffnung keimt.


Ich bekam heute auf Twitter einen mit, der sehr typisch ist für die selbstgerechte Sorte der missionarischen Eiferer. Ich kann die nicht ab, muss ich zugeben. Der nölte also schon am ersten Tag des Jahres los, alles sei schlecht, zig Katastrophen dräuten über uns, die Menschheit sei schlecht und das Ende nah. So einen möchte ich immer fragen, warum er sich den Weg bis dahin eigentlich überhaupt noch antut. Voyeurismus? Feigheit? Tanz auf dem Vulkan? Ich weiß es nicht, wie ein Leben sich anfühlt, wenn man alles Sch... findet, einschließlich der eigenen Spezies.


Diese hat eine Menge Evolution hinter sich und ist noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt. Wir sind genausowenig "fertige" Geschöpfe wie Meeresschnecken oder Störche, Käfer oder Elefanten. Da geht noch was.


Der klitzekleine Teil, den wir selbst in der Hand haben, ist machbar. Das haben wir 2020 gesehen. Wir können, wenn wir wollen. Manchmal muss uns vielleicht auch nur jemand erst mal in den Hintern treten, damit wir ihn hochbekommen. Wenn wir einigermaßen den Kopf frei haben von Virusbedrohung - und auch währenddessen schon, können wir all die anderen drängenden Probleme angehen, die wir auf der Erde verursachen. Darin ist unsere Spezies leider Weltmeister. Aber wir kennen die Probleme inzwischen.


Und jetzt kommen wieder die Dauernörgler, denen das alles nicht schnell genug geht. Die den Perfektionismus suchen, den großen Riesenknall an Silvester, mit dem eine Epoche stirbt und eine andere kommt. Dieser Superböller ist eine Illusion. Selbst die großen Revolutionen haben lange gebraucht, sind zwischendurch ins andere Extrem gekippt, bis die Menschen sich wieder berappelt hatten, neu nachdachten, anders handelten. Es gibt den Superböller nicht und es gab in diesem Jahreswechsel plötzlich kein gemeinsames Ritual mehr.


Früher, als sie rätschten und rasselten und räucherten, hatte das Ritual einen Aspekt, der uns heute fehlt: Es ging ums Wahrnehmen dessen, was im vergangenen Jahr krank machte, auslaugte, Existenzen zerstörte, was erschöpfte - und die Heilung danach. Wir haben heute das magische Denken abgelegt, dass ein paar brennende Kräuter die Kuh gesund halten könnten oder Glück ins Haus brächten. Aber Menschen sind lernfähig, können neue, an ihre Zeiten angepasste Handlungsweisen finden.


Es wird auch nach der Impfung kein bequemes "Zurück zu Normal" geben. Was ist schon normal? Das Auftreten der Pandemie ist ein globales wie persönliches Trauma. Wir können nicht so tun, als habe es nichts mit uns angestellt. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, es hat uns beeinflusst, wenn nicht sogar verändert.


Was wir können und dringend brauchen, ob wir krank sind oder nicht, ist Heilung. 2021 könnte das Jahr sein, in dem wir uns von unserem Empfinden erzählen und feststellen, wie wenig allein wir damit sind. Wir könnten dafür geschützte und wertschätzende Räume finden. So viele wundern sich, wie erschöpft und müde sie sind, wie ausgelaugt. "Aber mir geht's doch beruflich gut, aber ich war ja nicht krank, aber ich lebe doch recht gut!", höre ich oft. Wir müssen uns zugeben, dass der Stress, das Zurückfahren sozialen Miteinanders, das Fehlen der lebensnährenden Kunst und Kultur, die Berührungslosigkeit, die Unsicherheiten etwas mit uns machen. Wir müssen da durch. Aber in diesem Jahr haben wir den Abstand, sogar die Gewöhnung, nach neuen Wegen zu suchen! Noch sind Knuddelparties mit Wildfremden einfach nicht drin. Aber unsere Fantasie könnte uns zeigen, wie wir trotzdem menschliche Nähe spürbar machen und ein Miteinander so aufbauen, dass es erlebbar wird.


Im Radio bedankte sich heute ein Hörer für die virtuelle Silvesterparty. Er lebe einsam und allein, habe immer an Silvester die Einsamkeit noch lastender gespürt. Aber diesmal, inmitten von wildfremden und nur digital vorhandenen Menschen zum ersten Mal seit langem ein Miteinander gespürt. Er sei nicht mehr einsam gewesen.


Wieviele Jahre haben wir verpennt, wie einsam viele Menschen sind! Wie schwer es für viele ist, auch an normalen Tagen unter Menschen zu gehen, Kontakte zu knüpfen. Und plötzlich entwickeln Menschen angesichts von Lockdowns Software, mit der wir unsere Wohnzimmer und Küchen öffnen und Lächeln sehen und Mimik. Plötzlich hocken Leute rund um den Globus selbst im Schlafanzug herum, um sich gegenseitig mit Ideen anzustecken und dann voll im realen Leben zu handeln. Viele werden sich nach der Pandemie wohl sogar im realen Leben besuchen. Hätte das 2019 jemand gedacht? Wir hätten die Technik gehabt, warum haben wir sie so spät zum Guten genutzt? - Dabei ist es nie zu spät.


Und darum wünsch ich all meinen Leserinnen und Lesern ein hoffnungsvolles neues Jahr. 

Auch im Wissen um die Probleme, die Katastrophen: Wir haben 2020 viel über uns selbst lernen können. Ich wünsche natürlich Gesundheit, aber noch vielmehr Mut! Den Mut, zuzugeben, dass man extrem erschöpft ist. Dass man den Mut vielleicht fast verloren hat. Den Mut, Wünsche für eine bessere Zukunft zu formulieren. Und ich wünsche uns allen Fantasie, uns auszudenken, wie wir gern weiterleben möchten - und zwar so, dass wir die Mitgeschöpfe und die Natur erhalten - und unsere Verschmutzungen, unser ökologisches Fehlverhalten, den Klimawandel endlich in den Griff bekommen. Riesige Anstrengungen. 2020 hat gezeigt: Wir können das. Wir müssen es nur wollen. Wir müssen uns aber auch heilen, um in diesem Netz des Lebens ein förderndes und bewahrendes Teilchen zu werden, kein Störfaktor.


Wir werden 2021 nicht alles auf einmal schaffen und einfach so in eine neue Epoche purzeln. Aber wir können uns Etappen vornehmen, während wir das Ganze im Blick behalten. Und zwischendurch immer wieder auf unsere Energien achten. Ich wünsche uns allen, dass Engagement wieder Spaß macht und Kraft gibt. Und vor allem wünsche ich uns, dass wir mal richtig ausschlafen können, abschalten, auftanken!

3 Kommentare:

  1. Ausschlafen, abschalten und auftanken. Das wünsche ich dir auch, liebe Petra.
    Und natürlich auch Monsieur Bilbo, der da vermutlich als Vorbild dienen kann :-)
    Alles Liebe zum neuen Jahr, Kreativität und vor allem Gesundheit.
    Das wünscht dir
    Elli

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  2. Wie schön, wieder von dir zu hören, liebe Elli!
    Bilbo ist in allem der beste Lehrmeister. Er räumt aber schon ständig sein Bett im Atelier um, damit ich mich spute, denn am Mi will ich mit meinen digitalen Workshops loslegen. :-) Das ist aber ein guter Ausblick.
    Die auch alles alles Gute und Liebe,
    Petra - und Bilbo natürlich

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