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29. Juni 2020

Museumsbesuch und die Lähmung danach

Gestern habe ich es geschafft! Fast vier Wochen habe ich gebraucht, um mich zu überwinden, an den sonst für mich schönsten Ort sozialen Lebens und wertvoller Inspirationen zurückzukehren: in die Maison Rurale im elsässischen Kutzenhausen. Es ist ein Zwitterding zwischen historischem Bauernhofmuseum und modernem Kulturerbezentrum, also nicht nur ein Ort zum Schauen und Lernen, sondern vor allem eine europäische Begegnungsstätte mit faszinierenden Veranstaltungen. Zur Erinnerung: Ich spiele dort eine Doppelrolle. Als Führerin durchs Museum und durch Sonderausstellungen arbeite ich ehrenamtlich. Meine Workshops (virtuell in Vorbereitung) und der Schmuckverkauf im Museumsshop sind beruflich.

Wir nennen ihn Georges. Gestern habe ich ihn zum ersten Mal vor einer Kollegin laut gegrüßt und sie fand es gar nicht seltsam. Ich glaube, ich bin nicht die einzige, die im Moment mit den Ausstellungspuppen spricht oder zumindest froh ist, dass sie vermeintlich Leben in die Bude bringen.

Ein Museumsbesuch der anderen Art

Die Übergabe meiner neuen Schmuckkollektion war ein Anlass, der mich nicht schwänzen ließ. Ohne festen Termin hätte eine Wiederbegegnung womöglich noch länger gedauert. Warum ich mich jetzt erst aufraffte? Ich habe Schiss. Schiss vor dem Virus (ich halte mein Immunsystem nicht für so robust wie andere). Und Schiss davor, einen weiteren vertrauten Ort nicht mehr wiederzuerkennen. Obendrein meide ich als Trägerin zweier Brillen und bei dieser Hitze außerdem gern Maskensituationen, wo ich nur kann (bin aber dafür, sie diszipliniert zu tragen). Und ich hole nach, was mir während des Confinements so sehr fehlte: die Natur! Darin unterscheide ich mich also womöglich kaum von BesucherInnen. Hinzu kommt die Trauer um den Wegfall meiner Arbeit, was es nicht einfacher macht für mich.

Als ich ankomme, fällt zunächst kaum ein Unterschied auf - außer den mehrsprachigen Tafeln am Tor mit den Pandemievorschriften der Präfektur. Die Gerätschaften im Hof werden öfter mal umgestellt, nur wer sie kennt, merkt, dass sie nun unauffällig Besucher in separierte Bahnen leiten. Den feuerroten Desinfektionsspender vor dem Kasseneingang empfinde ich als beruhigend, luxuriös. Wie lange hatten wir im Elsass keine Masken, kein Desinfektionsmittel - sicher mit einer der Gründe dafür, dass wir zum Hot Spot wurden!

Schnell wird klar, dass ich nicht mehr frei herumschlendern kann, wie man das auf einem riesigen Areal eines alten Bauernhofs instinktiv zu machen pflegt. Pfeile, Abstandsmarkierungen drinnen, Verbotsschilder an Türen. Ich darf sie als Mitarbeiterin übertreten, wenn niemand da ist; aber wenn ich führe, muss ich auf deren Einhaltung pochen, sie also vorher gut studieren. Ich notiere die Frage, ob ich befugt bin, Zuwiderhandelnde aus dem Museum zu werfen - und wie ich das durchsetzen kann, wenn sich jemand querstellt. Ich persönlich weiß, dass ich gegenüber von CoronaleugnerInnen sofort die Führung abbrechen würde. Der Vorteil vom Ehrenamt - das Führen ist auch für uns Mitglieder absolut freiwillig.

Die faszinierenden Geschichten in meinem Kopf, die ich zu erzählen pflege, werden verdrängt von einem pdf mit Sanitärvorschriften. Zum Glück steht die Höchstzahl für BesucherInnen an jedem Raum, so dass ich Negativmathegenie mir wenigstens das nicht merken muss. Fünf bis sechs Menschen im Schnitt sind überschaubar.

Aber es macht etwas mit mir, schon vor der Kasse: Es erinnert mich fatal ans Einkaufen. Einkaufen ist seit der Pandemie für mich die meistgehasste Beschäftigung geworden. All diese zu bedenkenden Eventualitäten: Werde ich in der Schlange stehen müssen und wird es regnen? Wo darf ich gleich nochmal nicht hinfassen an meinem Körper? Ziehe ich mich schick und in Lieblingsklamotten an oder krame ich das T-Shirt vor, dass ich gleich danach in die Wäsche werfe und eh nicht mag? Mag ich meinen Körper überhaupt noch wahrnehmen da draußen oder sehe ich diese Comic-Knilche von Viren auf ihn einprasseln, die man überall als Illustrationen sieht? Wie erlebe ich mich jetzt in einer Kultur, die auf Nähe und Berührungen ausgerichtet war?

Quelle Tristesse!

Plötzlich fällt es mir auf, was falsch läuft: Es ist Sonntagnachmittag, das Wetter schön, sogar Wahlsonntag. Früher wäre der Hof unter diesen Umständen schon brechend voll gewesen mit flanierenden Menschen, plaudernden Gruppen und Leuten, die in Vorfreude für die an diesem Tag kostenlose Führung anstehen.

Ich bin jedoch die einzige. Die Leere erdrückt mich fast. Da ist es wieder, dieses Gefühl der Entfremdung, diese Idee, in einer Parallelwelt gelandet zu sein.

Die Bekannte an der Kasse ist hinter Plexiglaswänden verborgen. Früher (was für ein Wort!) haben wir uns zur Begrüßung geküsst, wir MitarbeiterInnen haben fröhlich unsere Taschen unter die Möbel geworfen, ein Schwätzchen in Nähe gehalten. "Früher" haben sie da zu zweit gearbeitet, um alles zu bewältigen. Sie ist jetzt allein. Ensteht ein Problem, selbst das kleinste technische, kann sie ihre Kollegin nur anrufen. "Quelle tristesse!", klagt sie und ihr Ausruf wird mir zur Umschreibung eines ganzen Nachmittags. Es sei seit der Wiedereröffnung am 3. Juni eigentlich immer so leer, erfahre ich, die Leute bleiben aus. Trotz der nun offenen Grenzen kommen auch die TouristInnen nicht mehr, keine Reisegruppen sind angesagt. Die TouristInnen und die Schulklassen zählen zu unseren HauptbesucherInnengruppen. Mir fällt ein, dass auch der Parkplatz am Dorfrestaurant völlig leer war.

Dann liegt es vor mir, das Herz unseres so besonderen Ortes, das Bindeglied zwischen dem Museum und dem Kulturerbezentrum, offene Begegnungsstätte für Menschen, die einfach nur Kontakt suchen, die zu unseren Kursen kommen oder den Besuch im Haupthaus nachbereiten, ausklingen lassen wollen. Oder die einfach nur zuschauen möchten, wenn spontan MitarbeiterInnen von uns am runden Tisch etwas vorführen. Viele holen sich dort Appetit auf einen längeren Besuch, erfahren, wie sie mitmachen und experimentieren können. Oft sitzen dort unsere Stickerinnen, manchmal habe ich an Art Journals gearbeitet und neugierige Fragen beantwortet, so oft andere KünstlerInnen kennengelernt. Sonntags ist das der offene Geheimtipp - und es gibt Getränke und Kaffee und stets selbstgebackenen Kuchen der Frauen vom Museumsverein.

Ich erinnere mich noch gut an die Weihnachtszeit, als dieser Raum so dicht mit Menschen aller Generationen gefült war, dass wir Bierbänke holen mussten. Ein Biobäcker erzählte von der Kulturgeschichte der Brezel, einem der Wahrzeichen des Elsass. Er führte vor, wie es geht, die Kinder durften beim Kneten helfen und dann gab es für alle Verkostung und Getränke. Es war heiß, die Luft stickig, man saß beengt, aber vollkommen glücklich. Die Augen der Leute leuchteten, das Leben summte und brummte - in mindestens drei Sprachen, sogar von Outre Mer waren BesucherInnen da.

Das Herz dieses Ortes liegt nun düster und leer vor mir, hat sein Leben verloren, ist bis zur Unkenntlichkeit umgebaut. Pandemievorschriften: Die Cafeteria darf bis auf Weiteres nicht öffnen, Kurse, Workshops, der runde Tisch - alles abgesagt. Der runde Tisch ist nun Teil der vergrößerten Boutique, ausgestattet mit Waren, damit man im Kreisverkehr durchlaufen kann. Inmitten der wunderschönen Kleinigkeiten regionalen Kunsthandwerks und elsässischer Spezialitäten steht ein leerer Korb mit der liebevoll gemeinten Aufschrift "Quarantänekörbchen für berührte Gegenstände". Wer etwas kaufen will, sagt das der Mitarbeiterin, Berühren ist streng verboten. Da ist sie wieder - die neue Welt ohne Berührungen, die Welt einer Entkörperlichung.

Endlich sind zwei unserer Werkstätten nicht mehr nur Ausstellungsräume. Junge Menschen arbeiten sonntags in der Schmiede und der Wagnerei und man kann zuschauen und neugierige Fragen stellen.

Erfindungsreiche Improvisationen

Natürlich lassen wir uns von all dem nicht unterkriegen! Wo es Absagen gibt, gibt es auch Improvisationen. Ausschank und Cafeteria drinnen verboten? Wir bieten jetzt im hinteren Hof unter den Scheunendächern Sitzplätze auf Bierbänken (natürlich mit Abstandhalten und Gruppengrößen-Vorschriften) und Getränkeverkauf in Flaschen. Welch Glück, dass Sommer ist! Und es gibt eine weitere neue Attraktion: In zwei Werkstätten wird wieder gearbeitet.

Ich kannte die Vorführungen an Sonntagen noch aus der Anfangszeit, als das Museum noch sehr klein war. Irgendwann jedoch wurden die letzten Männer, die altes Handwerk beherrschten, zu alt. Die Menschen, die noch von Hand Fässer bauen können oder Matratzen polstern, sterben aus. Umso größer die Freude, als mir das "Kling kling" aus der Schmiede entgegentönte - wir haben wieder einen jungen Schmied und eine junge Frau arbeitete an Speichen für Holzräder. Die Handvoll BesucherInnen, die ich im Laufe des Nachmittags sah, fand schnell den Weg dorthin und konnte hoffentlich die Pandemie für ein Weilchen vergessen.

Solange die Cafeteria geschlossen bleibt, gibt es im Sommer Sitzplätze unterm Scheunendach und Getränke in Flaschen. Normalerweise haben wir hier unsere "Summerkiech" für Sommerfeste, aber auch die sind verboten. Kaum zu glauben, wie fern das letzte gemeinsame Wildschweinessen scheint, das sich wirklich anfühlte wie in einem gewissen gallischen Dorf.

Maskiertes Wiedersehen

Kann man die Pandemie denn vergessen? Ein Grüppchen Kolleginnen saß am Tisch, Menschen, die mir liebgeworden sind und die ich seit mindestens vier Monaten nicht gesehen hatte, neben kurzen virtuellen Kontakten mit ein paar.

Es überwältigt mich etwas, das Wiedersehen nach so langer Zeit, und es gibt wieder diesen inneren Stolperer, den ich für überwunden glaubte (irgendwann muss man sich doch gewöhnen!?!). Ich muss zweimal hinschauen, um die Frauen hinter den Masken zu erkennen, jemand fragt: "Bist du wirklich die Petra?" Denn auch ich bin vermummt und trage immer noch eine Coronafrisur mit selbstgeschnippeltem Pony darüber. Mein sonst perfekter Vulkanier-Gruß misslingt mir völlig, die zitternden Finger wollen sich nicht zwischen Mittel- und Ringfinger teilen.

Wenigstens sorgt das für Gelächter und Extrawinken, für Entspannung bei mir. Vor der Pandemie haben wir uns herzlichst abgeküsst, saßen auf Tuchfühlung, haben uns beim Scherzen und Reden völlig selbstverständlich berührt. Es gibt alleine so viele unterschiedliche Berührungen des Arms, die in einem Land der gestischen Sprache so viel aussagen können: von Bestätigung bis zu Trost, vom Mitfühlen bis zum Scherzen. Ich fühle mich doppelt der Sprache beraubt, mir bleibt nur das hinter der Maske muffelnd klingende Französisch, das mir diesmal unangenehm hartkantig gerät, weil ich mehr zu artikulieren versuche. Ich bin das Sprechen mit Maske im Liveleben noch nicht gewöhnt. Auf Zoom und Skype ist alles so einfach.

Einen kleinen Schaugarten haben wir auch, in dem traditionelle Pflanzen eines Bauerngartens wachsen und wo man traditionelle Pflegearten kennenlernen kann, die heute wieder im ökologischen Landbau entdeckt werden. Passend dazu gibt es Vorträge und Veranstaltungen zu den Themen Ökologie und Natur, denn ein Kulturerbezentrum verbindet altes Wissen und Wege in die Zukunft. So sorgt der rotblühende Amaranth (meist Amaranthus cruentus) regelmäßig für Überraschungen: FreundInnen der Pseudogetreide Quinoa und Amaranth glauben kaum, wie lange man die wie Unkraut wuchernde Pflanze schon in unseren Breiten anbaute. Neben den Samen werden auch die jungen Blättchen als Salat und überaus gesundes Gemüse verzehrt, übrigens mit einem Eiweißgehalt, der den von Soja übertrifft.

Wohltat des Eintauchens

Und dann wird es ein bißchen wie früher, als ich mit einer unseren ganz großen Kennerinnen in den Bauerngarten gehe, weil ich während der Ausgangssperre aus unserem virtuellen Rundbrief erfahren habe, dass sie Färberwaid angebaut hat. In meinen Workshops, die wegen der Pandemie gestrichen wurden und ebenfalls auf absehbare Zeit nicht mehr stattfinden können, sollte es u.a. um pflanzengefärbte Papiere gehen. Entsprechend bin ich neugierig, aber natürlich sind die Jahreszeiten auch hier nicht stehengeblieben. An den Pflanzen merkt man es intensiv. Die Bündel mit den Samenständen hängen schon zum Trocknen an der Wand, die neuen Pflänzchen sind winzig. Ein paar kleine Proben kann ich mitnehmen. Dagegen wuchert eine andere Überraschung meterhoch: Färberkrapp. Trotz des Starkregens ist es zu trocken, um Wurzeln auszuziehen, aber auch hier reicht es für ein paar Proben. Die Kollegin zeigt mir im Ausstellungsraum getrocknete Wurzeln und Blätter beider Pflanzen und erzählt mir, wie sie Ostereier damit gefärbt hatte. Ostern, das von der Katastrophe des großen Sterbens überlagerte Fest, das als Highlight im Museum geplant gewesen war.

Schnell sind wir auch wieder am Tisch im Gespräch über alte Techniken, das sich an meinem Papierschmuck entspinnt. Eine Frau, die in den 1960ern Ferienkolonien für Kinder geleitet hat, kennt von dort jede Menge Techniken und Tricks, mit Pflanzen zu färben und Pflanzenabdrücke auf Stoff zu zaubern. Zu jener Zeit boomte das, erzählt sie, auch der heute wiederentdeckte Rostdruck.

Sie kennt all die Beizen, ihre Wirkungen. Wir hätten so viel zu erzählen - wenn BesucherInnen zum Zuhören da wären. Fast wird uns die Zeit zu kurz und wir verabreden uns zu einem "Ersatz". Während sie stickt, wird es mir nicht verboten sein, meine Art-Journal-Objekte mitzubringen und zu zeigen. Weil ich meine Workshops nun virtuell vorbereite, habe ich einen Karton von Material zum Zeigen. Und ich kann dabei Neues übers Färben lernen. Es ist doch ein Unterschied, ob man im Internet nach Rezepten surft oder jemanden mit Erfahrung ausfragen kann! Es ist ein Unterschied, ob man ein virtuelles Programm linear aufsetzen muss oder beim Fühlen und Schauen durch Assoziationen und Inspirationen auf neue Ideen oder Fragen kommt. Ein Grund übrigens, warum ich meine Workshops per Zoom ausführen möchte und nicht per einseitigem Video: um Gespräch zu ermöglichen.

Das ist für mich die Maison Rurale an Sonntagen: einfach hingehen und man findet immer und ohne jede Schwellenangst jemanden zum Reden, zum Schauen, zum Lernen von Kunsthandwerk oder Kunst. Die meisten von uns sind mehrsprachig, Altersgrenzen kennen wir nicht. Am runden Tisch haben schon Kinder deutscher TouristInnen mit unseren ältesten Stickerinnen Kreuzstich geübt. Wir stellen uns wohl alle die gleiche Frage: Wie können wir etwas von diesem Miteinander und Lebenspüren hinüberretten in die Entkörperlichung? Womöglich werden jetzt die Teile des Museums noch wichtiger, wo man berühren kann und darf!

Ich bin dann so begeistert vom Wiedersehen und Reden und den Themen, dass ich die Ausstellungsführung verpasse, bei der ich eigentlich mitlaufen wollte, um mich einzulernen neben all den Unterlagen. Im Gespräch mit dem Kollegen stellen wir fest, dass es zuviel Text ist, die Menschen ermüden jetzt noch schneller als früher. Wir müssen die Gegenstände zum Sprechen bringen, sie be-greifbar machen, auch wenn man sie nicht berühren kann und darf.

Berührbarkeit. Begreifbarkeit. Rituale gegen die Entkörperlichung. Wir brauchen das so sehr.

Und da fällt mir die wunderbare Autorin Robin Wall Kimmerer ein, die in einem Webinar über diese Entkörperlichung gesprochen hat und darüber, dass sie sie als Chance begreift. Sie erzählte, dass in indigenen Ritualen Entkörperlichung eine Rolle spiele, wenn auch gezielt eingeleitet. Aber wir könnten die erzwungene Phase eben auch für eine Art Verinnerlichung nutzen, neue Rituale dazu finden, die uns den Boden unter den Füßen wiedergeben können und einen veränderten Blick auf die Dinge.

Meine Workshops mit den "Escape Books" und Träumestäbchen erscheinen mir auf einmal so aktuell wie kaum eine andere Arbeit im Atelier - und sie wird noch lange wichtig bleiben, weil wir nach der Pandemie und eigentlich längst schon jetzt noch viel größere Überlebensherausforderungen zu meistern haben: Artensterben und Klimawandel. Ja, auch das sind Themen in einem Kulturerbezentrum, auch hier kann man aus der Reflektion der Vergangenheit und modernem Vordenken viel entwickeln.

Art Journal mit Lindenholz-"Träumestäbchen" als Buchrücken - aus dem Atelier Tetebrec.

Hoffnungen

Auf dem Weg zum Auto besuchte ich die alten Dorflinden neben dem Museum, deren Blüte in diesem Jahr völlig an mir vorbeigegangen war. Aber nach den heftigen Gewittern hatten sie mir doch wieder besondere Geschenke hinterlassen, Äste, aus denen wir die Rücken der Art Journals fertigen werden, die Träumestäbchen ... wenn wir denn dürften.

Reich beschenkt kehrte ich zurück, beladen mit Lindenholzästen, Blütenhonig vom Imker gekauft im Museumsshop und Färbepflanzen. Erfüllt von den menschlichen und tierischen Begegnungen, denn auch unsere Kaninchen und das Geflügel müssen sich erst wieder an Menschen gewöhnen. Im Rückblick stelle ich fest, dass der Schleier der Tristesse langsam aber mühsam zu heben sein könnte. Und dass unsere künftige Arbeit noch mehr denn je mit Gefühlen zu tun haben wird, mit Empathie und menschlichen Beziehungen. Exponate selbst bleiben unberührt, überstehen die alten Römer, die Pest und den Coronavirus gleichermaßen. Sie bleiben kalt und stumm, wenn wir nur Zahlen und LehrmeisterInnenwissen herunterbeten. Es liegt an uns MitarbeiterInnen, sie immer wieder neu zum Leben zu erwecken und fühlbar zu machen, gerade weil die Perspektiven auf unsere Welt sich ständig verändern.

Trauerarbeit wird uns die nächsten Monate weiter begleiten. Ob virtuell oder im physischen Leben, wir müssen den Mut haben, Gefühle zu teilen, miteinander zu bewältigen. Dabei können uns, so wichtig sie sind, Wissenschaft oder Politik nicht helfen, das müssen wir selbst leisten. Bei der Arbeit in einem Kulturerbezentrum werden wir erfahren, was im kollektiven Gedächtnis bleibt und was es uns lehren kann - und irgendwann lässt sich auch das aufarbeiten für spätere Ausstellungen. Aber zu glauben, wir könnten einfach so tun, als sei nichts gewesen, wir könnten einfach so weitermachen wie bisher, das ist wahnwitzig. Es mag eine bequeme Verdrängungsmethode sein, vielleicht als kleine Flucht kurzfristig vermeintliche Sicherheit vorgaukeln. Nur trifft Menschen, die verdrängen, das Trauma zwar später, jedoch umso heftiger.

Ich werde am Sonntag wieder ins Museum gehen und vieles wird sich dann schon vertrauter anfühlen. Diesmal werde ich brav meinen Stoff für die Ausstellung lernen. Denn ich bin sicher, die BesucherInnen werden sich langsam wieder einstellen - in Frankreich beginnen in wenigen Tagen die Sommerferien.

Ich freue mich jederzeit über eine kleine Spende hier:
KAFFEE- UND HUNDELECKERLIKASSE


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26. Juni 2020

Vom Leben mit Brummeltieren

Ich gebe oft scherzhaft zum Besten, dass ich während des Confinements anfing, mit Ameisen zu reden. Das ist natürlich genauso liebevoll geschwindelt, wie die Behauptung mir selbst gegenüber, ich würde absolut nicht verstehen, wie man sich einen Bienenkorb direkt neben die Haustür stellen könne. Die nackte Wahrheit: Ich rede seit meiner Kindheit mit Ameisen, Tieren und auch Pflanzen. Und ich lebe seit dem Frühjahr mit Bienen neben der Haustür. Auch auf die Gefahr hin, zur "wunderlichen Alten" erklärt zu werden: Wir sollten das öfter machen, dieses Reden.

Bienenkorb mit Aufhängung in der Maison Rurale, wo altes Zubehör aus der Imkerei zu sehen ist. Sie wurden meist geschützt unterm Dachtrauf aufgehängt. Geflochten sind sie aus Roggenstroh und dem heimischen Rattan-Ersatz: Brombeerranken, die besonders flexibel zum Binden sind. Bei ungünstigen klimatischen Bedingungen hat man die Körbe zum Schutz mit einer Mischung aus Pferdemist und Lehm bestrichen.


Die Sache mit den Bienen erwischte mich hinterrücks. Ich finde Imkerarbeit, sofern sie nicht in Massentierhaltung abgleitet, faszinierend, vor allem seit ich das wunderbare Buch von Helen Jukes gelesen hatte: "Das Herz einer Honigbiene hat fünf Öffnungen: Über das Jahr, in dem ich Imkerin wurde." In der Maison Rurale staune ich über die wundervollen alten Bienenkörbe und wie praktisch sie unterm Dach der Scheune aufgehängt wurden. Aus historischen Texten weiß ich, dass man in uralten Zeiten aber auch den Bienenkorb direkt neben dem Hauseingang anbrachte. Fast wie eine Art gegenseitiger Freundschaft wird das Verhältnis zwischen Mensch und Biene beschrieben. Wenn die Menschen ihre Bienen gut pflegten und umsorgten, sollten die im Gegenzug vor Blitzeinschlag und Feuer schützen, dem Haushalt Glück bringen. "Volksmagisches Denken" nennt man das in der Forschung. Es bezieht sich auf eine Zeit, in der die Grenzen zwischen Menschlichem und nichtmenschlichem Leben noch beweglich und durchlässig waren.

Mit Insekten leben oder gegen sie?

Doch ich bin auch ein Kind meiner Zeit, aufgewachsen mit Angst vor allem, was stechen könnte. Von Bienen kam Honig, aber sie waren wehrhaft, keine Streicheltierchen. Von Wespenstichen schwillt meine Hand wie ein Miniaturelefant, von Hornissenstichen kann ich eine Allergie bekommen. Ich habe alles versucht am Gartentisch: Wespenfallen, in denen eher die Schmeissfliegen aus den Ziegenställen landeten; Wespenvertreibe-Zeug aus Duftkerzen und Räucherungen, hilfloses Wedeln. Das moderne Zubehör schien mir ähnlich wirksam zu sein wie Volksmagie, nämlich gar nicht. Und ich wurde natürlich fleißig gestochen, dank des depperten Wedelns!

Es hat lange gebraucht, bis ich endlich mit den Stechinsekten lebte statt gegen sie. Heute fliegen zig Wespenarten in der Nähe meines Tischs vorbei. Aber sie halten nur Ausschau nach den kleinen Wasserstellen, die ich für sie in der Nähe platziert habe. Kleine Untersetzer mit Steinen drin, die sich beim Blumengießen automatisch füllen. Gallische Feldwespen haben zwischen Fensterladen und Klofenster ein perfektes kleines rundes Nest gebaut und ich laufe seither viel zu oft aufs Klo, nur um sie bei ihrer mütterlichen Fürsorge zu beobachten. Bekannte schütteln den Kopf, weil ich das "eklige Ding" noch nicht mit Gift besprüht und entfernt habe. Denen erzähle ich dann, wie nützlich diese Wespen sind und sage: "Ich muss mal aufs Klo, ein Video drehen". Auf Instagram finden es alle geil, aber wehe, man hat die Natur vor der eigenen Wohnung!

Wespen haben bei Hitze nicht nur fürchterlich viel Durst, sie bringen Wassertröpfchen auch in ihre Nester ein, die sie dann mit den Flügeln befächeln - die perfekte Klimaanlage für ihre Brut! Deshalb brauchen sie Trinkstellen - und wenn es keine gibt, landen sie eben in der Limonade. Sind die Wespen daran schuld, wenn wir eigensüchtig trinken und nichts übrig lassen? Ich bin ruhiger geworden und wedle nicht mehr hektisch hilflos herum, sage allenfalls "geh weg!" Und als wüssten sie, dass ich die Schälchen befülle, lassen sie mich in Ruhe. Wir bleiben auf Abstand. Und der war im Frühling plötzlich nicht mehr da: Blattschneiderbienen machten sich an der Haustür breit.

Die Bienen ziehen ein

Dort hängt ein altes Bastelexperiment, ein sogenannter Flaschengarten aus Plastikflaschen, den ich im Upcyclingrausch ausprobiert hatte. Leider funktioniert die Sache nicht wie überall gepriesen. Die Erde sackt ab, bildet oben Hohlräume, oft durchsetzt von Wurzeln oder auch mal Algen. Man kann keine nachfüllen, ohne die Röhre zu zerlegen - nur werden die Plastikflaschen vom UV-Licht spröde. Sie erhitzen außerdem stark, im Sommer muss man mehrfach Wasser nachfüllen. Kurzum: All die schönen Pflanzen sterben ab. Stattdessen machte sich Scharfer Mauerpfeffer darin breit - der wächst notfalls in ein wenig Sand zwischen Steinen. Ich brachte es nicht übers Herz, den Flaschengarten wegzuwerfen, weil die Blüten des Mauerpfeffers eine einzigartige Wildbienenweide sind.

Was dann passierte, bemerkte ich zunächst nur an meinen "Eichenbabys". Es hatte mich so traurig gemacht, als wegen der Dürre eine etwa 180 Jahre alte Eiche krank geworden war, gefällt wurde. Ein paar von den massenhaft verstreuten Eicheln steckte ich in Blumentöpfe ... und sie keimten! Aber irgendein Monster schien sich mit Wonne auf die maigrünen zarten Blättchen zu stürzen. Solche riesigen Schnittspuren konnten doch unmöglich von einem Käfer stammen? Ich schüttelte, beäugte Blattunterseiten, beobachtete nachts ... kein Schädling wollte sich zeigen. Und dann erwischte ich sie und staunte: Eine kleine Biene sägte sich zielstrebig eine große runde Scheibe aus einem Blatt. Wohin damit? Das konnte sie doch unmöglich tragen? Sie machte es, wie wenn ich zu große Papierbögen transportiere: Geschickt wickelte sie das Blattstück zu einer Rolle, packte sie mit den Füßen unter sich und flog davon. Zum Flaschengarten.


Dort beobachtete ich, wie sie in einem Pflanzloch verschwand, mitsamt ihrer Blattbeute. Und mit ihr kamen andere Kolleginnen mit Eichenblattröllchen. Ich fand dann heraus, dass die wunderschönen Tiere mit ihren rotbraunen pelzigen Unterleibern Bunte Blattschneiderbienen sind, lat. Megachile versicolor (Fotos und Beschreibung hier und hier). Sie sind übrigens kein bißchen aggressiv und lassen sich gut beobachten (meine Makroaufnahmen oben auf Instagram). Faszinierende Mitbewohnerinnen!

Unter all den Insekten ist aber auch ein Gefühl aus meiner Kindheit wieder da, das man der Erziehung wegen und weil man ja gefälligst erwachsen tun soll, gern zu oft verdrängt: Ich fühle Verwandtschaft. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll: Ich fühle mich diesen Wespen und Bienen auf eine verzauberte Weise sehr nah, verbunden. Da ist keine menschliche Hybris, denn wir haben eine Gemeinsamkeit, von der ich lerne. Ich lerne von den kleinen Wesen.

Papierkünstlerinnen

Die Wespen gehören zu den sogenannten Papierwespen. Ich habe ein Atelier für Papierkunst. Wenn ich Paper Clay (eine Mischung aus speziellem Pappmachée und Pariser Gips) herstelle und forme, bin ich die hinterletzte Dilettantin gegen diese Künstlerinnen! Mit ihren feinen Mundwerkzeugen kratzen sie unermüdlich Holzstaub aus einer Pergola oder Totholz, in der schlimmsten Hitze. Noch ist es mir nicht gelungen, zu beobachten, wie sie das transportieren - um dann mit dem eigenen Speichel Waben und ganze Kugelkathedralen aus hauchfeinstem Holzpapier zu bauen. Der letzte Sturm hat mir ein leeres Wespennest vor die Füße geweht und andächtig experimentiere ich mit der Außenhaut im Atelier. Ich habe sie auf uraltes Buchpapier transferiert und staune: Wunderschön geäderte Brauntöne lassen ganz leicht die Buchstaben durchscheinen. So hauchdünn und doch stabil sind diese Bauwerke. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass Wespen im Vergleich zum dörflichen Garagenmaurer die besseren Baumeisterinnen sind!

Ich habe auch versucht, Waben aus Papier nachzuformen. Ein Kinderspiel, einen Streifen zum Sechseck zu biegen. Aber dann kommt der Boden, der Ei und Larve halten muss. Der ist nämlich nicht einfach nur ein Deckel, an dem sich alles, was der Brut schaden könnte, sammlen würde. Wieder wird es dreidimensional und plötzlich für uns Menschen reine Mathematik, vor allem, wenn es sich in wiederholter Reihung zu einer Kugel fortsetzen soll. Ich zeichne, rechne herum, zerbreche mir den Kopf. Die Wespen hinter meinem Klofenster können das einfach. Manchmal stelle ich mir eine Wespe als Makroaufnahme vor, so wie hier auf dem obersten Foto - und wie sie milde über das motorisch nicht sehr begabte Menschlein lächelt.

Am liebsten möchte ich mit ihnen zusammenarbeiten.  So, wie das die Biologiestudentin Maria Menchetti mal gemacht hat, indem sie Wespen bunte Papiere anbot. Die haben dann wunderschöne regenbogenfarbige Nester gebaut! Eine faszinierende Vorstellung: Die Reste von Buchseiten oder farbigem Papier für Paper-Art-Schmuck den Wespen zu spendieren, die wiederum daraus tolle Kunstwerke basteln, die - wenn die Nester verlassen sind - ich wiederum zu Kunst umbauen könnte. Ein Papierkreislauf. Wenn ich denn die leeren Nester finden würde ...

Und dann staune ich die Blattschneiderbienen an, die so lustig ihre Hinterleiber nach oben knicken. Eine Eigenschaft, die sie für den Transport der großen Blattrollen brauchen. Ich brauche Wochen, um so ein Bienenbein zu studieren und aus Papier und Draht nachzubauen. Ich bestaune den Naturmörtel, mit dem sie ihre Nester verschließen. Plötzlich reicht es mir nicht mehr, das selbstgemahlene Ockerpigment für Beschichtungen zu binden. Getrocknete Pflanzenabfälle müssten gemahlen völlig neue Strukturen ergeben ... zumal auf Buchpapier. Mein Arbeiten verändert sich. Ich lerne nicht nur - die fliegenden Könnerinnen inspirieren mich.

Inzwischen fürchte ich mich eher vor Menschen, die Wespennester vernichten wollen (was übrigens außer in Ausnahmefällen verboten ist). Wie mögen die mit anderem Leben umgehen? Was fehlt Menschen, die sich darüber kaputtlachen, dass man mit Tieren oder Pflanzen reden kann?

Die Wespen arbeiten inzwischen auch auf andere Weise im Atelier mit. Ich habe Äste zum Trocknen aufgestellt, weil ich sie für meine Artjournals entrinden möchte. Wo meine Arbeit schon fortgeschritten ist, nagen die Wespen das weiche Holz aus zum Wabenbau. Sie hinterlassen Streifen, mäandernde Wellenmuster, die sich anders färben. Ein wenig wirkt das wie eine Schrift aus einer anderen Welt. So ein Träumestäbchen als Buchrücken, wenn es dann mit den Seiten Assoziationen bildet, wenn das miteinander kommuniziert ... dann lösen sich auch die Grenzen zwischen Natur und Kunst auf.



Tipps zum Umgang mit Wespen und Hornissen vom NABU

8. Juni 2020

Voilà - die Museumskollektion

Pünktlich zur Wiedereröffnung des Museums habe ich endlich meine neue Schmuckkollektion abgelichtet. Ich habe sie als Auftrag speziell für die Maison Rurale gestaltet - und dort wird der Schmuck auch bald im Shop verkauft werden (ich muss ihn nur noch hinbringen ...). Durch Anklicken kann man die Fotos vergrößern.

Die größte Herausforderung war ein Display, das Coronavorschriften entspricht ...


Vorgabe waren Herzen als Form. Nicht nur, weil viele Menschen die mögen, sie gehören als Kulturerbe zu den ältesten Symbolen elsässischer Tradition und sind darum auch Bestandteil vieler Gegenstände und Veranstaltungen des Museums. Ohne Herzen und Lebensbäume ging in alten Bauernhöfen des Landes nichts: Man malte sie auf die Taufbriefe oder schnitzte sie ins Gebälk, man klöppelte sie zu Spitzenornamenten oder verschenkte herzförmige Kekse und Kuchen. Zu unseren Themen als Kulturerbezentrum soll der Schmuck außerdem passen.

Zum Vergrößern anklicken







So habe ich mich inspirieren lassen von unseren uralten Büchern und dem bunt blühenden Bauerngarten, in dem die Schmetterlinge flattern. Ich erinnerte mich an unsere Imkerabteilung und die Bienen, vor allem aber an das Feeling, das die meisten Besucherinnen und Besucher so lieben, wenn sie all die alten Gegenstände betrachten. Man nennt das modern "vintage". So entstand die kleine Kollektion aus Broschen und Kettenanhängern mit Motiven alter Drucke und Bücher, ohne Kitsch und doch fürs Herz. Oder für die Insektensammlerin, die Bücherfrau, die Botanikerin?



Weil es Paperart ist, was aus dem Atelier Tetebrec kommt, sind diese Schmuckstücke entweder als Collage oder mit einer speziellen Layertechnik gestaltet. Und weil in unserem Kulturerbezentrum Ökologie eine wichtige Rolle spielt und wir zeigen, wie die Leute damals nichts verkommen ließen, zeigen die Rückseiten diesmal nackt, woraus sie entstanden sind: aus alten Verpackungen, auf die dann die feineren Papiere montiert werden. Normalerweise verblende ich meinen Schmuck hier mit weißem Papier, diesmal sollte das Upcycling im Vordergrund stehen. Und nicht nur für die Rückseite gilt: Jede Brosche, jeder Anhänger ist ein handgefertigtes Unikat!

Muss es mir eigentlich peinlich sein, dass man hier erkennen kann, was ich konsumiere? Oder gilt die Ausrede, dass ich inzwischen schon den Nachbarn Verpackungen abschwatze, weil diese so hochwertige Pappe haben und meine schon ausgehen? Ausgewählt wird nämlich nach Qualität und Klebeeigenschaften!


Alle Broschennadeln haben Sicherheitsverschluss und sind entweder aus Kupfer oder Bronze, in Europa hergestellt. Die Kettenanhänger hängen an dünnen Kordeln aus Nylonsatin oder geflochtenem Nylon, sind also stabil - und der Knoten ist nach Belieben verstellbar. Die Seiten sind geschliffen und farblich passend lackiert. Ziemlich wasserfest ist der holzharte Schmuck außerdem (man sollte nicht gerade damit duschen) - und je nach Motiv glänzend oder seidenmatt lackiert. Es dauert übrigens ca. eine Woche, bis alle Schichten zu einem Stück "verschmolzen" und richtig durchgetrocknet sind. Danach werden sie nach Bedarf zwei- bis dreimal lackiert.



Bei den gelben Herzen unten wurden Seiten aus einem alten Naturkundebuch verarbeitet und hauchdünnes Farbpapier aufgelegt. Schon deshalb kann kein Schmuckstück gleich sein - irgendwann sind die Seiten verbraucht. Was man auf Fotos leider nicht sieht: Die Papierschichten werden durch die Behandlung hart wie weiches Holz und man erkennt die Lagen auch nicht mehr.



Vintage Paper und alte Drucke stehen hier im Vordergrund. Vor einer Brosche wie der rechts steht erst einmal Recherche: Ich musste abklären, ob auf der Abbildung aus den 1920ern Urheberrechte sind und ob sie kommerziell nutzbar ist. Zum Glück sind da einige Museen sehr großzügig!



Liebhaberinnen alter Schmetterlinge kommen hier auf ihre Kosten.



Und natürlich gibt es Blumen und Pflanzen alter Drucke - hier aus einem Botanikbuch von 1829. Ich achte darauf, dass die Pflanzen in unserer Gegend noch heute wachsen oder zumindest früher, denn so manche Art ist wie bei den Schmetterlingen leider ausgestorben. Die Motive mit Tieren und Pflanzen sind also nicht nur Deko, sondern zeigen tatsächlich regionale Arten.



Hier wieder die Layertechnik, wobei Seiten aus alten Büchern die Unterlage bilden. Die Brosche mit der Weinrebe ist besonders aufwändig entstanden - hier wurde ein mit Rotwein und Pflanzen gefärbter Teebeutel aufmontiert. Er verschmilzt völlig mit dem Buchpapier und wird seidenmatt-streichelzart versiegelt.



Das ist ein Versuchsstück, ein Dummie. Ich wollte wissen, wie das farbige Papier mit den Blüten auf Buchseiten herauskommt. Ich mag es sehr! Und damit kann ich nun jede Wunschform anfertigen und sogar dicke Zylinderperlen drehen. Denn auch das gibt es im Atelier Tetebrec: Schmuck nach Wunsch, nach Maß! Natürlich immer aus PaperArt und so geht's. Mich einfach kontaktieren!



Sehe ich lange Gesichter? Weil die Grenzen noch geschlossen sind? Weil das Elsass zu weit weg liegt? Weil man während der Pandemie nicht reisen möchte?

Keine Angst, ich habe auch ein Herz für solche Wünsche!
Ich verkaufe diese Broschen und Ketten auch online, frei Haus. Es lohnt sich kaum, solche Kleinigkeiten in den Etsy-Shop zu hiefen, zumal ich dort für jedes einzelne Stück einen Obolus zahlen muss, ob ich verkaufe oder nicht. Ich richte da auf meiner Website eine Ecke ein und gebe im Newsletter bekannt, wo man sie findet. Der kommt demnächst raus, also HIER schnell abonnieren!

Es wird - wegen der Unikate - natürlich nicht die identischen Stücke wie hier geben. Aber mit dem gelben Papier und dem Naturkundebuch kommen weitere Seiten. Die Blumen- und Tiermotive sind einigermaßen wiederholbar, werden vielleicht nur andere Ausschnitte zeigen. Vintagepapiere laufen, solange der Vorrat reicht, oft habe ich nur einen einzelnen Bogen. Und das runde Stück ganz unten: So etwas kann ich in allen Formen und Größen gestalten, so schnell gehen mir die Bücher nicht aus!

Mit dem Kauf des Schmucks tut ihr nicht nur etwas für die Umwelt: Ich verwende dafür Verpackungskartons, Buchpapiere etc. und möglichst umweltfreundlich und bewusst eingekauftes Zubehör. Ihr tut außerdem etwas für eine Künstlerin, die ansonsten durch die Pandemie ohne Veranstaltungen dasitzt, ohne Kunsthandwerkermärkte. Und leider werden auch die BesucherInnen im Museum weniger zahlreich kommen. Mehr dann auf meiner Website!

Noch ein Schmankerl zuletzt: das Display. Ich musste mir etwas ausdenken, was nicht viel Platz wegnimmt, zum Stil des Museumsshops passt und vor allem den Coronavorschriften entspricht! Es ist nämlich jetzt absolut verboten, Produkte zu berühren. Vorbei die Zeiten, als man in Kistchen wühlen durfte oder an Ständern aufgehängte Ketten anfassen. So kam ich auf die Idee, die Visitenkarten zu nutzen. Die bekommen oben ein Loch und werden an Nadeln aufgehängt. So lässt sich möglichst viel erkennen und die Mitarbeiterin kann sie leicht von der Nadel nehmen.

Auch das Gestell ist Upcycling: Ein alter Rahmen ohne Glas vom Sperrmüll wurde gesäubert. Auf die Rückseite habe ich als Polster Dämmfolie gelegt und obenauf einen Teil von einer kaputten Jeans. Durch das Polster wird es plastisch und die Nadeln halten leichter. Fertig! Ich sollte nun nur endlich einmal aktualisierte Visitenkarten bestellen. Aber in Krisenzeiten gehen auch mal handverbesserte durch.

6. Juni 2020

Virtuelle Lesungen: nur eine Pandemieerscheinung?

Die einen jammern, die anderen finden es super: Virtuelle Lesungen oder Veranstaltungen mit AutorInnen in Zeiten der Pandemie. Funktionieren sie? Die üblichen Debatten wie zwischen Papier und Digital führen uns hier nicht weiter, sind sie doch letztlich reine Geschmacksstreitereien. Ich habe in den letzten beiden Monaten so viele AutorInnenveranstaltungen online besucht wie nie zuvor welche im "echten Leben". Weil mich die Inhalte interessierten, aber auch, weil ich als Autorin lernbegierig bin, was wie funktioniert und wo Vorteile und Nachteile liegen.

Waren das noch Zeiten, als man mit Papierplakaten an Ortseinfahrten für Real-Live-Veranstaltungen warb ...


Ich muss vorweg bemerken: Ich habe ausschließlich englischsprachige Veranstaltungen "besucht". Deutschsprachige haben sich mir entweder nicht in Social Media entgegengedrängelt oder es waren nicht meine Themen oder es handelte sich um reines Vorlesen. Wenn letzteres nicht einigermaßen professionell geschieht, also genuschelt und ohne Intonation heruntergeleiert wird, bin ich ganz schnell auf dem "Verlassen"-Button. Hier wäre also zu untersuchen, ob es tatsächlich an den passenden Veranstaltungen mangelt (was ich nicht glaube) - oder ob sie einfach nicht richtig an die Frau gebracht werden oder nicht so appetitmachend wie im angloamerikanischen Raum.

Noch ein kultureller Unterschied vorweg: Auf der ganzen Welt ist man sich darüber einig, dass Kulturschaffende von etwas leben müssen. In Deutschland herrscht leider noch oft die Idee vor, virtuelle Inhalte seien nichts wert, können / sollen umsonst sein. Ob das Format in einem Schloss stattfindet oder auf Zoom: Es muss finanziert werden. Vor allem AutorInnen müssen von etwas leben. Buchhandlungen auch. Und deshalb wird im angloamerikanischen Raum völlig selbstverständlich über Geld geredet - und da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten:
  • Die Veranstaltung ist kostenlos und wird darum von vornherein voll gesponsert. Mäzene und Gönner werden stolz und selbstverständlich genannt.
  • Die Veranstaltung kostet einen Obolus, der automatisiert und einfachst über Ticketplattformen eingezogen wird. Privat geht das auch über Spendenbuttons oder Seiten wie Steady oder Patreon, die nach Crowdfundingprinzip funktionieren.
  • Die Veranstaltung ist "pay what you like" (auch über Ticketplattformen). Wer kein Geld hat oder nicht zahlen will, zieht ein kostenloses Ticket. Bei allen anderen ist es wie mit meinem Spendenbutton rechts im Blog: Man kann den KünstlerInnen eine Tasse Kaffee spendieren - oder nach Gusto mehr. Dabei wird sehr deutlich und klar darum gebeten, dass man sich, wenn man schon nichts zahlt, das Buch kaufen möge - Bestellbuttons begleiten einen bei jedem Schritt. Und ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber nichts zu geben, fühlt sich außer bei Armut echt schlecht an. Und letzteres ist ein wichtiger Punkt: Diese Form schließt sozial niemanden aus - Kulturteilhabe für alle, ohne Scham, dass man sich das nicht leisten kann.
Was ich mir angeschaut habe, waren Veranstaltungen im Bereich erzählendes / literarisches Sachbuch, wobei die Veranstalter selbst aus allen möglichen Richtungen kamen - wie im echten Leben auch muss man nicht zwingend in Buchhandlungen lesen. Das könnte natürlich daran liegen, dass man englischsprachig die ganze Welt erreicht, aber dann nicht unbedingt Kundschaft aus Australien, Frankreich oder Norwegen in einer amerikanischen Buchhandlung bestellt. Halt. Stopp. Vielleicht doch - die hat nämlich meist einen Amazon-Shop und verteilt darum auch fleißig Buchlinks. Und zwar auch, wenn sie für lokales Shopping ist - sie verbaut sich diese Chance nicht grundsätzlich.

Und wie geht so was?

Manchmal geht's klasse und manchmal gar nicht. Oder anders gesagt: Wie im echten Leben gehört eine gewisse Professionalität dazu, die ZuschauerInnen bei der Stange zu halten. Mindestvoraussetzungen sind funktionierende Hardware und Beleuchtung, aber auch:
  • Der richtige Umgang mit der Technik: ModeratorInnen müssen moderieren können und sollten nicht krampfhaft nach dem richtigen Button suchen, wenn es an Fragen und Antworten geht. AutorInnen sollten einigermaßen in die Kamera geradeaus blicken und nicht nach unten in den Laptop - das ergibt nämlich den Augenkontakt mit dem Publikum.
  • Noch tödlicher als im echten Leben ist langes und langweiliges Vorweggelabere. Im Internet sitzt der Finger zum Weitersurfen nämlich locker. Anders als in einem realen Raum ist die Verlassen-Taste extrem leicht zu klicken und es sieht einen nicht mal jemand dabei - außer der Veranstalter. Es muss von Anfang an packen: in medias res gehen, knackig sein!
  • Wie im echten Leben wirkt Charisma. Aber ich habe den Eindruck, dass es virtuell noch wichtiger ist, Persönlichkeit, Lebendigkeit und Leidenschaft zu zeigen. Ich habe Menschen erlebt, die mich regelrecht aus den Socken hauten - und echte Schlaftabletten, denen man ansah, sie hatten an dem Abend nichts Besseres vor.
  • Am besten läuft die Sache, wenn man im realen Raum wie im virtuellen schlicht die Chancen des jeweiligen Mediums auslotet und nicht versucht, Veranstaltungen 1:1 zu übertragen. Das scheitert nicht nur um Gläschen Wein.
Es ist natürlich Geschmackssache, aber das Format, das mir persönlich am wenigsten zusagte, war die reine "Wasserglaslesung". Da ist zum einen die Frage, wie gut jemand in Performing ist. Auch wenn es durchaus Fans von Online-Lesungen gibt, wo jemand vor hellem leeren Hintergrund am Tisch sitzt und nichts anderes macht ... als zu lesen. Das Problem ist vor allem: Es gibt digital Konkurrenzformate, die zu nah dran sind! Wir alle kennen die Leute, die bei Lesungen die Augen schließen, um sich besser konzentrieren zu können, um den Raum auszuschalten und sich in eine andere Welt entführen zu lassen. Das Augenschließen am Computer bedeutet schlicht Audio. Da kann ich auch einen Podcast machen oder eine Audiospur auf Youtube legen. Für Video und Film muss ich schlicht etwas fürs Auge bieten! Für Interaktivität noch mehr. Denn am Bildschirm ermüdet man auch schneller, wenn sich nichts zeigt.

Wie ich ein schlechtes Buch schnell weglege, so schnell verlasse ich langweilige oder schlechte Online-Veranstaltungen. Was mir selbst einen üblen Druck verschafft, denn ich will ja auch mal vor der Kamera stehen und nicht miterleben müssen, wie Leute reihenweise wegklicken. Aber das gehört einfach zum Medium dazu und trifft übrigens am ehesten die kostenlosen Formate. Nach dem alten Großmutterspruch "was nichts kostet, ist nichts wert" sitzt hier der Finger besonders locker! Man konkurriert mit dem Fernsehprogramm, mit dem wartenden Computerspiel oder einem heißen Twittertrend ... Nicht immer bedeutet so ein Verlassen also, dass die Veranstaltung grottenschlecht wäre, manchmal reizt nur etwas anderes mehr. Und manchmal sind es schlicht auch technische Probleme, weil die Internetverbindung schwankt.

Dafür bin ich aber auch lockerer drin: Ich muss mich nämlich nicht aufbrezeln und feinmachen! Und kann relativ kurzfristig und spontan entscheiden.


Positiv feststellen muss ich bei moderierten Veranstaltungen: Die besten waren diejenigen, wo SchriftstellerkollegInnen die Gesprächsführung übernahmen, denn die wissen jenseits der Technik am besten, wie sie ihr Gegenüber lebendig machen können und spannende Fragen stellen, auf die andere Buchleute oder reine ModeratorInnen gar nicht kommen.

Die großen Unterschiede

Es gibt bestimmte Punkte, bei denen unterscheiden sich virtuelles und physisches Format grundlegend:
  • Ich erreiche nicht nur örtliches Publikum. Gestern erlebte ich wieder ein Autorengespräch, bei dem Leute aus den USA, Europa, Australien und Neuseeland am Bildschirm saßen.
  • Es gibt ein Bequemlichkeitsparadox: Leute müssen nicht nach draußen und können im Schlafanzug teilnehmen. Die gleichen Leute nehmen aber oft massive Zeitverschiebungen in Kauf und schauen auch mal nachts oder morgens um fünf zu!
  • Je nach Abo und Technik kann der virtuelle Saal proppevoll sein (als ich mich gestern einloggte, war ich Nummer 69 und ich war extrem früh dran). Andere Veranstaltungen haben Hunderte von TeilnehmerInnen. Auch bei "pay what you want" kann durch die Zuschauermenge so viel Geld herumkommen wie bei einer örtlichen Veranstaltung - und das sind alles potentielle BuchkäuferInnen.
  • Virtuelle Kulturveranstaltungen können ein sozial inkludierendes Moment haben s. o. bei Bezahlungen. Viele örtliche Veranstaltungen schließen Arme leider immer noch aus - und zwar nicht nur über den Eintritt. Es gibt auch andere Hemmschwellen.
  • Es gibt den Unterschied zwischen Bequemlichkeit am Bildschirm und Feinmachen fürs Ausgehen.
  • Auf Zoom wirken auch BestsellerautorInnen und Promis oft rührend privat und "zum Anfassen". Vor Ort ist die Distanz größer.
  • Wird die Veranstaltung als Konserve aufgenommen, lässt sie sich weiter als Werbeinstrument via Social Media / eigene Website nutzen.
  • Die Konkurrenz an Veranstaltungsfülle ist virtuell nicht kleiner als vor Ort, aber die KundInnenbindung läuft einfacher, meist direkt über die AutorInnen, via Social Media oder Blogs, Interviewformate und Podcasts. Verlage spielen eher eine untergeordnete Rolle: Die Leute interessieren sich für ihre LieblingsautorInnen, Genres und Themen.
  • Für AutorInnen liegt der größte Unterschied im Aspekt Publikum. Vor Ort spüre ich die Energien, sehe die Menge, höre das Klatschen. Virtuell sehe ich nur hereinrauschende Namen, habe kaum Zeit, den Chat zu beobachten, und schaue in eine nackte Kamera. Im Normalfall konzentriere ich mich auf das Bild der GesprächspartnerInnen. Begrüßungen und "Klatschen" laufen im Chat ab, also stumm, verschriftlicht. Bei manchen interaktiven Veranstaltungen kann ich die TeilnehmerInnen sehen und hören, falls diese den Kamerazugang nicht deaktiviert haben. Wieviele man da auf einmal bedienen kann, hängt an der Internetverbindung, der Bildschirmgröße und dem Prozessor (ich kann z.B. 25 Menschen auf einmal auf den Bildschirm holen). Für echte "Rampensäue" kann das ernüchternd sein, für eher Schüchterne oder Kameragewohnte aber auch hilfreich.
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Meine beiden persönlichen Highlights

Von denen will ich noch erzählen, weil ich an ihnen viel gelernt habe, wie man etwas gut macht.

Nr. 1

... war ein Webinar mit einer Bestsellerautorin zu ihrem Buch, moderiert von einem anderen Bestsellerkollegen, kurz vorgestellt vom Onlinemagazin, das die Veranstaltung sponserte und die Technik bediente. Es war die Endveranstaltung eines mehrwöchigen Buchclubs, wo Leute - ohne die Autorin - miteinander das Buch gelesen und darüber gesprochen hatten. Die Konserve kann man hier anschauen: Braiding Sweetgrass von Robin Wall Kimmerer, mit Robert Macfarlane, Autor von Underland und anderen Büchern aus dem Bereich Nature Writing. Veranstaltet vom amerikanischen Emergence Magazine (die haben einen Schwerpunkt Nature Writing).

Schlau gemacht ist das Format, weil man damit einerseits den Buchclub von vorher zum treuen Publikum hat, aber auch externe BesucherInnen anspricht, die speziell diese Konstellation von Autorin und Autor sehen wollen und sich für das Thema interessieren, das Buch vielleicht noch nicht gelesen haben. Kaufen werden das Buch treue Fans ohnehin - und nicht nur das - die anderen Bücher von beiden wurden ebenfalls vorgestellt und zum Kaufen verlinkt.

Ich hatte bei diesem Live-Event tatsächlich öfter mal Tränchen in den Augen. Wenn zum Beginn in der Chatspalte die Grüße aus aller Welt reinrauschen, von all den Leuten, die zugeschaltet sind, ist das ein faszinierendes Gefühl. Man ist plötzlich Teil einer riesigen Menge Menschen, die rund um den Erdball wohnt - bei diesem Event wurde tatsächlich sogar die Datumsgrenze überschritten. Und weil es um indigenes Wissen ging, kamen diese Grüße auch noch in allen möglichen indigenen Sprachen der Welt - es war unbeschreiblich. Das kann das Grüppchen mit 25 BesucherInnen, bei dem der Bürgermeister untertänigst und ellenlang begrüßt wird, natürlich nicht herausreißen.

Und so weltumspannend und riesig das wirkte, so privat und sehr menschlich wirkten die beiden Akteure. Da ist eben keine Bühnendistanz, sondern das eigene Wohnzimmer. Und unwillkürlich macht man das, was man als BesucherIn bei Fremden so macht: neugierig das Buchregal inspizieren, über - wie in einem anderen Webinar - herumliegende Spielzeugmonster lächeln. Oder nachher noch darüber reden, wie erfrischend einfach dieser Keller in Cambridge wirkte, aus dem Macfarlane vor einem Bücherregal sendete. Robin Wall Kimmerer - ich beschrieb das mehrfach im Blog - ist eine Frau, die Leute unabhängig vom Format bezaubert. Denn sie hat nicht nur Charisma, sie lebt, was sie schreibt und sie sie hat die Glut von Leidenschaft für ihr Thema.

Das sind Menschen, die einen tatsächlich auch im Leben prägen können, die inspirieren und vielleicht sogar etwas lostreten, was vorher nicht da war. Und das große Geschenk ist, dass ich diesen Menschen von überall aus live zuhören kann, ihnen Fragen stellen kann. Die Chance, eine Robin Wall Kimmerer irgendwann in meiner Nähe erleben zu dürfen, kann ich mir an einer Hand abzählen: Sie beträgt Null. Auch einen Macfarlane werden allenfalls Großstädter erleben können und das kostet dann erheblich mehr Geld und Energie: Zum Eintritt kommen Fahrtkosten, evtl. teure Parkgebühren, vielleicht ein Essen.

Das ist einer der Punkte, den ich an diesen Zoom-Veranstaltungen am meisten liebe: Plötzlich bin ich Landei an die große Kultur dieser Welt angeschlossen und kann mir alles ins Haus holen, ohne erst ins Auto steigen zu müssen, weil es keinen ÖPNV hier gibt, abends schon gar nicht! Das rechnet sich auch beim Bezahlen: Für die gesparten Transportkosten kann ich schon wieder ein zweites Ticket für etwas anderes kaufen. Der Konsum an Veranstaltungen steigt - früher hätte ich mich um die Zeit gemütlich vor den Fernseher gesetzt oder mit einem Buch aufs Bett gelegt. Und ich denke an die Chancen im Winter!

Nr 2.

Auch die Veranstaltung gestern war erfrischend nah und in der lebendigen Gesprächsführung hochspannend. Im Chat konnte man nachlesen, dass es vielen so ging wie mir: Wir hätten noch Stunden zuhören können, die Zeit verflog viel zu schnell. Und das lag daran, dass zwei miteinander sprachen, die beide vom Fach sind, beide im gleichen Spektrum schreiben - und keinerlei Konkurrenzgehabe erkennen ließen: Helen Macdonald, Bestsellerautorin von "H is for Hawk" (dt. "H wie Habicht") interviewte Merlin Sheldrake zu seinem Buch Entangled Life: How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds and Shape Our Future (Konserve auf Facebook). Veranstaltet vom Buchladen Point Reyes Books nördlich von San Francisco, auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge, in Zusammenarbeit mit dem Emergence Magazine. Das Buch erscheint im September in Europa, dann auch auf Deutsch als "Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen."

Mein Lieblingsthema Pilze! Und mehr, was mich faszinierte. Ich hatte in Robert Macfarlanes Buch Underland das Kapitel über Merlin Sheldrake und seine Arbeit gelesen und war schon damals gespannt auf dessen Beiträge. (Die Nature Writing Szene ist global, scheint aber recht übersichtlich zu sein: Irgendwie kennt jeder jeden). Und ja, der Name, das ist ein Sohn des berühmten Rupert Sheldrake, der in meinen jungen Jahren ein Weltbild erschütterte mit seiner Hypothese von den morphogenetischen Feldern!

Und ja, er ist ein bißchen so wie sein Name vor der Kamera. Ein Mensch, der durchaus etwas Elfenhaftes hat, auch in seinem versonnenen Lächeln und leisem Auftreten. Eine Figur, die ich mir gut in Romanen vorstellen könnte: Als er erzählte, hatte man den Eindruck, er befände sich noch halb mit irgendwelchen Fühlern in der Erde, angeschlossen an das Pilzmyzel, von dem er erzählte und dann eine innere Glut für sein Thema fühlen ließ. Ich habe selten einen Menschen auf der "Bühne" erlebt, der so voller Bescheidenheit und Charme ist. Als er dann zum ersten Mal sein Glas hob, musste ich grinsen - er trank seelenruhig sein kleines Bierchen.

Da wusste ich noch nicht, was es damit auf sich hatte. Weder, dass er selbst Bier braut, noch was er sich so einverleibt und warum. Über diese Technik sprach er bei der Veranstaltung auf Pilze bezogen. Sie mag fürs Schreiben eines Krimis nicht funktionieren, für einen Science Fiction zu irdisch sein. Aber er hatte mich sofort beim Wickel, weil ich das auch praktiziere: Seit ich meine Art Journals mit jahrhundertealten Lindenholz-Stäbchen versehe, gehe ich nicht nur die Bäume riechen, fühlen, schauen, anhören - ich schmecke sie. Trinke Lindenblütentee, esse junge Blättchen, süße mit Lindenblütenhonig. Ich kenne die Technik von alten Kräuterfrauen im Elsass, die sagten: "Wenn du eine Pflanze begreifen willst, setz dich ihr ganz aus und probiere sie und hinterlasse etwas von dir."

So abgehoben das für manchen klingen mag, ich habe das auch in einem Nature Writing Kurs mitbekommen, wie man daran arbeiten kann, die eigenen Sinneswahrnehmungen zu verfeinern, etwas in sich aufzunehmen, auch körperlich - und schließlich lernt, den eigenen Standpunkt, die Perspektive zu verschieben.

Und jetzt kommt dieser Wissenschaftler und Pilzforscher daher und erzählt, dass er während des Schreibens sehr engen körperlichen Kontakt mit den Pilzen suchte und natürlich auch viele verzehrte. Was ich erst nachher las (es steht auch im Buch): Er hat sich so auch von seinem Buch getrennt! Ein Exemplar gab er als Nahrung an Austernpilze, die er sich dann zubereitete. Nicht nur ein Werbegag, dieses Foto - er konnte damit wunderbar erklären, was Austernpilze alles als Nahrung nutzen können und wie sie die Stoffe umwandeln. Er aß die Pilze, die sein Buch aßen und damit seine verdauten Worte. Und ein zweites Exemplar hat er dann - Pilzen sei Dank - zu Bier gemacht. Das kleine Bierchen vor laufender Kamera ... was er sich wohl damit einverleibte?

Auch hier wieder wirkt ein Autor, weil er lebt und glaubt, was er schreibt. Das ist damit gemeint, wenn einem AgentInnenen raten, man solle die Wahrheit schreiben, wahrhaftig sein. Wie sehr sein Einverleiben und die Perspektivwechsel Wahrnehmung und Schreibenkönnen verändern, bekam man mit, als er das Unmögliche beschrieb: Ein lebendes Wesen, das eins und viele ist. Ein Lebewesen, das sich nicht entscheiden muss, weil er mehrere Wege gleichzeitig schafft. Ein Wesen, das sich menschlichem Vorstellungsvermögen und Sprache eigentlich entziehen müsste - dieser Autor schafft es, dass man sich die kompliziertesten Sachverhalte vorstellen kann. Denn das ist ein Buch über Pilzforschung.

Zu einer professionellen Veranstaltung gehört natürlich mehr als Brillanz, Charme und ein tolles Thema. Helen Macdonald hat kollegial, wissend und begeistert interviewt und sich dabei selbst angenehm zurückgenommen. Mit Leichtigkeit hat sie Schweigesekunden oder ein Stocken füllen können. Der Buchhändler hat sich sachlich und angenehm knapp als Moderator betätigt, eine kleine Einführung gegeben und die Bitten um Einkauflinks für die genannten Bücher aus dem Chat regelrecht angeheizt und gern bedient. Er hat dafür gesorgt, dass die Technik funktionierte und die Publikumsfragen zu Wort kamen. Weil die Zeit nicht reichte, blieb die Möglichkeit, dem Autor zu mailen.

Ganz "amerikanisch": Ich lebe u.a. vom Schreiben. Wenn euch der Artikel gefallen oder bereichert hat, freu ich mich über einen Kaffee oder mehr! Mit dem Spendenbutton gelangt ihr auf die Plattform Paypal (s. Datenschutzerklärung). Man braucht kein eigenes Paypal-Konto dafür und kann auch nur 2 E für einen Kaffee anweisen (nach oben offen). Medien, die den Beitrag übernehmen wollen, gehen natürlich den offiziellen Weg der Vorabanfrage bei mir!


Fazit

Beide Formate sind sehr unterschiedlich. Man würde allzuviel Chancen verschenken, wenn man den gleichen Fehler beginge wie zwischen gedrucktem und digitalen Text, wenn man diese lediglich 1:1 überträgt. Jedes Format hat seine Vor- und Nachteile.
Auf keinen Fall jedoch sollten wir diese Zoom-Veranstaltungen nach der Pandemie ad acta legen! Vielleicht wird die Software eines Tages wechseln, aber virtuelle Veranstaltungen haben einen Platz im normalen Leben verdient, sind ein selbstverständliches Medium geworden wie Podcast oder youtube-Tutorial. Ganz so einfach, wie es aussschaut, ist die Sache allerdings nicht: Man sollte sich auskennen und professionell arbeiten.
Dann aber lässt sich das gemütliche Wohnzimmertreffen mit jemandem aus dem Selfpublishing, wo nur wenig Technik und Finanzen da sind, genauso gestalten wie das globale Ereignis mit mehreren Personen, wo dann mindestens eine für die Technik sorgt. Wir müssen auch nicht mehr klagen, dass es keine guten Literatursendungen mehr im Fernsehen gibt - mit Konferenztechnik kann das jede/r aus der Branche selbst aufziehen!

1. Juni 2020

Der freundliche Alien

Ich schreibe wieder. So richtig und wahrhaftig, mit Ladungen von schlauen Büchern, die sich in Haufen um mich gruppieren. Ein Essay "nur", so dass ich auf eine alte Technik nicht vertrauen kann, die mir bei meinen Romanen recht nützlich war: Da träumte ich nämlich manchmal die folgenden Kapitel und lektorierte die dann einfach an der Tastatur. Geht nicht bei einem Sachthema. Trotzdem will ich euch von meinem "Schreibkopf" erzählen.

(c) Petra van Cronenburg


Ich bin in einer Situation mit vielen Menschen, eng beieinander stehenden Menschen. Niemand trägt Masken und ich genieße das Miteinandersein und denke: Endlich ist die ganze Katastrophe vorbei! Einer der Menschen ist der Tierarzt, der Bilbo untersucht, und ich beuge mich auch über den Hund und stelle mit Erschrecken fest: Ich habe keine Maske dabei! Das macht mich völlig panisch, weil ich Angst habe, dass der Tierarzt die Impfung verweigert, wenn ich ihn gefährde. Ich renne los, auf der Suche nach meinen Masken, die ich in einem verschließbaren Plastikbeutel aufbewahre.

Lande wieder unter Menschen, suche panisch, zu lange will ich Bilbo nicht in der anderen Welt alleine lassen. Denn das weiß ich jetzt ganz klar: Ich bin in einem Paralleltraum gelandet! Irgendwo in meinem Gehirn muss der Traum mit Bilbo weiterlaufen, denke ich. Jemand gibt mir ein Plastikpäckchen - ob ich das gesucht hätte? Meine Masken! Aber es ist zu dick, zu hart. Verwirrt öffne ich es. Die anderen Menschen sind jetzt verschwunden, ich kann sie nicht fragen, wo meine Masken abgeblieben sind. Denn aus dem Päckchen hole ich etwas Seltsames.

Es ist eine uralte Steintafel, wie man sie in einem altägyptischen oder mesopotamischen Grab vermuten würde. Eine rätselhafte Antiquität mit hieroglyphenartigen und keilschriftförmigen Zeichen gleichermaßen und kleinen gemalten Bildern. Jemand flüstert mir zu, ich solle damit zu Sotheby's. Als ich genauer hinschaue, erkenne ich, dass die Ockerfarbe erstaunlich frisch aussieht. Und da sehe ich es: Die Tafel ist am unteren Rand signiert, mit Auflagenzahl. Ich stehe und staune und denke darüber nach, wie aus Masken ein archäologischer Fund werden könnte, der wiederum eigentlich Kunst ist. Oder wird die Kunst zur Antiquität und die Maske war nur ein böser Traum? Eines der kleinen Wesen auf der Steintafel zwinkert mir zu: Es ist Anubis, nein Bilbo, den ich in Traum 1 alleingelassen hatte!

Ich packe die Tafel ein, vielleicht könnte sie noch zum Wegweiser werden, denke ich. Renne los und springe in das, was ich für den Eingang in Traum 1 halte.

Plötzlich knallt etwas Schweres auf meine Schienbeine. Ich packe die Tafel fester, ich würde sie um nichts in der Welt verlieren wollen. Aber ich kann mich nicht mehr bewegen, liege jetzt flach, mit diesem schrecklichen Gewicht auf den Beinen.

Freundliche kleine Marsmännchen rennen um mich herum und lachen zwitschernd, halten sich die Bäuche. Dass es Marsmännchen sind, weiß ich, weil ich mich in einem riesigen Raumschiff befinde und weil sie aussehen, wie ich als Kind immer Marsmännchen gesehen habe. Eine Mischung zwischen den Adipose von Dr Who in Grün und den Außerirdischen in den Lustigen Taschenbüchern von Disney mit niedlichen Stielaugen.



Ich muss so verdattert und blöde ausgesehen haben, wie Homo sapiens nur aussehen kann, denn sie zwitscherten immer noch. Einer sprach mich durch eins dieser genialen Traumsimultandolmetschprogramme an, ich solle mich in der Startphase nicht zu sehr bewegen. Sie hätten irgendeinen künstlichen Gravitationsdingenssimulatornanoteilchenzeugsundkrempel um meine Beine schnallen müssen, weil wir zarten Menschlein sonst die Beschleunigung nicht aushalten würden. Das leuchtete mir ein. Es klang wie Wharp hoch Drei. Aber ich muss noch immer ziemlich blöde ausgesehen haben.

Also klärten mich die netten Aliens auf, dass wir auf einer herrlichen Abenteuerreise in einen dieser herrlich bunten Sternennebel seien, die ich mir im Internet so gerne angeschaut hätte. Klasse - ich surfe im Internet und gelange auf große Fahrt dorthin - so einfach ist das? Wieder dieses Zwitschern. Die Aliens erklären mir, dass ich sie schließlich extra bestellt hätte. Weil ich mich mit einfachen Träumen nicht begnügen würde. Weil ich unbedingt zwischen Parallelträumen hin- und herspringen wollte. Ob ich denn ernsthaft glauben würde, dass das ohne Wharp hoch Drei möglich wäre?

Inzwischen drückt die Nanozeugdingensklammer beträchtlich auf meine Schienbeine, fühlt sich aber angenehm warm an. Wir seien gleich da, meint der freundliche Alien, der genauso maiengrün ist wie die anderen, aber irgendwie übersetzt wird. Ich müsse nur das Ziel gut anvisieren, denn das Raumschiff würde mit meiner Gedankenkraft gesteuert.

Vorsichtig krame ich die Tafel heraus und wische sie mit dem Ärmel ab. Homo Sapiens ist wirklich deppert - als ob pseudoantike Tafeln im Weltall einstauben würden! Das Wesen zwischen den fremden Schriftzeichen zwinkert mir wieder zu. Ob das irgendwas ...

... wir rasen in einen farbigen Nebel, alles dreht sich in mir, nur die Beinklammer hält mich noch fest. Plötzlich sind die Aliens verschwunden, das Raumschiff hat sich aufgelöst, alles ist weg und ich bin völlig desorientiert. Es hält mich nur die warme schwere Klammer in der Realität. Ich stelle fest, dass ich Traum 1 verfehlt habe. Ich bin stattdessen aufgewacht. Aber der schlimm vermisste Bilbo ist wieder da. Er liegt mit seinem vollen Gewicht selig schnarchend quer über meinen Schienbeinen. Irgendwann muss er sich dort auf die Bettdecke geschmissen haben. Eigentlich hat er gelernt, dass man sich nicht auf Menschen schmeisst, weil Homo sapiens nicht nur ein bißchen blöde, sondern auch noch ein bißchen zu zart für solches Gewicht ist.

Aber er ist es: Er ist der künstlichen Gravitationsdingenssimulatornanoteilchenzeugsundkrempel, der Menschen in Träumen und im All stabil hält.

Ich wollte heute ein wenig über mein Essay nachdenken. Wird es dabei auch um Interspezies-Kommunikation gehen? In meinem Text tappt ein kleines Wesen namens Homo sapiens durch eine Landschaft und sucht den Ausgang aus einem (Alp)traum. Es hat Relikte hinterlassen und wähnt sich kunstvoll. Wenn ich doch nur diese Tafel mitgenommen hätte! Ich bin mir sicher, da stand alles drauf. Aber der Gravitationsdingenssimulatornanoteilchenzeugsundkrempel zwinkert mich an und will gefüttert werden. Ich habe das Gefühl, er wird mir heute noch einiges erzählen, vielleicht sogar in Wharp hoch Drei?