Virtuelle Lesungen: nur eine Pandemieerscheinung?

Die einen jammern, die anderen finden es super: Virtuelle Lesungen oder Veranstaltungen mit AutorInnen in Zeiten der Pandemie. Funktionieren sie? Die üblichen Debatten wie zwischen Papier und Digital führen uns hier nicht weiter, sind sie doch letztlich reine Geschmacksstreitereien. Ich habe in den letzten beiden Monaten so viele AutorInnenveranstaltungen online besucht wie nie zuvor welche im "echten Leben". Weil mich die Inhalte interessierten, aber auch, weil ich als Autorin lernbegierig bin, was wie funktioniert und wo Vorteile und Nachteile liegen.

Waren das noch Zeiten, als man mit Papierplakaten an Ortseinfahrten für Real-Live-Veranstaltungen warb ...


Ich muss vorweg bemerken: Ich habe ausschließlich englischsprachige Veranstaltungen "besucht". Deutschsprachige haben sich mir entweder nicht in Social Media entgegengedrängelt oder es waren nicht meine Themen oder es handelte sich um reines Vorlesen. Wenn letzteres nicht einigermaßen professionell geschieht, also genuschelt und ohne Intonation heruntergeleiert wird, bin ich ganz schnell auf dem "Verlassen"-Button. Hier wäre also zu untersuchen, ob es tatsächlich an den passenden Veranstaltungen mangelt (was ich nicht glaube) - oder ob sie einfach nicht richtig an die Frau gebracht werden oder nicht so appetitmachend wie im angloamerikanischen Raum.

Noch ein kultureller Unterschied vorweg: Auf der ganzen Welt ist man sich darüber einig, dass Kulturschaffende von etwas leben müssen. In Deutschland herrscht leider noch oft die Idee vor, virtuelle Inhalte seien nichts wert, können / sollen umsonst sein. Ob das Format in einem Schloss stattfindet oder auf Zoom: Es muss finanziert werden. Vor allem AutorInnen müssen von etwas leben. Buchhandlungen auch. Und deshalb wird im angloamerikanischen Raum völlig selbstverständlich über Geld geredet - und da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten:
  • Die Veranstaltung ist kostenlos und wird darum von vornherein voll gesponsert. Mäzene und Gönner werden stolz und selbstverständlich genannt.
  • Die Veranstaltung kostet einen Obolus, der automatisiert und einfachst über Ticketplattformen eingezogen wird. Privat geht das auch über Spendenbuttons oder Seiten wie Steady oder Patreon, die nach Crowdfundingprinzip funktionieren.
  • Die Veranstaltung ist "pay what you like" (auch über Ticketplattformen). Wer kein Geld hat oder nicht zahlen will, zieht ein kostenloses Ticket. Bei allen anderen ist es wie mit meinem Spendenbutton rechts im Blog: Man kann den KünstlerInnen eine Tasse Kaffee spendieren - oder nach Gusto mehr. Dabei wird sehr deutlich und klar darum gebeten, dass man sich, wenn man schon nichts zahlt, das Buch kaufen möge - Bestellbuttons begleiten einen bei jedem Schritt. Und ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber nichts zu geben, fühlt sich außer bei Armut echt schlecht an. Und letzteres ist ein wichtiger Punkt: Diese Form schließt sozial niemanden aus - Kulturteilhabe für alle, ohne Scham, dass man sich das nicht leisten kann.
Was ich mir angeschaut habe, waren Veranstaltungen im Bereich erzählendes / literarisches Sachbuch, wobei die Veranstalter selbst aus allen möglichen Richtungen kamen - wie im echten Leben auch muss man nicht zwingend in Buchhandlungen lesen. Das könnte natürlich daran liegen, dass man englischsprachig die ganze Welt erreicht, aber dann nicht unbedingt Kundschaft aus Australien, Frankreich oder Norwegen in einer amerikanischen Buchhandlung bestellt. Halt. Stopp. Vielleicht doch - die hat nämlich meist einen Amazon-Shop und verteilt darum auch fleißig Buchlinks. Und zwar auch, wenn sie für lokales Shopping ist - sie verbaut sich diese Chance nicht grundsätzlich.

Und wie geht so was?

Manchmal geht's klasse und manchmal gar nicht. Oder anders gesagt: Wie im echten Leben gehört eine gewisse Professionalität dazu, die ZuschauerInnen bei der Stange zu halten. Mindestvoraussetzungen sind funktionierende Hardware und Beleuchtung, aber auch:
  • Der richtige Umgang mit der Technik: ModeratorInnen müssen moderieren können und sollten nicht krampfhaft nach dem richtigen Button suchen, wenn es an Fragen und Antworten geht. AutorInnen sollten einigermaßen in die Kamera geradeaus blicken und nicht nach unten in den Laptop - das ergibt nämlich den Augenkontakt mit dem Publikum.
  • Noch tödlicher als im echten Leben ist langes und langweiliges Vorweggelabere. Im Internet sitzt der Finger zum Weitersurfen nämlich locker. Anders als in einem realen Raum ist die Verlassen-Taste extrem leicht zu klicken und es sieht einen nicht mal jemand dabei - außer der Veranstalter. Es muss von Anfang an packen: in medias res gehen, knackig sein!
  • Wie im echten Leben wirkt Charisma. Aber ich habe den Eindruck, dass es virtuell noch wichtiger ist, Persönlichkeit, Lebendigkeit und Leidenschaft zu zeigen. Ich habe Menschen erlebt, die mich regelrecht aus den Socken hauten - und echte Schlaftabletten, denen man ansah, sie hatten an dem Abend nichts Besseres vor.
  • Am besten läuft die Sache, wenn man im realen Raum wie im virtuellen schlicht die Chancen des jeweiligen Mediums auslotet und nicht versucht, Veranstaltungen 1:1 zu übertragen. Das scheitert nicht nur um Gläschen Wein.
Es ist natürlich Geschmackssache, aber das Format, das mir persönlich am wenigsten zusagte, war die reine "Wasserglaslesung". Da ist zum einen die Frage, wie gut jemand in Performing ist. Auch wenn es durchaus Fans von Online-Lesungen gibt, wo jemand vor hellem leeren Hintergrund am Tisch sitzt und nichts anderes macht ... als zu lesen. Das Problem ist vor allem: Es gibt digital Konkurrenzformate, die zu nah dran sind! Wir alle kennen die Leute, die bei Lesungen die Augen schließen, um sich besser konzentrieren zu können, um den Raum auszuschalten und sich in eine andere Welt entführen zu lassen. Das Augenschließen am Computer bedeutet schlicht Audio. Da kann ich auch einen Podcast machen oder eine Audiospur auf Youtube legen. Für Video und Film muss ich schlicht etwas fürs Auge bieten! Für Interaktivität noch mehr. Denn am Bildschirm ermüdet man auch schneller, wenn sich nichts zeigt.

Wie ich ein schlechtes Buch schnell weglege, so schnell verlasse ich langweilige oder schlechte Online-Veranstaltungen. Was mir selbst einen üblen Druck verschafft, denn ich will ja auch mal vor der Kamera stehen und nicht miterleben müssen, wie Leute reihenweise wegklicken. Aber das gehört einfach zum Medium dazu und trifft übrigens am ehesten die kostenlosen Formate. Nach dem alten Großmutterspruch "was nichts kostet, ist nichts wert" sitzt hier der Finger besonders locker! Man konkurriert mit dem Fernsehprogramm, mit dem wartenden Computerspiel oder einem heißen Twittertrend ... Nicht immer bedeutet so ein Verlassen also, dass die Veranstaltung grottenschlecht wäre, manchmal reizt nur etwas anderes mehr. Und manchmal sind es schlicht auch technische Probleme, weil die Internetverbindung schwankt.

Dafür bin ich aber auch lockerer drin: Ich muss mich nämlich nicht aufbrezeln und feinmachen! Und kann relativ kurzfristig und spontan entscheiden.


Positiv feststellen muss ich bei moderierten Veranstaltungen: Die besten waren diejenigen, wo SchriftstellerkollegInnen die Gesprächsführung übernahmen, denn die wissen jenseits der Technik am besten, wie sie ihr Gegenüber lebendig machen können und spannende Fragen stellen, auf die andere Buchleute oder reine ModeratorInnen gar nicht kommen.

Die großen Unterschiede

Es gibt bestimmte Punkte, bei denen unterscheiden sich virtuelles und physisches Format grundlegend:
  • Ich erreiche nicht nur örtliches Publikum. Gestern erlebte ich wieder ein Autorengespräch, bei dem Leute aus den USA, Europa, Australien und Neuseeland am Bildschirm saßen.
  • Es gibt ein Bequemlichkeitsparadox: Leute müssen nicht nach draußen und können im Schlafanzug teilnehmen. Die gleichen Leute nehmen aber oft massive Zeitverschiebungen in Kauf und schauen auch mal nachts oder morgens um fünf zu!
  • Je nach Abo und Technik kann der virtuelle Saal proppevoll sein (als ich mich gestern einloggte, war ich Nummer 69 und ich war extrem früh dran). Andere Veranstaltungen haben Hunderte von TeilnehmerInnen. Auch bei "pay what you want" kann durch die Zuschauermenge so viel Geld herumkommen wie bei einer örtlichen Veranstaltung - und das sind alles potentielle BuchkäuferInnen.
  • Virtuelle Kulturveranstaltungen können ein sozial inkludierendes Moment haben s. o. bei Bezahlungen. Viele örtliche Veranstaltungen schließen Arme leider immer noch aus - und zwar nicht nur über den Eintritt. Es gibt auch andere Hemmschwellen.
  • Es gibt den Unterschied zwischen Bequemlichkeit am Bildschirm und Feinmachen fürs Ausgehen.
  • Auf Zoom wirken auch BestsellerautorInnen und Promis oft rührend privat und "zum Anfassen". Vor Ort ist die Distanz größer.
  • Wird die Veranstaltung als Konserve aufgenommen, lässt sie sich weiter als Werbeinstrument via Social Media / eigene Website nutzen.
  • Die Konkurrenz an Veranstaltungsfülle ist virtuell nicht kleiner als vor Ort, aber die KundInnenbindung läuft einfacher, meist direkt über die AutorInnen, via Social Media oder Blogs, Interviewformate und Podcasts. Verlage spielen eher eine untergeordnete Rolle: Die Leute interessieren sich für ihre LieblingsautorInnen, Genres und Themen.
  • Für AutorInnen liegt der größte Unterschied im Aspekt Publikum. Vor Ort spüre ich die Energien, sehe die Menge, höre das Klatschen. Virtuell sehe ich nur hereinrauschende Namen, habe kaum Zeit, den Chat zu beobachten, und schaue in eine nackte Kamera. Im Normalfall konzentriere ich mich auf das Bild der GesprächspartnerInnen. Begrüßungen und "Klatschen" laufen im Chat ab, also stumm, verschriftlicht. Bei manchen interaktiven Veranstaltungen kann ich die TeilnehmerInnen sehen und hören, falls diese den Kamerazugang nicht deaktiviert haben. Wieviele man da auf einmal bedienen kann, hängt an der Internetverbindung, der Bildschirmgröße und dem Prozessor (ich kann z.B. 25 Menschen auf einmal auf den Bildschirm holen). Für echte "Rampensäue" kann das ernüchternd sein, für eher Schüchterne oder Kameragewohnte aber auch hilfreich.
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Meine beiden persönlichen Highlights

Von denen will ich noch erzählen, weil ich an ihnen viel gelernt habe, wie man etwas gut macht.

Nr. 1

... war ein Webinar mit einer Bestsellerautorin zu ihrem Buch, moderiert von einem anderen Bestsellerkollegen, kurz vorgestellt vom Onlinemagazin, das die Veranstaltung sponserte und die Technik bediente. Es war die Endveranstaltung eines mehrwöchigen Buchclubs, wo Leute - ohne die Autorin - miteinander das Buch gelesen und darüber gesprochen hatten. Die Konserve kann man hier anschauen: Braiding Sweetgrass von Robin Wall Kimmerer, mit Robert Macfarlane, Autor von Underland und anderen Büchern aus dem Bereich Nature Writing. Veranstaltet vom amerikanischen Emergence Magazine (die haben einen Schwerpunkt Nature Writing).

Schlau gemacht ist das Format, weil man damit einerseits den Buchclub von vorher zum treuen Publikum hat, aber auch externe BesucherInnen anspricht, die speziell diese Konstellation von Autorin und Autor sehen wollen und sich für das Thema interessieren, das Buch vielleicht noch nicht gelesen haben. Kaufen werden das Buch treue Fans ohnehin - und nicht nur das - die anderen Bücher von beiden wurden ebenfalls vorgestellt und zum Kaufen verlinkt.

Ich hatte bei diesem Live-Event tatsächlich öfter mal Tränchen in den Augen. Wenn zum Beginn in der Chatspalte die Grüße aus aller Welt reinrauschen, von all den Leuten, die zugeschaltet sind, ist das ein faszinierendes Gefühl. Man ist plötzlich Teil einer riesigen Menge Menschen, die rund um den Erdball wohnt - bei diesem Event wurde tatsächlich sogar die Datumsgrenze überschritten. Und weil es um indigenes Wissen ging, kamen diese Grüße auch noch in allen möglichen indigenen Sprachen der Welt - es war unbeschreiblich. Das kann das Grüppchen mit 25 BesucherInnen, bei dem der Bürgermeister untertänigst und ellenlang begrüßt wird, natürlich nicht herausreißen.

Und so weltumspannend und riesig das wirkte, so privat und sehr menschlich wirkten die beiden Akteure. Da ist eben keine Bühnendistanz, sondern das eigene Wohnzimmer. Und unwillkürlich macht man das, was man als BesucherIn bei Fremden so macht: neugierig das Buchregal inspizieren, über - wie in einem anderen Webinar - herumliegende Spielzeugmonster lächeln. Oder nachher noch darüber reden, wie erfrischend einfach dieser Keller in Cambridge wirkte, aus dem Macfarlane vor einem Bücherregal sendete. Robin Wall Kimmerer - ich beschrieb das mehrfach im Blog - ist eine Frau, die Leute unabhängig vom Format bezaubert. Denn sie hat nicht nur Charisma, sie lebt, was sie schreibt und sie sie hat die Glut von Leidenschaft für ihr Thema.

Das sind Menschen, die einen tatsächlich auch im Leben prägen können, die inspirieren und vielleicht sogar etwas lostreten, was vorher nicht da war. Und das große Geschenk ist, dass ich diesen Menschen von überall aus live zuhören kann, ihnen Fragen stellen kann. Die Chance, eine Robin Wall Kimmerer irgendwann in meiner Nähe erleben zu dürfen, kann ich mir an einer Hand abzählen: Sie beträgt Null. Auch einen Macfarlane werden allenfalls Großstädter erleben können und das kostet dann erheblich mehr Geld und Energie: Zum Eintritt kommen Fahrtkosten, evtl. teure Parkgebühren, vielleicht ein Essen.

Das ist einer der Punkte, den ich an diesen Zoom-Veranstaltungen am meisten liebe: Plötzlich bin ich Landei an die große Kultur dieser Welt angeschlossen und kann mir alles ins Haus holen, ohne erst ins Auto steigen zu müssen, weil es keinen ÖPNV hier gibt, abends schon gar nicht! Das rechnet sich auch beim Bezahlen: Für die gesparten Transportkosten kann ich schon wieder ein zweites Ticket für etwas anderes kaufen. Der Konsum an Veranstaltungen steigt - früher hätte ich mich um die Zeit gemütlich vor den Fernseher gesetzt oder mit einem Buch aufs Bett gelegt. Und ich denke an die Chancen im Winter!

Nr 2.

Auch die Veranstaltung gestern war erfrischend nah und in der lebendigen Gesprächsführung hochspannend. Im Chat konnte man nachlesen, dass es vielen so ging wie mir: Wir hätten noch Stunden zuhören können, die Zeit verflog viel zu schnell. Und das lag daran, dass zwei miteinander sprachen, die beide vom Fach sind, beide im gleichen Spektrum schreiben - und keinerlei Konkurrenzgehabe erkennen ließen: Helen Macdonald, Bestsellerautorin von "H is for Hawk" (dt. "H wie Habicht") interviewte Merlin Sheldrake zu seinem Buch Entangled Life: How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds and Shape Our Future (Konserve auf Facebook). Veranstaltet vom Buchladen Point Reyes Books nördlich von San Francisco, auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge, in Zusammenarbeit mit dem Emergence Magazine. Das Buch erscheint im September in Europa, dann auch auf Deutsch als "Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen."

Mein Lieblingsthema Pilze! Und mehr, was mich faszinierte. Ich hatte in Robert Macfarlanes Buch Underland das Kapitel über Merlin Sheldrake und seine Arbeit gelesen und war schon damals gespannt auf dessen Beiträge. (Die Nature Writing Szene ist global, scheint aber recht übersichtlich zu sein: Irgendwie kennt jeder jeden). Und ja, der Name, das ist ein Sohn des berühmten Rupert Sheldrake, der in meinen jungen Jahren ein Weltbild erschütterte mit seiner Hypothese von den morphogenetischen Feldern!

Und ja, er ist ein bißchen so wie sein Name vor der Kamera. Ein Mensch, der durchaus etwas Elfenhaftes hat, auch in seinem versonnenen Lächeln und leisem Auftreten. Eine Figur, die ich mir gut in Romanen vorstellen könnte: Als er erzählte, hatte man den Eindruck, er befände sich noch halb mit irgendwelchen Fühlern in der Erde, angeschlossen an das Pilzmyzel, von dem er erzählte und dann eine innere Glut für sein Thema fühlen ließ. Ich habe selten einen Menschen auf der "Bühne" erlebt, der so voller Bescheidenheit und Charme ist. Als er dann zum ersten Mal sein Glas hob, musste ich grinsen - er trank seelenruhig sein kleines Bierchen.

Da wusste ich noch nicht, was es damit auf sich hatte. Weder, dass er selbst Bier braut, noch was er sich so einverleibt und warum. Über diese Technik sprach er bei der Veranstaltung auf Pilze bezogen. Sie mag fürs Schreiben eines Krimis nicht funktionieren, für einen Science Fiction zu irdisch sein. Aber er hatte mich sofort beim Wickel, weil ich das auch praktiziere: Seit ich meine Art Journals mit jahrhundertealten Lindenholz-Stäbchen versehe, gehe ich nicht nur die Bäume riechen, fühlen, schauen, anhören - ich schmecke sie. Trinke Lindenblütentee, esse junge Blättchen, süße mit Lindenblütenhonig. Ich kenne die Technik von alten Kräuterfrauen im Elsass, die sagten: "Wenn du eine Pflanze begreifen willst, setz dich ihr ganz aus und probiere sie und hinterlasse etwas von dir."

So abgehoben das für manchen klingen mag, ich habe das auch in einem Nature Writing Kurs mitbekommen, wie man daran arbeiten kann, die eigenen Sinneswahrnehmungen zu verfeinern, etwas in sich aufzunehmen, auch körperlich - und schließlich lernt, den eigenen Standpunkt, die Perspektive zu verschieben.

Und jetzt kommt dieser Wissenschaftler und Pilzforscher daher und erzählt, dass er während des Schreibens sehr engen körperlichen Kontakt mit den Pilzen suchte und natürlich auch viele verzehrte. Was ich erst nachher las (es steht auch im Buch): Er hat sich so auch von seinem Buch getrennt! Ein Exemplar gab er als Nahrung an Austernpilze, die er sich dann zubereitete. Nicht nur ein Werbegag, dieses Foto - er konnte damit wunderbar erklären, was Austernpilze alles als Nahrung nutzen können und wie sie die Stoffe umwandeln. Er aß die Pilze, die sein Buch aßen und damit seine verdauten Worte. Und ein zweites Exemplar hat er dann - Pilzen sei Dank - zu Bier gemacht. Das kleine Bierchen vor laufender Kamera ... was er sich wohl damit einverleibte?

Auch hier wieder wirkt ein Autor, weil er lebt und glaubt, was er schreibt. Das ist damit gemeint, wenn einem AgentInnenen raten, man solle die Wahrheit schreiben, wahrhaftig sein. Wie sehr sein Einverleiben und die Perspektivwechsel Wahrnehmung und Schreibenkönnen verändern, bekam man mit, als er das Unmögliche beschrieb: Ein lebendes Wesen, das eins und viele ist. Ein Lebewesen, das sich nicht entscheiden muss, weil er mehrere Wege gleichzeitig schafft. Ein Wesen, das sich menschlichem Vorstellungsvermögen und Sprache eigentlich entziehen müsste - dieser Autor schafft es, dass man sich die kompliziertesten Sachverhalte vorstellen kann. Denn das ist ein Buch über Pilzforschung.

Zu einer professionellen Veranstaltung gehört natürlich mehr als Brillanz, Charme und ein tolles Thema. Helen Macdonald hat kollegial, wissend und begeistert interviewt und sich dabei selbst angenehm zurückgenommen. Mit Leichtigkeit hat sie Schweigesekunden oder ein Stocken füllen können. Der Buchhändler hat sich sachlich und angenehm knapp als Moderator betätigt, eine kleine Einführung gegeben und die Bitten um Einkauflinks für die genannten Bücher aus dem Chat regelrecht angeheizt und gern bedient. Er hat dafür gesorgt, dass die Technik funktionierte und die Publikumsfragen zu Wort kamen. Weil die Zeit nicht reichte, blieb die Möglichkeit, dem Autor zu mailen.

Ganz "amerikanisch": Ich lebe u.a. vom Schreiben. Wenn euch der Artikel gefallen oder bereichert hat, freu ich mich über einen Kaffee oder mehr! Mit dem Spendenbutton gelangt ihr auf die Plattform Paypal (s. Datenschutzerklärung). Man braucht kein eigenes Paypal-Konto dafür und kann auch nur 2 E für einen Kaffee anweisen (nach oben offen). Medien, die den Beitrag übernehmen wollen, gehen natürlich den offiziellen Weg der Vorabanfrage bei mir!


Fazit

Beide Formate sind sehr unterschiedlich. Man würde allzuviel Chancen verschenken, wenn man den gleichen Fehler beginge wie zwischen gedrucktem und digitalen Text, wenn man diese lediglich 1:1 überträgt. Jedes Format hat seine Vor- und Nachteile.
Auf keinen Fall jedoch sollten wir diese Zoom-Veranstaltungen nach der Pandemie ad acta legen! Vielleicht wird die Software eines Tages wechseln, aber virtuelle Veranstaltungen haben einen Platz im normalen Leben verdient, sind ein selbstverständliches Medium geworden wie Podcast oder youtube-Tutorial. Ganz so einfach, wie es aussschaut, ist die Sache allerdings nicht: Man sollte sich auskennen und professionell arbeiten.
Dann aber lässt sich das gemütliche Wohnzimmertreffen mit jemandem aus dem Selfpublishing, wo nur wenig Technik und Finanzen da sind, genauso gestalten wie das globale Ereignis mit mehreren Personen, wo dann mindestens eine für die Technik sorgt. Wir müssen auch nicht mehr klagen, dass es keine guten Literatursendungen mehr im Fernsehen gibt - mit Konferenztechnik kann das jede/r aus der Branche selbst aufziehen!

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