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15. März 2020

Ein Tag wie bei Netflix

Boah, fühlt sich das irreal an! Eben im dt Radio die Durchsage, Menschen, die aus Hochrisikogebieten kämen, müssten sich freiwillig 14 Tage in Quarantäne begeben. Das RKI hat den Grand Est zu einem erklärt. Das schien schon irreal, weil der Grand Est ein künstliches politisches Gebilde ist, das bis in die Champagne reicht, mit extremen Unterschieden von Fallzahlen.



Ich bin also ein Mensch aus einem Hochrisikogebiet - und huste dank Frühjahrsallergie übrigens üppig. Dystopische Bilder im Kopf: Noch prüft man uns die Temperatur aufgrund der Autonummer an der Grenze. Ob wir irgendwann etikettiert werden? All die Deutschen, die gestern noch in unseren Läden gehamstert haben - ob die wirklich deshalb in Quarantäne gehen? Welcher Trieb siegt: das Hamstern oder Nachdenken?

Ja, #PhysicalDistancing ist das Gebot der Stunde. Im Grenzland aber fühlt es sich an wie eine Serie von Netflix. Alltag gekappt, Familien gekappt. Wer mich jetzt besucht, soll nicht nur Abstand halten, sondern in Quarantäne. Ich käme mit meiner Husterei gar nicht mehr über die Grenze. Zum Glück habe ich niemanden, den ich betreuen muss. Andere verzweifeln, weil die pflegebedürftigen Eltern vielleicht auf der "falschen" Seite der Grenze leben. Andere werden notgedrungen mit der ganzen Familie in Quarantäne gehen.

Es fühlt sich irreal an, weil hier die Kinder lachend in den Gärten spielen. Weil die Kommunalwahlen wider besseren Wissens nicht verschoben wurden. Restaurants und Bars werden geschlossen, Wahllokale immerhin mal desinfiziert. Ob die Rechnung aufgeht für Macron? Eine geringe Wahlbeteiligung hat bisher immer den Rechtsradikalen geholfen.

Wir sind Hochrisikogebiet, der Frühling ist endlich da, die Sonne scheint. Die ersten Motorradfahrer schwärmen aus, #PhysicalDistancing mit Helm und Kluft und in Abstand. Jemand führt seinen Hund aus. Kinder spielen Basketball und die Straßen sind gespenstisch leer, sogar für hiesige Begriffe. Jemand braust im offenen Cabrio vorbei. Wer uns jetzt aus Deutschland besuchen würde, müsste in Quarantäne. Die Bundespolizei misst uns an der Grenze die Temperatur, nicht aber den eigenen Leuten ...

Das hat etwas Gespenstisches. Es erinnert mich an Tschernobyl. Nicht vergleichbar, aber man konnte die Gefahr auch nicht sehen. Man brauchte Jahre, um das Trauma zu verarbeiten. Einschnitte wirkten nach. Nicht zu vergleichen. Aber ich denke an die Einsamen, die Zerbrechlichen. Für die unser Museum immer ein niederschwelliger Ort für soziales Miteinander war. Die oft nicht im Internet unterwegs sind, die menschliche Zuwendung suchen. Wo mögen sie jetzt sein? Wie werden sie es überstehen?

Ich stelle fest, wie wichtig unsere kleinen Clubs sind: diese Leute haben wenigstens ihre Namen, Kontaktdaten. Und die anonymen? Mir geht auf, wie strunzdumm der Begriff #SocialDistancing ist. Es muss #PhysicalDistancing heißen! Unter #SocialDistancing leiden wir doch schon seit Jahren, das hat uns so egoistisch werden lassen, die Mitmenschlichkeit oft vergessen lassen, die Empathie.

Warum haben wir nicht ähnlich wie beim Klopapier vorgesorgt, dass unsere Einsamen und die Zerbrechlichen auch versorgt sind, wenn wir körperlich auf Abstand gehen müssen, wenn die Grenzen kurz vor dicht sind, wenn die offenen Orte wegbrechen, die Möglichkeiten, ohne Schwellenangst Kontakte zu knüpfen. Manchen ist in diesen Tagen der eigene Hintern näher als ihr Herz. #Klopapiergate ...

Auf der anderen Seite: Der Mensch ist ein zutiefst irrationales Wesen. Angst ist menschlich. Unmenschlich ist es, sie künstlich zu schüren. Der Tag fühlt sich dystopisch an. Ich habe Glück, ich werde heute per Internet hart arbeiten können. Weil ich im Gegensatz zu vielen Angestellten Homeoffice gewohnt bin und Orte für mich keine Rolle spielen. Die Straße liegt immer noch still, Vögel zwitschern um die Wette. Die Kinder haben aufgehört zu lachen. Frühling kommt.

Der Beitrag wurde als #thread zuerst auf Twitter veröffentlicht und hier haltbar gemacht.

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