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31. Mai 2019

Worte, die brennen

Ganz aus dem Rahmen fallend in meinem Blog, aber es brennt zu sehr. Wir kennen den erschreckenden Ausgang der Europawahlen im Osten. Nun meldet NDR 1: "Wenn sie dem "Wohle der Bürger" dient, findet Sascha Ott eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht abwegig." Es handelt sich dabei um den stellvertretenden Landesvorsitzenden der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Ganz genau, das ist die christliche Partei, die sich gerade so ereifert, dass die ach so bösen jungen Wählerinnen und Wähler ach so ganz andere Themen haben. Er hat da durchaus Gegner, aber er hat es gesagt und er will. Punkt.


Ich fühle mich böse erinnert. Während meines Studiums schrieb ich eine Seminararbeit über die Badische Landeskirche im Dritten Reich. Anders als früher üblich, benutzte ich damals nicht nur kluge Bücher und Original-Archivmaterial, ich befragte Zeitzeugen, die dabeigewesen waren. Und natürlich interessierte mich eine Frage besonders: Wann war eigentlich dieser Zeitpunkt, als etwas "umkippte"? Konnte man historisch festlegen, wann die ersten demokratisch gesinnten und bürgerlichen Christinnen und Christen dem Faschismus die Hand reichten und damit die Büchse der Pandora ganz weit öffneten?

Man konnte natürlich "den" Zeitpunkt genau bestimmen, auch wenn es immer mehrere Zeitpunkte waren. Es geschah an mehreren Ecken und Enden gleichzeitig, so wie heute Demokratie punktweise ausgehöhlt wird in Polen, Ungarn, Italien, den USA, so, wie es sich ein britischer Farage und eine französische Le Pen erträumen, die zum Glück noch gestoppt werden von den demokratischen Institutionen. Noch gestoppt werden können. 

Zuerst war es auch damals nur die Akzeptanz von etwas Gesagtem. Oder das Schweigen, das immer einen Status Quo - wenn auch passiv - akzeptiert. Dann gab es die Anbiederung nach Ultrarechts, weil einem die Schäfchen abhanden kamen. Eigene Themen und Programme aufstellen? Warum, wenn es so einfach schien, sich rechts einfach welche abzuschauen? Würden vielleicht wieder mehr in die Kirche kommen, wenn man ein paar der Naziinhalte nachplapperte? Es fing auch damals zuerst an unterschiedlichen geographischen Punkten an, nicht überall, aber es verbreitete sich wie die Pest. Wurde zum braunen Tod.

Wir alle kennen die Geschichte, sollten sie kennen. Wenn nicht, können wir das alles nachlesen, in Dokumentationen anschauen, in Museen erfahren. Ich könnte jetzt über meine Seminararbeit referieren und schlaue Parallelen ziehen. Stattdessen möchte ich weitergeben, was mir einer der Zeitzeugen - damals schon sehr alt - gesagt hat.

Es war Anfang der 1980er, als wir gemeinsam am Grab seines besten Jugendfreundes standen, den die Gestapo zuerst sadistisch gefoltert hatte und der dann im KZ durch jämmerliches Verrecken ermordet worden war. Der Mann neben mir hatte lediglich in den richtigen Momenten einfach Glück gehabt, dass er überlebte. Und er sagte von sich selbst, dass er noch ein zweites Glück gehabt hatte: Er hatte als Kind unwahrscheinlich viele Gedichte auswendig gelernt.
"Ich habe mir diese Gedichte im Kopf immer wieder selbst vorgelesen, um nicht irre zu werden. Ich habe mir gesagt, Poesie ist eine Waffe, solange ich die habe, kriegen sie mich nicht klein."

So stand er am Grab seines besten Freundes und rezitierte ihm ein Gedicht, ihm, der kein Glück gehabt hatte. Dem er erst nach 1945 ein ordentliches Begräbnis hatte verschaffen können.

Das "Vergehen" der beiden: Sie waren Mitglieder der Bekennenden Kirche, kämpften gegen die Deutschen Christen, waren im Widerstand. Ob das damals nicht schon viel zu spät gewesen sei, sich zu engagieren, wollte ich wissen - die Auswirkungen hatte ich ja vor Augen. Jeder von uns kennt wohl die Geschichte von Pastor Martin Niemöller, der 1937 zuerst ins Gefängnis und später ins KZ kam. Er hatte die Vorläuferorganisation der Bekennenden Kirche, den Pfarrernotbund, 1933 gegründet. Das kam mir doch recht früh vor, 1933, aber der Zeitzeuge belehrte mich eines Besseren:
"Nein, es fängt immer viel früher an, als man glaubt. Viele Menschen erkannten die Zeichen der Zeit in den 1920ern, Hitler klappte nicht einfach wie ein Schachtelteufel auf."
Und dann erzählte er mir, dass die richtig üble Sache unter den evangelischen Christen schon vor 1933 akut wurde.

Als er mir damals die Geschichte erzählte, dachte ich, meiner Generation und Zeit entsprechend: "Wehret den Anfängen! Nie wieder!" Wenn ich es heute Revue passieren lasse, gefriert mir fast das Blut in den Adern, angesichts der Parallelen und angesichts dessen, dass wir irgendwann unterwegs ins Heute massiv versagt haben und nur noch jetzt eine Chance zum massiven Widerstand haben.

Es geschah zunächst unauffällig und zersetzend in den Gemeinden, Anfang der 1920er schon, wie er erzählte. Aus deutschen Köpfen waren einige Dinge nie ganz gewichen, auch nicht nach dem Ersten Weltkrieg: ein übler Antisemitismus mit gefährlichen Rassetheorien, die man Ende des 19. Jhdts. ausgearbeitet hatte, und die verquasten, dummen völkischen und pseudogermanischen Ideen von Leuten, die immer noch nicht zugeben wollten, dass sie es gewesen waren, die den ersten barbarischen Weltkrieg angezettelt hatten. Es begann wie heute ... da waren diese Verkrustungen, die man nicht weggekratzt hatte, bis sie so fest waren, dass sie nichts mehr durchließen. Es gab Sätze, die insgeheim als verführerisch erlebt wurden, weil man doch eigentlich selbst auch öfter wütend war. Auf die da oben. Auf die anderen. Überhaupt auf alles, was anders war. Oder zum Andersartigen erklärt wurde.

Identitätsstiftung durch Ausgrenzung, sektiererischer Zusammenhalt. Das wird man wohl mal denken dürfen. Das wird man wohl mal sagen dürfen.

War so ein Satz einmal ausgesprochen und draußen, wirkte er wie virales Gift. Das wird man wohl noch sagen dürfen, andere sagen das nämlich auch! Es war die Zeit der modernen Massenmedien. Man las massenhaft Zeitungen, verteilte zu allem und jedem Flugblätter, warf sie auch schon mal vom Flugzeug aus ab. Hitler hat nicht umsonst den billigen Volksempfänger in alle Haushalte gebracht. Es gab zuerst nur Scheinmehrheiten, aber keiner hinderte sie daran, so zu reden, wie sie redeten. Gerade in christlichen Kreisen ermahnte so mancher Pfarrer seine Schäfchen, dass man schließlich mit seinem Nächsten im Gespräch bleiben, miteinander reden müsse. Man versuchte, mit den Deutschen Christen sogar noch zu reden, als diese längst - extremistisch radikalisiert wie sie waren - die Redewilligen ins KZ hinein denunzierten.

So richtig brutal faschistisch und menschenfeindlich wurde es in der Kirche also schon vor 1933. In Thüringen sei das Nest gewesen, erzählte der Zeitzeuge - und wenn ich das lese, muss ich unwillkürlich an Traditionslinien denken, an den Osten. 1931 haben sie da offiziell losgelegt, 1932 die Deutschen Christen gegründet. In deren Programm ist schon alles an Faschismus enthalten, was man sich nur denken kann. Unverhohlen und deutlich. Schwarz auf Weiß nachzulesen. Auch Christen haben so etwas gemacht. Auch christliche Parteien machen zuviel bei so etwas mit.

"Und sie haben immer noch gedacht, die würden das schon nicht so schlimm meinen. Das wäre halt ein wenig dreist formuliert, aber es käme sicher nicht so. Wenn man mit denen reden würde, dann würde das schon werden. Wenn man für die einfachen Menschen mehr tun würde, dann ginge das schon wieder weg. Und später: Ach, dieser verrückte Kerl, der würde schon nicht an die Macht kommen und wenn, schon nicht so schlimm werden, wie er tut."
Die Worte des Zeitzeugen brennen sich ins Heute.

Es gab dann welche, konservative und eigentlich demokratisch gesinnte Menschen, die glaubten, sie könnten am rechten Rand fischen, um stärker zu werden. Schneller, als sie es manchmal selbst bemerkten, waren sie mit der braunen Pest infiziert, auf die rechtsextremistische Seite gekippt. Meine Oma hat immer gesagt: "Man kann nicht nur ein bißchen schwanger sein." Sie hatte so recht.

Darum gab es für die beiden jungen Leute, von denen der eine endlich eine Grabstätte gefunden hatte und der andere ein alter Mann ohne Jugend geworden war, nur eine Alternative: den Widerstand im Kirchenkampf. Es klang so einfach, was mir der Mann sagte:
"Wenn doch damals, gerade in den Zeiten, wo es noch offen möglich war, einfach jeder Demokrat ein aufrechtes Nein gesagt hätte, sich verweigert hätte!"

Aber damals schon hat es zuviele von der Sorte gegeben, die Kompromisse machten. Die glaubten, man könne ja mal in Sachfragen wenigstens mit Faschisten zusammenarbeiten. Man habe ja vielleicht sogar ein paar klitzekleine Gemeinsamkeiten. Man müsse doch mit den Menschen reden. Und die insgeheim dachten, man könne vielleicht die eigene Machtposition stärken, indem man nach rechts rücke.

Mit der Gier nach Macht kam die Lust an der Macht. Faschismus war schon immer Lustersatz. Todeslust.

Im Stuttgarter Schuldbekenntnis der protestantischen Kirche, das 1945 verlesen wurde, heißt es: 
"Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Werden wir eines Tages auch ein Schuldbekenntnis sprechen müssen? Und wie hoch wird der Preis dafür sein, was wir nachfolgenden Generationen hinterlassen?


Lesetipp: Artikel über die Lebensgeschichte einer fast vergessenen Frau der Bekennenden Kirche, Elisabeth Schmitz

26. Mai 2019

Die Pappenheimer oder Stempfeldingens

Gestern hatte ich meine Feuertaufe - die erste Führung im Kulturerbezentrum und Museum Maison Rurale in Kutzenhausen für eine Reisegruppe. Ganz neu war das Quasseln vor Gruppen für mich nicht, als Buchautorin bin ich ja ständig aufgetreten. Und dann gab es auch meine historischen Führungen in Baden-Baden, bei denen ich eine Kunstfigur aus dem 19. Jhdt. spielte. Es ist trotzdem noch einmal etwas völlig anderes, wenn man im Dienst für eine Einrichtung als Noname arbeitet, abgeheftet unter dem Label "Führungen". Viel gelernt habe ich schon bei diesem ersten Mal!

Meinen Anfangsfehler hat niemand bemerkt. Ich hätte den Herrgottswinkel öffnen dürfen und erklären, wozu der diente. Weil ich das aber vorher nie ausprobiert habe und ich Angst hatte, etwas kaputtzumachen, blieb er zu. Erzählt habe ich dann so, dass es sich jeder vorstellen konnte. Noiz an mich: Mich mal in ein paar ruhigen Minuten mit all den Türen und Türchen beschäftigen!


Meine schlimmsten Befürchtungen waren das Einhalten der Zeit (meine Auftritte waren immer gut geprobt, sogar mit Stoppuhr) und die Tatsache, dass ich mich fürchterlich krank fühlte (kann man nachschlafen). Dass ich mich verlaufen könnte (das Areal ist riesig), dass mir der Text wegbliebe. Aber letzteres sind die üblichen Lampenfiebersymptome, von denen ich weiß, die mache ich mir nur selbst vor. Als mir gleich zu Anfang der Name des Bauernhofgründers wegblieb (ich und Namen!), sagte ich einfach: "Das war also die Familie Stempfel, Stämpfel oder äh, jetzt ist der Name weg, oder Stempfelheimer oder Stempfelmeier ..." Lacher - und als ich später ansetzte, etwas zur Familie zu sagen, meinte jemand aus dem Publikum fröhlich: "Das waren die Dingens oder Heimer oder Meier, gell?!" Ich habe mir notiert: Namen nachschlagen*. Aber wäre die Führung dann genauso witzig?

Immerhin haben mich das meine Auftritte vor allem zu den Sachbüchern gelehrt:
Wenn du etwas nicht weißt, gib es zu. Tu nicht allwissend. Und vielleicht weiß jemand aus dem Publikum etwas Interessantes zum Thema, du kannst anknüpfen und die Lücke ist überbrückt.

Es ging also alles gut. Etwas im Schweinsgalopp (anderthalb Stunden), weil die Gruppe zu spät kam und bei Reisegruppen jede Minute getaktet ist. Das ist anders als bei Auftritten, wo Menschen entspannt und mit viel Zeit eigens nur zu deiner Veranstaltung kommen. Und anders als bei Auftritten muss ich dann auch öfter mal diese ernsthaften Museumsmenschen geben, die mich als Kind immer so genervt hatten. Meine am meisten benutzten Sätze waren: "Bitte nichts anfassen!" / "Vorsicht Stufe" / "Wenn Sie bitte aufschließen wollen". Es sind ja z.T. winzige Zimmer und unwillkürlich bleiben die ersten im Eingang stehen, weil sie sich nicht näher trauen. Sie merken nicht, dass sie den dadurch für die anderen verstopfen.

Weil ich keine Grummelführerin werden möchte, versuche ich es mit Humor. Hat jemand einen Teller hochgehoben und angepfatscht? "Sie dürfen sich nachher zum Geschirrspülen in der Küche melden!" Eine Kollegin liebt Fehlverhalten im Schulhaus - die- oder derjenige darf dann vor allen die Eselsmütze tragen. Das war die französische Version des Eckestehens. Endlich was zum Anfassen und alle haben etwas davon!

Wenn ich selbst Kleidung aus dem Schrank nehme, um sie vorzuführen, mache ich das ehrfürchtig, fasse den Bügel oben an. In mir geht ein ganzes Kopfkino ab, was der Schweiß meiner Finger auf den uralten, brüchig werdenden Stoffen anrichten könnte. Als ich das Trachtenoberteil einer Frau aus dem frühen 20. Jahrhundert hochhielt, war das ein ganz seltsames Gefühl. Ich fühlte am Gewicht, sah an der Größe, wie unwahrscheinlich zierlich und klein diese Frau gewesen sein musste. Wie zerbrechlich - und das bei der so harten Arbeit auf dem Hof. Heute könnte das Teil nur ein sehr junges Mädchen tragen. Aber so hatten wir die Erklärung, warum die Größten der Gruppe öfter mal den Kopf einziehen mussten.

So ging das also alles gut und ich bekam hinterher viel Lob, dass man gar nicht gemerkt habe, dass es meine Premiere gewesen sei. Und doch war es eine, nach all der Vorerfahrung mit öffentlichen Auftritten. Wenn ich Veranstaltungen zu meinem Elsassbuch hatte oder sogar Leute dazu herumführte, stand immer ich im Vordergrund. Die Leute waren gekommen, um die Buchautorin XY zu erleben, das Buch kannten viele schon oder sie würden es eh hinterher nachlesen. Da war immer auch eine Distanz, oder manchmal auch eine Art Verehrung, die ich als zuviel empfand. Vor allem aber war da nichts zum Anfassen, außer bei kulinarischen Lesungen. Trotz aller Oasen für die Sinne bleibt man beim reinen Erzählen und Vorlesen doch von einigen Sinneserfahrungen abgeschnitten.

Nur ein kleines Stück des riesig erscheinenden Vorderhofs. Ich habe versucht, die Leute an einen eiskalten Wintermorgen denken zu lassen. Noch im Dunkeln mussten die Kinder zum einzigen "Wasseranschluss", der Brunnenpumpe (blauer Eimer auf dem Foto): Wasserholen war ihre Aufgabe. Der andere Tiefbrunnen lag au der anderen Seite des Hofs. Und dann ging es noch einmal die gesamte Scheune entlang bis zur einzigen Toilette für mehrere Generationen, dem Plumpsklo. Plötzlich ist der Luxus von Nachttöpfen vorstellbar.


Es ist jetzt im Museum völlig anders und das gefällt mir sehr. Es sind die Räume und Dinge, die wirken, es ist das Hiersein, das Menschen in Beziehung dazu setzt. Ich liefere nur Hintergründe und Denkanregungen, Anekdoten und Geschichten. Gleich zu Anfang, wenn die Gruppe im riesig erscheinenden Vorderhof steht, weiß ich, dass sie wie ich beim ersten Mal spontan das gleiche denken: "Ach wie idyllisch, ach wie wunderschön!" Das Gerede von den guten alten Zeiten wird ja heutzutage gern auch schon mal Programm. Aber dann bricht das damalige Alltagsleben ein, ohne fließend Wasser und Strom, ohne Toilette und Klospülung. Die Oma muss die Kinder erziehen und die Wäsche machen, der Opa in die eigentlich verhasste preussische Armee. Nur weil beide zu eben diesem Zeitpunkt auf der Welt waren ...

Der Eindruck, den ich vermitteln konnte, war auch für mich interessant: Die Reisegruppe schied mit einem Gedanken von Hochachtung vor den Generationen zuvor. Ihr war bewusst geworden, wie unendlich hart und einfachst dieses Leben damals war, mit wenig Fluchtmöglichkeiten aus Rollen oder dem Schicksal - außer der Emigration. Denn auch hierfür steht der Hof: Er wurde aus Ruinen aufgebaut von einer Familie, die aus Mähren gekommen war, weil man nach der Entvölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg überall Einwanderer anwarb. Und er war verlassen worden von einer Familie, die in die USA auswanderte, weil dort mehr Möglichkeiten winkten.

Da war ein Staunen, wie leicht und bequem wir heute alles haben, vor allem, was wir alles ohne eigene oder sehr langwierige Arbeit konsumieren und besitzen können. Und gleich dieses Gegengefühl: Wie leicht katapultiert uns das aber auch in unsere Wegwerfkultur! Ins Nicht-Nachdenken-Müssen, in Automatismen. Der Hof regt insofern zum Nachdenken an: Können wir vielleicht etwas von diesem Leben damals lernen? Brauchen wir all das, was wir zu brauchen scheinen, wirklich? Und wie können wir zu einer Kreislaufwirtschaft kommen? Auf so einem Hof verkam nichts, alles wurde genutzt. Aber es entsprach eben auch nicht unserem heutigen Wissen von Hygiene und Giften. Wo müsste man ansetzen, um für unsere modernen Bedingungen solche Kreisläufe zu schaffen? Und können wir unsere modernen, uns so selbstverständlich erscheinenden Errungenschaften nicht auch mal richtig feiern? In unseren Breiten muss niemand mehr Wein ins Trinkwasser mischen, um Bakterien abzutöten. Wir müssen kranke Kinder nicht mehr in den Alkoven des einzigen Tag und Nacht geheizten Zimmers schaffen und selbst mit Schröpfköpfen und Klistieren behandeln, weil der nächste Arzt so weit weg oder gerade nicht zu bezahlen ist.

Was ich aber wirklich mitgenommen habe bei meiner Premiere, war etwas Zwischenmenschliches, das mir in der auftrittsfreien Zeit und der doch sehr isolierten Arbeit im Atelier abhanden zu geraten schien. Im Nebenjob arbeite ich im Home Office an Datenbanken, auch nicht sehr gesellig. Facebook spielte da oft die Rolle des virtuellen Großraumbüros, in dem man mal mit anderen Kaffee trinken konnte. Nicht umsonst hatte ich mir vorgenommen, mich im Museum zu engagieren und endlich wieder mit der absolut bunten, wilden und spannenden Vielfalt von Menschen in Kontakt zu kommen.

Das war genau der richtige Schritt. Das ist etwas, was ich trotz der Zeiten, in denen ich für die Kunst allein sein muss, dringend brauche. Man kann es Input des Lebens nennen, ohne den bekanntlich kein Buch mit Tiefe entstehen kann. Es sind Eindrücke, Meinungen, Charaktere und viel mehr. Denn da ist ein großer Unterschied zur Internetkommunikation.

Allein wir Ehrenamtlichen sind ein unwahrscheinlich bunter Strauß von Menschen, hinter denen sehr unterschiedliche Leben und Lebenserfahrungen stehen - gemeinsam mit den BesucherInnen erweitert auf unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Wir sitzen auf der Bank und begeistern uns gemeinsam für etwas, jemandem fällt dazu eine Geschichte aus seinem Leben ein, eine Frau erzählt von ihren Erfahrungen damit als Kind. Wir hören zu. Wir fallen uns nicht ins Wort, allenfalls, wenn die Begeisterung zu schnell sprudelt. Wir hören einfach zu.

Unterschiedliche Alterstufen (die sehr Jungen fehlen im Ehrenamt), unterschiedliche Nationalitäten und Sprachen, unterschiedliche kulturelle Prägungen, Lebensläufe, Lebenserfahrungen, Vorlieben und Abneigungen, Charaktere.

Und wir hören einfach erst mal zu. Geben die ein oder andere Anekdote zum Besten, fassen Vertrauen zueinander, öffnen uns mal mehr oder weniger langsam. Jeder in der Geschwindigkeit, die er braucht, jede je nach Temperament. Da sind Respekt und Wertschätzung. Irgendwie kann hier jede und jeder von anderen etwas lernen, bereichert werden.

Es gäbe Dinge im Alltag zu beklagen, wir könnten uns ereifern. Aber da greift die Geschichte nach uns, wir spüren den Kontext, der auch uns im Werden beeinflusst hat. Und da ist dieses Gefühl bei mir, dass wir in vielem vielleicht genauso unbedeutend sind wie das Huhn, das vor einiger Zeit von einer Gans niedergemacht wurde und nun eben weg ist. Trotzdem leuchtet aus jedem Menschen, wenn man nur das Schauen gelernt hat, die gleiche Schönheit, die wir bei unserem großen bunten Hahn so bewundern. Hinhören. Hinschauen.

Eine Reisegruppe ist genauso wenig wie Publikum eine diffuse, verschwimmende Masse. Bei Auftritten auf der Bühne spüre ich keine Einzelmenschen im Dunkel, denn das wäre fatal fürs Fokussieren. Ich spüre den Moment, wenn "ich sie habe", als eine Energiewelle, die zur Bühne schwappt, als Verbindung, die nicht abreißt.

Im engen Kontakt mit einer Reisegruppe unterscheide ich dagegen einzelne Menschen und bekomme sofort ein Gefühl dafür, worauf sie reagieren. Da sind diejenigen, deren Augen glücklich leuchten, wenn man sie auf eine Stufe aufmerksam macht und auf sie wartet. Andere mögen es, für ihr Wissen gelobt zu werden. Die meisten sind zufrieden, wenn sie nicht wahrgenommen werden und verschwinden können in ihren Betrachtungen, im Empfinden der Umgebung. Diese stillen Wasser bergen oft Überraschungen, wie die stille Frau, die plötzlich eine Kindheitserinnerung vom harten Leben auf dem Bauernhof beisteuert.

Und natürlich haben wir all die üblichen Rollenspielchen vor uns: Da ist der Mann, der sich sehr laut über seine ewig zu lang tratschende Ehefrau ereifert, die zu spät kommt. Wir springen der Frau bei, zeigen, dass es keineswegs an ihr lag, zeigen es liebevoll ihr gegenüber. Der Mann wird sehr still. Die typischen Oberlehrertypen kann man manchmal schlecht übergehen, aber fordern. Wir stellen ihnen Fachfragen und plötzlich blubbert es nur noch ...

Das ist es, was ich am "prallen Leben" so mag: Man bekommt ein Gefühl für seine "Pappenheimer" und weiß sie zu behandeln, ohne dass eine Gruppe auseinanderfällt, ohne dass es zum Krach kommt. Diese Menschen sollen ja ein einzigartiges Erlebnis haben und sich wohlfühlen! Ganz normales menschliches Sozialverhalten, das aber immer wieder neu eingeübt werden muss. Die alten Hasen geben mir Ratschläge, wie man mit den Schlimmsten zurecht kommt, die sicher auch mir einmal begegnen werden. Wie man ihnen sofort den Wind aus den Segeln nimmt. Und dann haben wir ja noch einen Vorteil: Wir können uns sagen, dass solche anschließend in einen Bus oder ein Auto steigen und dann weg sind. Zeit für uns für ein Schwätzchen oder einen Kaffee. Ich hatte Glück, meine erste Gruppe war hochinteressiert, liebenswert und charmant. Das Schwätzchen mit der Kollegin und dem Kollegen gab es anschließend als Sahne.

Lesetipp:
Petra van Cronenburg: Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt.

* Die Stempfeldingens hießen übrigens Stambach. Ich habe brav nachgeschaut.

23. Mai 2019

Snoopy Bilbo und Woodstock Krächzel

Wer mir auf Facebook folgt, kennt die Geschichte vielleicht schon, die ich hoffentlich nicht zum fünften Mal wiederhole (sie ist einfach zu schön). Beagle-Mix Bilbo hat einen dicken Kumpel, den ich "Krächzel" genannt habe, wegen seiner schön knarzigen Laute. Und ich schwöre, Charles M. Schulz muss Ähnliches erlebt haben, denn seine Geschichten zwischen Snoopy und Woodstock sind absolut lebensecht!

Ungefähr mit dem gleichen gebannten und interessierten Blick schaut Bilbo seinem Kumpel Krächzel zu.


Im vergangenen Jahr nistete bei einem Nachbarn ein Kolkrabenpaar. Ich konnte also alles vom Balzflug an über die Nistgeschenke bis hin zum Flüggewerden genau beobachten. Eins der flauschigen Rabenküken, wahrscheinlich das einzige überlebende, setzte sich dann immer in den Baum vor meinem Atelierfenster und unterhielt uns mit seinem Gekrächzel, das bei Wohlfühlen herrlich in Gurrlaute überging. Irgendwie hatte Bilbo vor ihm den gleichen Respekt wie vor einer befreundeten schwarzen Katze (war es die Farbe?) und setzte sich, aufmerksam lauschend, ans Tor. Das entwickelte sich zu einem Ritual. Der Hund hatte die innere Uhr, wann Krächzel auftauchen würde - wehe die Haustür war dann nicht offen! Und kam Bilbo zu spät, rief Krächzel nach ihm. Der brauchte wohl Zuhörer. Irgendwann rief Krächzel schon von weitem in Anflug und Bilbo flitzte los.

Der Rabe machte sogar Geschenke. Eines Tages entdeckte ich, wie sich die Ritze des Sofas wundersam mit Walnüssen füllte, die unmöglich von uns stammen konnten. Bis ich Räbelchen dabei erwischte, wie er sie vor Bilbos Nase abwarf. Der fand diese Aufbesserung seiner ach so kargen Ernährung wunderbar und revanchierte sich damit, dass er mit Räbelchen herumkasperte. Das sah ungefähr so aus, als sei der Rabe der Rote Baron, der ihm Tiefflug und mit Saltos vor Bilbo Flugschau spielte, während der wiederum den wirklich echten Roten Baron mimen wollte, sprich, irgendwie zu fliegen versuchte. Immerhin schaffte er das wenigstens mit seinen Ohren. Ich hatte bisher junge Raben bei solchen waghalsigen Manövern gesehen, wenn sie miteinander spielten, aber nie mit einem anderen Tier.

Nun ist Räbelchen ein schöner und stolzer Jährling geworden, der sich mit einer Junggesellenbande herumtreibt. Lange war er fort; wie ich feststellte, lebte er im Winter am Waldrand, wo der Tisch reich gedeckt war. Und plötzlich ist er wieder da. Die Geschenke an Bilbo nehmen langsam überhand. Nun erzähle ich zwar gern Märchen, aber die wahre Ursache interessierte mich doch. Er verliert nämlich alle Scheu, sitzt bei Bilbo im Garten - und der staunt ihn an. Als würden die beiden klönen.

Vorhin, beim Rasenmähen, habe ich die Ursache entdeckt. Vogelriss. Das ist nun die Naturerklärung der neuerlichen Freundschaftsbande. Bilbo hat nämlich zwei Miniaturfelsenplatten aus Sandstein, die ihm als Ausguck dienen. Dazwischen liegt das Vogelbad. Er rührt keinen an, das hat er gelernt - und leckere Enten kamen noch nicht vorbei. Während also Bilbo über die Vogeltränke wacht und nach intereressanten Dingen Ausschau hält (anderen Hunden, Menschen, Froschbeinen, Mäusen), fühlen sich die Vögel ganz sicher und baden.

Und dann muss Räbelchen kommen. Und Bilbo das dulden. Ich weiß nicht, ob er inzwischen irgendwo nistet, denn er fliegt sehr häufig hin und her. Jedenfalls finde ich unter seinem Ansitz bei mir nur noch Federn. Und einen Rest finde ich ... an Bilbos Klönplatz vor dem Tor. Dort lässt der Rabe dem Hund einen Teil seiner Beute fallen! Mal ein paar Federn, mal einen Flügelteil, mal etwas Gedärm. Wenn das keine Symbiose ist! Kein Märchen also, sondern Natur. Derjenige, der Vögel nicht jagen darf, mampft Rabengeschenke, dafür lässt er den die Jagd erledigen und gönnt ihm die Hauptbeute ...
Es ist schon faszinierend, was man beobachten kann, wenn sich der Mensch heraushält und ein Hund natürlich sein Leben leben kann.

22. Mai 2019

Ein Käfer zum Biodiversity Day

Heute ist internationaler Biodiversity Day und natürlich fallen mir in Sachen Artenvielfalt zuerst Käfer ein. Die gab es in meiner Kindheit ungleich häufiger in ungleich mehr Arten. Heutzutage bin ich glücklich, wenn ich überhaupt mal wieder im totgespritzten Maisland einen Laufkäfer sehe.

Violetter Ölkäfer, Meloë violaceus (Foto Petra van Cronenburg)


Die Natur ist doch die größte Künstlerin - wie bei diesem metallisch dunkelblauen Violetten Ölkäfer, Meloë violaceus.

Diese Art wird bis zu 32 mm lang und lebt hauptsächlich von Blütennektar und Blättern. Ihre Larven räubern Solitärbienennester leer, können aber unter Honigbienen und Hummeln nicht überleben. Das Gift, das der Käfer und seine Larven in der Blutflüssigkeit enthalten, wurde früher als Aphrodisiakum verwendet - und zum Morden.

Den Käfer schützt es vor Ameisen und feindlichen Laufkäfern, Vögel sind dagegen immun. Und andere Tiere zapfen es sogar den Larven ab, um es im eigenen Blut anzureichern!

Einhornkäfermännchen etwa. Paart sich nun ein Einhornkäferweibchen, beißt es vorher dem Männchen in eine bestimmte Drüse, um den Giftgehalt zu überprüfen. Nur wenn der hoch genug ist, kommt das Männchen zum Zuge - durch die Weitergabe des Giftes auf die Eier sind diese ebenso wie die Larven und Puppen vor Fressfeinden schützt!

Und natürlich bin ich weiter dran an meinem Kunstprojekt mit den Kunstschachtel-Käfern zum Thema Artenschutz und Insektensterben. Ich grüble ich seit Tagen daran herum, wie man Deckflügel von Käfern nicht nur formecht aus Papier nachbauen kann, sondern auch noch so, dass man sie mit Perlen besticken könnte.
Einen kleinen Einblick in die neueste Käferschachtel gibt es hier auch noch:

"Bauarbeiten" bei meinem Projekt "Beetle in a Box"


Die Schachtel ist "tapeziert" mit einem alten Text über Artensterben aus den 1960ern und einer wertvollen Borte mit Goldlitze. Was vermeintlich aussieht wie ein Mineral und so herrlich smaragdgrün leuchtet und glitzert, ist ein aufgearbeitetes Stück von illegal verbranntem Plastikmüll, den ich aus der Natur geräumt habe. Noch unentschieden bin ich, was für ein Käfer dieses "Biotop" bewohnen wird.

19. Mai 2019

Habt ihr noch Erdung?

Dass Menschen sich in Social Media gern und immer häufiger übermäßig erhitzen, ist bekannt. Dass ich als Landei im Naturpark öfter mal die Ruhe weg habe (mir begegnen bei meinen Waldgängen nur selten Menschen), mag heutzutage exotisch wirken. Tatsächlich erlebe ich aber immer öfter eine Art "Kampf der Kulturen" (arg frei nach Huntington), der jedoch weniger mit Kultur zu tun hat als mit Affekten, mit emotionalen Erregungszuständen. Das Fiese dabei: Im Internet verkleiden die sich als Heilversprechen, Politik, Meinungen, ja sogar angebliche Tatsachen. In Wirklichkeit sticht aber nur irgendwen der Hafer, läuft jemandem eine Laus über die Leber, geht der Esel aufs Glatteis. Mein Aufruf: Leute, geht "Kühe gucken"! Oder Ziegen ...

Finden Zweibeiner bei Facebook "süß" - und noch niedlicher, wenn sie dämliche Mützchen tragen würden oder lustige Menschenmätzchen machten. Die gleichen Leute, die dann solche Bilder teilen, können aber oft ländliche Viehhaltung nicht ab (die weiden Wald ab!) oder ziehen gegen jahrtausendealte Rezepte der Milchnutzung zu Felde. Fakten und Kontext interessieren immer seltener, die Überregung muss schließlich raus. Wenn ich genug habe von solchen Menschen, gehe ich Ziegen besuchen. Die haben die Ruhe weg und stehen mit ihren Beinen fest auf der Erde. Naja, wenn sie nicht gerade vor Lust springen, spielerisch herumhüpfen oder ausbüchsen ...


Vor dem Denken erst mal losschreien?


Gestern erzählte ich in einer FB-Gruppe, dass ich freitags immer Fastfood esse. Da ist nämlich nachmittags Markttag und auch sonst viel zu erledigen - Einkäufe, Termine, Arbeit, Sammelmüll zur Dechetterie fahren. Wenn mich jemand bekocht, ist das schön - ansonsten zelebriere ich einen faulen Abend ohne Arbeit in der Küche. Im Nu bin ich in der Gruppe umringt von ... ja, von was eigentlich? Ich darf mir anhören, wie scheußlich ungesund das sei, wenn man regelmäßig (!) Fastfood esse! Ich darf mir anhören, was für ein Klimaschädling ich sei (noch sagt keiner "Schädling", noch). Ich werde belehrt, wie ich dieses mein Leben nachhaltiger und gesünder haben könne.

Keiner von den übererregten und selbsternannten Weltverbesserern hat mich überhaupt gefragt, was ich unter Fastfood verstehe und ob ich nicht vielleicht deshalb alles an einem Tag erledige, um nur einmal in die Stadt fahren zu müssen, um also Umweltbelastungen zu minimieren. Keiner. Urteil kommt vor Wissen. Kreischen vor Verstand. Und ich muss das ganz deutlich sagen: Ich halte absolut nichts von der Leugnung des Klimawandels und bemühe mich kräftig auf allen Ebenen. Ich bemühe mich, bin aber nicht perfekt.

Ich grinste mir eins bei der entgleisenden Debatte und denke, es hätte auch nichts genützt, vom Festessen zu erzählen, dass der Vietnamese auf dem Markt nicht nur für mich vorgekocht hat. Es war ja rudimentär Fleisch dabei, darf man auch nicht mehr. Stattdessen schwärme ich mit einer mir unbekannten Frau direkt auf dem Markt von den Köstlichkeiten, die er hat, wenn man nur frühzeitig kommt. Leute wie wir stehen da nämlich Schlange. Es ist ein Ritual am Markttag.

Ob ich die wunderbaren Teigtaschen vom Ziegenkäsebauern schon gekostet hätte? Blätterteig, der mit köstlichem Krachen auf der Zunge erst zerbröselt und dann zerschmilzt; Aromen frischer Kräuter, die sich beim Warmmachen entwickeln. Was in der Füllung war, darf man im Internet nicht mehr erzählen, denn Käse geht auch nicht mehr, ist auch ganz böse. Herdentiere sind überhaupt "ibäh". (Irgendwo las ich einen Rant, sie würden schließlich den Wald kaputtmachen.) Ach, wie armselig muss das Leben all dieser Besserwisser sein, die keine Ahnung haben von den Fastfoodgenüssen dieser Welt! Oder davon, dass unser Naturpark nicht so wunderbar unterschiedliche Biotope hätte, gäbe es jene Herdentiere nicht.

Diese Leute mit der Laus auf der Leber, die immer gleich loswiehern - früher hat man solche Zustände mit tierischen oder auch pflanzlichen Metaphern umschrieben, weil man das Verhalten als instinktgetrieben einordnete. Eine Sache, die man beim Homo sapiens eher nicht so gern sah, denn der hatte ja angeblich für alles seinen ach so großen Verstand. Ein Instinkt - übrigens heute ein unwissenschaftlicher Begriff - wurde ungefähr so definiert: Durch einen Schlüsselreiz von außen entlädt sich angeborenes Verhalten, ohne dass das Bewusstsein oder der Verstand beteiligt ist. Oder anders gesagt: Haut dir einer eine runter, schlägst du zurück, ohne zu denken. Die Idee, stattdessen auch noch die andere Wange hinzuhalten, war so revolutonär, weil sie eine ungeheure Hirnleistung und das Benutzen von Verstand vor der Handlung verlangte.

Heute wissen wir es natürlich besser: Wir sind immer noch dem Urmenschen näher, als es uns lieb ist. Während wir uns in eine Affektspirale regelrecht hineindrehen können, kommen Tiere relativ schnell wieder von der Palme runter und pflegen ihre sozialen Rituale - und sei es das, sich aus dem Weg zu gehen. Ich kann darum bei meinen Waldgängen ein Wildschwein in dem, was es vorhaben könnte, sehr viel verlässlicher beurteilen als einen Menschen. Diejenigen, die nicht gleich zuschlagen, werden seltener. Diejenigen, die das mit der anderen Wange praktizieren ... werden die von Zuckerbergs Algorithmen überhaupt noch zugelassen?

Manche wären gern wie eine Mauer. Aber auch die bröselt irgendwann irgendwo.


Egal, es kommt ja immer noch schlimmer.

Neuerdings taucht eine Spezies auf, die sich vom Homo sapiens wegzuentwickeln scheint. Falls daraus eine neue Spezies werden sollte, möchte ich sie vorsichtig Homo odio sui fervescens nennen, umgangssprachlich "Menschenhasser mit Selbstekel". Die machen mir Sorgen.

"Sterbt doch endlich aus!"


Ja, wir leben in Krisenzeiten und wir haben nicht nur eine einzige große Krise zu bewältigen. Ja, manchmal ist es zum Verzweifeln, was wir anderen Wesen antun, was wir alles wider besseres Wissen nicht tun und was wir falsch machen. Ja, an manchen Tagen könnte man an Apokalypsen glauben und den Weltuntergang beschwören. Aber halt, ist das nicht auch schon menschliche Hybris?

Man kann zynisch werden, sarkastisch. Und natürlich kann einem dabei mal der allzu menschliche Gedanke herausrutschen, dass ein Aussterben der Menschheit dem Planeten vielleicht besser täte. Der hat nämlich auch die Zeiten ohne Sauerstoff überlebt, die massiven Kontinentalverschiebungen und die Dinosaurier sowieso. Wären die nicht ausgestorben, hätten sich moderne Säugetiere nicht entwickelt und auch nicht der Mensch. Der Planet hält das ohne Menschen also bestens aus. Könnte nach dem Aussterben des Menschen vielleicht sogar wieder etwas völlig Neues entstehen? Vielleicht soziale Staaten bildende, Kohlenstoff fressende Mehrzeller mit künstlicher Intelligenz? Womöglich mutieren aber auch nur Küchenschaben zur Weltherrschaft.

Zynisch kann ich also auch. Aber bei mir ist das ein Stilmittel unter vielen, zur Lebenshaltung möchte ich den Zynismus nicht werden lassen. Vor allem wünsche ich mir selbst, dass ich nie so werde wie der Homo odio sui fervescens: der Mensch, der sich im oft zynischen oder sarkastischen Selbsthass entzündet (Frauen sind hier ausdrücklich mitgemeint). Wo kommen die auf einmal alle her?

Zumindest interpretiere ich das so: Wenn mir jemand ständig damit kommt, die Menschheit sei ein Ungeziefer (welch gefährliche Ideologie das speist, wenn man es weiter denkt!) und es sei besser, sie würde schnell aussterben, dann wäre dieser Vorgang doch logischerweise dadurch zu beschleunigen, dass solche Menschenhasser bei sich selbst anfingen? Nun bin ich sarkastisch, gezielt. Aber es ist einfach so: Jedesmal, wenn mir Leute massiv vorheulen, das Kroppzeug auf zwei Beinen müsse schleunigst weg, möchte ich sie fragen, warum sie selbst noch da seien (und sich womöglich fortgepflanzt haben). Ginge man da nicht besser mit gutem Beispiel voran? Es ließe sich im Notfall an eine Karriere im Kabarett denken, wenn diese Apokalyptikerinnen und Weltuntergangler weniger ideologisch und selbstgerecht wären. Aber leider sind ja viele gänzlich humorbefreit! Es verkommt zur Attitude, denn was anderes ist lautstark vor sich selbst hergetragener Selbstekel nicht.

Ich mag das einfach nimmer. Ja, wir müssen vom Anthropozentrismus runterkommen, der macht übel viel kaputt. Aber weltweit denken viele Menschen längst um, entwickeln faszinierende neue Denkkonzepte. Die Wissenschaft öffnet uns völlig unbekannte neue Denkwelten, indem sie herausfindet, dass Tiere so blöd gar nicht sind, wie wir sie gern hätten - und dass Pflanzen mehr können, als wir früher vermuteten. Es bleibt ja zum Glück nichts starr stehen, selbst Menschen sind entwicklungsfähig. Ich sah heute ein interessantes Spruchbild, das sinngemäß sagte:
Wir brauchen nicht einige wenige, die perfekt sind. Wir brauchen Millionen, die es in aller Nichtperfektion einfach versuchen.

Das trifft genau das, was ich an Menschen als Spezies so liebe. Sie sind nicht perfekt, irren sich häufiger, als es ihnen lieb ist. Nur deshalb sind sie lernfähig. Menschen vergessen, manchmal vergessen sie das Falsche oder zuviel. Aber ohne Vergessen wäre Erinnerung nicht möglich und auch kein abstraktes Denken. Menschen können manchmal fast zerbrechen, aber auch durch solche Erfahrungen stark werden. Menschen sind verdammt unvollkommen und fehlerhaft - aber nur so können sie nach Perfektion streben, sich anstrengen, Ziele entwickeln, Grenzen überschreiten. Und dazu passt der Widerspruch darin: Wer sich der Perfektion zu nahe wähnt, lebt wie scheintot.

Wirklich faszinierend und reich machen uns unsere Brüche, nicht die glatte Oberfläche. Wir können hassen, aber wir können eben auch glühend lieben und den Unterschied zwischen beidem empfinden. Was würde passieren, wenn wir nur noch die allzu Glatten und Perfekten lieben könnten? Sind es nicht gerade die Menschen, bei denen es "menschelt", die unsere Liebe bräuchten?

Die Menschheitsverächter kommen gefährlich den Menschenverächtern nahe. Dieser verächtliche Zynismus, wenn er regelmäßig auftritt und nicht mehr vergeht, hat nicht mehr viel mit gesunder Skepsis und Kritik zu tun, er rutscht ab in einen destruktiven Dauerskeptizismus. Entweder äußert sich das später in kompletter Verdrossenheit und Resignation - oder man wertet sein Gegenüber einfach nur noch ab. Vielleicht sogar beides. Und wenn man das macht, ist die Selbstgerechtigkeit nicht mehr weit. Irgendwo habe ich mal gelesen, hinter jedem verächtlichen Dauerzyniker stecke ein verhinderter Missionar. Das bedeutet Ideologie und Sendungsbewusstsein.

Da haben wir sie wieder - die Leutchen, die mir mein köstliches Fastfood abspenstig machen wollten, weil es nicht zu ihrer Ersatzreligion des Essens passt. Also ihrer pseudoreligiösen Ideologie.

Ideologie ist weder lebens- noch liebesfreundlich - ob sie von links oder rechts kommt, von Erleuchteten oder Unterbelichteten, von denen, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben oder die glauben, nur sie seien auf dem Pfad der Tugend unterwegs.

Ziegen gucken. Und Maul halten.


Wenn mir jemand ständig mit diesen Sprüchen kommt, wie eklig die Menschheit sei, möcht ich ihn oder sie am liebsten einfach fest in den Arm nehmen und schweigen und schauen, was passiert. Vielleicht dürfte man so jemanden auch gar nicht berühren, manche zucken ja sofort zurück. Die würde ich mitnehmen auf die Weide. Zum Ziegen gucken. Und Maul halten.

Auch wenn George Clooney schon versucht hat, auf Ziegen zu starren und man damit im Film angeblich Ziegen umbringen konnte - das war Satire. In Wirklichkeit läuft es andersherum. Also nicht so ganz, weil Ziegen ja nicht hassen können. Wer je inmitten ihrer Köttel saß und die Ehre hatte, ihnen in die Augen blicken zu dürfen, wird regelrecht hineingesogen in diese Pupillen, die falschherum zu stehen scheinen, wenn sie sich verengen. Auf einmal ist alles waagerecht. Wieder im Lot. So, wie vier Beine, die fest auf dem Erdboden stehen. Ziegen sehen aus, als wüssten sie, wie man die Balance hält. Wenn wir zu lange sitzen, kommen Hörnchen von hinten oder von der Seite, fordern uns zum Spielen und zum Blödsinn auf. Vielleicht könnte das den dauergriesgrämigen Menschheitsverächtern helfen: Blödsinn machen? Bocksprünge vollführen? Heimlich über Zäune hüpfen und die Freiheit erkunden? Furzen, Flöhe haben und auch sonst nicht perfekt sein?

Ich stelle fest, dass ich wahrscheinlich viel zu oft über Ziegen schreibe und mich wahrscheinlich wiederhole in dem, woran ich leide. Das mag ein Zeichen dafür sein, das mir so oft das leise Denken fehlt, das die Entstehung kluger Bücher ausmacht. Leises Denken darf kreisen, muss kreisen, muss ohne Ziel und Perfektion und Denkkorsett lange herumwabern dürfen, bevor es zu einem Text gerinnt. Manche Texte müssen erst am Leben reifen, weil sie nur dann berühren. Mit Hass auf die Menschheit kann man Menschen nicht berühren.

13. Mai 2019

Weitspucken und Schubbern

Der wunderbare und einzigartige Bilbo von Butterblum hat heute Geburtstag und bekam einen extra dicken Waldgang geschenkt, bei dem hauptsächlich er entscheiden durfte, wohin es ging. Leider hat ihm das nun endlich sonnige Wetter gar nicht gepasst: An geschützten Stellen war es ihm plötzlich zu heiß - gestern bibberten wir noch bei niedriger Zweistelligkeit der Temperatur. Dazu weht heute eine eisige (!) steife Brise um die 60 km/h, ein Wind, mit dem wir schon seit Wochen wiederholt zu kämpfen haben, weil er den Lehmboden im Nu ausdörrt. Von den überschwemmten Wegen und den Riesenlachen am Waldrand war innerhalb eines Tages nur noch eine winzige Pfütze übrig. Wie um das zu unterstreichen, fiel mir gerade im Moment eine volle Blumenvase vom Fensterbrett, vom Wind umgeblasen. Auch der Hund merkt, dass mit dem Wetter etwas nicht mehr stimmt. (Währenddessen wurden am russischen Polarkreis 31 Grad PLUS gemessen).

Die Primelpracht ist vom Vorjahr. In diesem Jahr war es zu kalt und lange zu trocken, nur der Löwenzahn blühte.

Wenn Bilbo keine Lust hat (sich lieber auf Kissen sonnen würde), wird er zum Flanierer, zum Trödler. Jeder einzelne Grashalm wird auf Rehkontakt überprüft. Ist die Spur frisch, zieht er sich die Geruchsteilchen zusätzlich mit der Zunge in den Rachen. Wie er es schafft, selbst in tiefen Pfützen Spuren zu riechen und danach zu tauchen, ist eine echte Beaglespezialität, genauso wie der herrliche "Glöckelton", wenn das Wild in Reichweite steht. Damit ich Menschendepperl das auch merke.

Während Monsieur also im Reich der Gerüche verschwand, inspizierte ich das Sperrgebiet. Dort grünt es nun auch langsam, die kleinen Baumschößlinge, die sich wild ausgesät haben, sind an Blättern bestimmbar. Ob mein Weitspucken sich bemerkbar machen würde?

Irgendwann einmal habe ich einen spannenden Artikel darüber gelesen, dass nicht nur der Mensch Kulturräume in der Natur schafft und verändert. Auch Tiere machen das und die Natur rechnet fest damit.

Wahrscheinlich wäre die Menschheit nie auf die Idee mit dem Ackerbau gekommen, wenn es nicht unendlich weite Savannen und Grassteppen gegeben hätte, deren Grasähren so herrlich süß schmeckten, wenn man sie sehr lange kaute. Bisons und andere Großtiere machten das vor. Es waren nicht nur klimatische Bedingungen, die solche Flächen waldfrei hielten, große Tiere und wilde Viehherden weideten das Land ab und verhinderten, dass Schößlinge zu Bäumen wurden. Und so sorgten die einen Tiere dafür, dass eher Gräser und Wiesenblumen wuchsen, während die anderen Tiere sich als unfreiwillige oder auch lustvolle Pflanzer betätigten.

Die Pflanzenwelt hat sich in Sachen Nachwuchs jede Menge effektiver Strategien zurechtgelegt. Tiere und Menschen sind da eingeplant, weil sie wandern. Ideal für einen ortsfesten Baum, seine Gene weiter zu streuen, als das mit Ausläufern oder einfach nur herabfallenden Samen möglich wäre. Also klammern sich manche Samen in Pelz wie Kletten, es streifen Rispen und Dolden ihre Samen über Tieren ab, Menschen sammeln sie in der Kleidung, in den Schuhen - und schütteln das irgendwo wieder aus. Man kann an solchem Pflanzenverhalten, sprich Pflanzenwanderungen, sogar große Kriege oder alte Eisenbahnlinien rekonstruieren!

Eine invasive Pflanze, die in unseren Breiten als hartnäckiges Unkraut gilt, erzählt einen solchen Mythos. Das sogenannte Franzosenkraut der Gattung Galinsoga, das eigentlich Knopfkraut heißt, soll angeblich durch französische Soldaten in ihren Stiefeln eingeschleppt worden sein. Die wahre Geschichte seiner Verbreitung liest sich allerdings etwas banaler. So haben Spanier und Franzosen die Pflanzen kurz nach der Französischen Revolution in Peru entdeckt und in ihre botanischen Gärten importiert. Deshalb heißt die Gattung im Lateinischen wie der damalige Chefgärtner des Madrider Botanischen Gartens, Galinsoga. Der sehr bekannte Karlsruher Botaniker Gmelin hat dann das Kleinblütige Knopfkraut im 19. Jhdt. in seinem Botanischen Garten gesät und war einigermaßen überrascht, wie schnell es sich auf einen benachbarten Acker und von dort aus weiterverbreitete. Ähnlich ging es einem Pfarrer und Hobbybotaniker in Pommern, der 1807 ebenfalls Galinsoga parviflora im Pfarrgarten aussäte. Im Nu eroberte sich die Pflanze Nachbargärten, Straßenränder und Äcker. Aber sie blieb einigermaßen standorttreu - bis die französischen Truppen unter Napoleon durchs Land zogen! Plötzlich fand man es überall auf deren Route und der Pfarrer hatte seinen Namen: Franzosen(un)kraut!

Die Sache mit den Stiefeln war sicherlich auch nur eine Mär, wahrscheinlicher verbreiteten sich die Samen mit dem gemähten Heu, das für die Pferde mitgeführt wurde. Was nicht von selbst als Samen auf die Erde fiel, wurde entlang der Wege in Pferdeäpfeln gleich mit Dünger "gepflanzt". Der Name setzte sich wohl eher aufgrund der Franzosenfeindlichkeit damals durch, denn in Wirklichkeit waren es ja die heimischen neugierigen Botaniker und Hobbybotaniker gewesen, denen ihre exotische Sammlung regelrecht in die Natur ausbüchste. Nicht selten lesen sich ältere Schriften über invasive oder eingewanderte Pflanzen manchmal fast rassistisch ...

Kurzum, Samen verbreiten sich gern über Lebewesen, aber auch durch Wind und Wasser. Und manche Samen brauchen es aufwändig: Sie müssen zum Wachsen erst einmal verdaut werden. Oder anders ausgedrückt: Die Pflanzen sorgen dafür, dass ihre Samen z.B. als Beeren besonders attraktiv sind. Das sind also die Pflanzen, die auf die "Lustgärtner" zählen! Perfekt, wenn ein Vogel die Kerne schluckt und sie viele Kilometer weiter an seinem Ruheplatz einfach aus ihm herausfallen ... oder wenn ein Mensch Kirschkerne nicht brav in eine Schüssel füllt, sondern Weitspucken übt.

Manchem würde das Sperrgebiet gar nicht auffallen, allenfalls daran, dass der Hügel nur spärlich bewachsen ist. Tatsächlich ist das mit einem hohen Zaun umgebene Gebiet eine uralte Sondermülldeponie, deren Boden außerdem absinkt und einbrechen kann. Der Hügel besteht aus Sand-Abraum vom Erdölabbau über unterirdische Galerien. In den 1960ern und 1970ern hat man dann aus dem Unwissen der Zeit heraus das Schlimmste gemacht: Einfach alle übrigen Chemikalien in die Galerien geworfen und drüberbetoniert. Leute haben da unerschrocken gewohnt. Eine aufwändige Sanierung konnte das nicht mehr beseitigen, zu dick sind die Betonpropfen, zu gefährlich die geologischen Verhältnisse. Denn noch sind ja auch Erdöl und Erdgas im Boden. Einmal im Jahr fackelt eine Spezialfirma das Gas ab, damit der Hügel nicht in die Luft fliegt.

Was soll ich sagen - ich war inspiriert. Nach dem ersten Frost im Winter knabbere ich unterwegs gern Weißdornbeeren, denke an die Samen, die herauswollen, und spiele Weitspucken. Am Zaun des Sperrgebiets, das ich regelmäßig für mein Nature Writing Projekt beobachte, ist das ideal, weil kein Mensch dort hinein kann und herumwerkelt. Weißdorn würde innerhalb des Zauns also nur wachsen, wenn Vögel die Kerne auskoteten, wenn Beeren unter den riesigen Sträuchern auf dem Gelände verrotteten ... oder wenn ich sie über den Zaun spuckte! Weitwerfen mit Eicheln macht ähnlichen Spaß - oder Herumpusten von Ahornflügelchen.

Wie ich heute dank Bilbo herumtrödelte und jeden kleinen Zweig besehen konnte, entdeckte ich die ersten Weißdornschößlinge an Rand des Geländes. Trotzdem ist der Mensch nicht der Obergärtner, auch mit Weitspucken nicht - die kleinen Ahornbäumchen sind weit in der Überzahl. Und wo die meisten Eicheln lagen, haben sich Wildsäue wohlig gewälzt und sicher geschmatzt. Es ist bei aller Beeinflussung doch immer ein Geflecht aus vielen Faktoren, das einen Ort prägt.

Die Wildschweine haben sich dann auch irgendwann bemerkbar gemacht, als der Hund und ich uns langsam in der Natur auflösten, weil wir beide kleinen und kleinsten Naturwundern nachspürten. Irgendwann hat es laut geatmet und wir haben leise geatmet, vor allem ich habe gar nicht mehr geatmet. Eine Sau schubberte sich an einem Baumstamm und ich war froh, dass Bilbo gerade von einer Ameisenstraße so fasziniert war, dass er nicht darauf achtete. Die Sau war friedlich und fühlte sich nicht gestört. Sie trottete nach wohliger Rückenkratzerei einfach weiter in den Wald hinein. Auch ohne Sau bekomme ich den Hund von den öligen Flecken am Baum kaum weg - daran haftet der Wildschweingeruch so stark, dass selbst ich ihn wahrnehme. Es riecht wie eine Mischung aus besonders fruchtiger Fleischbrühe und Schmodder.

Teerig sind die Bäume über dem Boden, an der Höhe der Flecken kann man die Größe der Tiere abschätzen. An der Häufigkeit solcher Bäume die Lage des Rohöls unter der Erdoberfläche. So kam der Mensch zum Erdölabbau, den hat er sich auch den Tieren abgeschaut. Was einem Wildschwein die Hautparasiten nimmt und diese obendrein durch den Geruch in die Flucht schlägt, musste doch auch beim Menschen helfen! Also rieb man sich schon im Mittelalter mit Naturasphalt und Rohöl die Haut ein und hielt vor allem die Krätze in Schach. Mag sein, dass diese Kosmetik auch die Haut einigermaßen jung hielt, immerhin hat man mit Naturasphalt bei den alten Ägyptern mumifiziert ... Erdölprodukte in Kosmetik haben eine unwahrscheinlich alte Geschichte.

Übrigens stinkt Rohöl kein bißchen. Es riecht etwas teerig, hat aber ganz starke Noten von Kiefernharz, erinnert ein wenig an Terpentin ohne das Scharfe. So ein Bilbo-Lieblingsbaum duftet also nach in teerigem Kiefernharz gebadetem, fruchtigen Fleischbrühmoderschlamm. Gibt es ein schöneres Geburtstagsgeschenk für einen Beaglebrackenmix?

5. Mai 2019

Spurensuche in Perlentöpfen

Dass mich die Erkältung - nebst dreifachem Zahnschmerz bis in die Kieferknochen - so wickeln würde, hätte ich nicht gedacht. Bloggen ging nicht! Offenbar hingen beide Malaisen zusammen. Jetzt ist mir auch noch eine Plombe herausgefallen und ich warte sehnsüchtig auf meinen Zahnarzttermin am Donnerstag. Natürlich habe ich währenddessen fieberhaft (!) an meinem Schmuckstück für den Perlenwettbewerb gearbeitet. Die Konkurrenz ist deftig groß, aber Mitmachen ist bekanntlich alles. Und heute habe ich endlich die Muße, von meinen Entdeckungen zu erzählen. Ich war nämlich fürchterlich neugierig auf die historischen Ursprünge dessen, was ich da so frech improvisiere. Weltweit nennt man die Technik englisch "French Beading" und das hat mich stutzig gemacht: Wir kennen den Begriff in Frankreich nämlich nicht!

Jardin des Abeilles - Bienengarten - von Petra van Cronenburg, Atelier Tetebrec (C), Glasperlen, Draht, Silber

Im Deutschen sagt man auch Perlenblumen dazu, obwohl sich so nicht nur Blumen herstellen lassen. In Afrika werden in einer ähnlichen Technik Tiere gefädelt. Im Französischen sagen wir schlicht Perlage, Perlenfädelei oder Perlentechnik. Und diese Spurensuche hat mich dann außerdem nach Venedig und nach Großbritannien geführt, während die größten Perlenkünstlerinnen heutzutage in Russland und Osteuropa zu finden sind, aber auch in Südamerika. Die Geschichte ist spannend und verblüffend. Ich muss diesmal mit vielen Links zu Abbildungen arbeiten, weil ich wegen der Urheberrechte nicht einfach alles verwenden kann. Es lohnt sich also, die anzuschauen, sie öffnen sich im Extrafenster.

Der einfachste Trick, um herauszufinden, ob etwas schon alt ist, ist die Beigabe eines Jahrhunderts zum Suchbegriff. Und mit dem 19. Jahrhundert, dachte ich, würde ich nicht falsch liegen: Es war die Zeit, als sich Perlen- und Schmuckfabriken in Europa rasant vermehrten. Nicht nur, weil Kinder und arme Tagelöhnerinnen schlecht bezahlt die aufwändige Handarbeit in Heimarbeit übernahmen (Bilder) - es war auch die Zeit, als Frauen nicht mit Perlstickereien auf ihren Roben und mit Schmuck geizten. Wir kennen das von Filmen, die am Hofe von Queen Victoria spielen. Doch ich staunte nicht schlecht, als ich stattdessen auf französischen Friedhöfen landete!

Dieses Ensemble wurde beim Perlenwettbewerb von Preciosa Ornela nominiert. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass das, was ich da fertigte, die französische Technik für Perlblumen ist, die lange vor der Mode in der religiösen Volkskunst entwickelt wurde. Man erkennt den Unterschied zur viktorianischen Technik daran, dass aus Perlgirlanden gearbeitet wird und die Blumen durchscheinender sind und mit dem Licht spielen. (C) Petra van Cronenburg - Atelier Tetebrec

Tatsächlich hat man - vor allem ab dem 19. Jahrhundert bis in die 1950er hinein - in Frankreich aus winzigen Glasrocailles Blumen (Bild) und Formen für Trauerkränze (Foto) gestaltet. Glasperlen waren damals billiger als edle Stoffe wie Seide, vor allem aber blichen sie nicht in den Farben aus, wenn sie dem Wetter ausgesetzt waren. Diese Totenkränze gab es als Gedenkkränze auch für die Wohnung zum Aufhängen, vor allem Auswandererfamilien brachten diesen Brauch mit in die USA (Foto: Bangor, Main, 1834). Wie meine Großtante einst eine ganze Wand für Familienbilder zur Erinnerung reservierte, sorgte man so in der Emigration dafür, die Verstorbenen nicht zu vergessen; die Kränze hingen zwischen Taufbildchen und Hochzeitserinnerungen. Manche Totenkränze waren so aufwändig und wertvoll gearbeitet, dass man sie schützen musste. Es entwickelten sich dreidimensionale Grabkreuze mit verglasten Schaukästen, man hängte die Kränze gesammelt an Kirchenwände (Bild) oder hinter kunstvoll geschmiedete Gitter. (Meine Fotosammlung bei Pinterest)

Das ist übrigens der Grund, warum der Brauch heute nicht mehr existiert. Zuerst hat das Aufkommen der viel preiswerteren Plastikblumen in den 1950ern für neue Moden gesorgt. Vor allem aber war es die Angst vor den zunehmenden Diebstählen auf den Friedhöfen, die Familien zu billigen Materialien greifen ließ. Diebe verkauften die leicht umgearbeiteten Preziosen weiter fürs nächste Grab oder zerlegten sie gleich für wertvolles Modezubehör (kleine Geschichte mit Fotos). Eine uralt etablierte Firma in Paris ging sogar ganz legal mit der Zeit - sie arbeitete früher für die Toten und liefert heute für Couturiers. Längst bekommt man solche Totenkränze aus Perlenblumen auf Flohmärkten (Fotos) oder auf Ebay - wo sie wohl herstammen mögen?

Totenblumen aus Perlen gab es übrigens auch in anderen Regionen. Die britische Version kann man recht einfach heute noch an der Technik unterscheiden, die sich auch bei den Schmuck- und Modeblumen erhalten hat. Während die französischen Perlenblumen sehr locker und lichtvoll aus zu Girlanden gedrehten langen Perlenreihen gearbeitet sind, werden die viktorianischen Blumen gewebt und sind blickdicht, können aber auch plumper wirken. Aus dem Grund verwendete man sie schon früh lieber als Ansteckblumen fürs Kleid (Fotos Pinterest). Sehr eigen ist die Technik, die sich auf der Insel Malta durchgesetzt hat und die heute noch als lebendiges Kunsthandwerk dort gelehrt wird. Man nennt sie Ganutell - und sie stammt aus der religiösen Volkskunst, wurde auch für Altäre und Prozessionen verwendet. Hier fällt auf, dass die Blüten in Drahtrahmen gearbeitet werden, neben den Perlchen gibt es da Wickelungen mit Seidengarn. Ganutell wirkt dadurch immer ein wenig grafisch, fast eckig (Fotos Pinterest). Hier gibt es das Instagramm-Account von Maria Kerr, einer Ganutellkünstlerin. Auch in Süddeutschland gab es Perlenblumenkränze - und die führten mich dann zu weitaus älteren Ursprüngen in den sogenannten Klosterarbeiten. Aber dazu ein andermal.

Ich wollte natürlich nicht auf den Friedhöfen des 19. Jahrhunderts "verenden" und grub weiter. Zuerst fiel ich zufällig auf diesen atemberaubend schönen Blumenkorb im Lady's Repository Museum, der in der viktorianischen Technik gearbeitet wurde und womöglich auch aus jener Zeit stammt. Auf einmal wurden die Körbe, die ich fand, immer prächtiger, immer älter - und sie ähneln sich in ihrer tablettartigen Form (Pinterest-Fotos). Oft benutzte man sie bei besonderen Zeremonien, weltlichen wie religiösen, um wichtige Dinge zu reichen, wie beispielsweise Tauftücher. Und hier gibt es auch einen greifbaren historischen Ursprung im 17 Jahrhundert. Unglaublich, wie farbenfroh diese uralten Stücke heute noch sind! Hier ist einer aus dem Museum of Fine Arts in Boston, im Corning Museum of Glass gibt es mehrere uralte Stücke. Bei Bonhams ging dieser Korb aus dem 17. Jhdt. für ca. 20.000 bei der Auktion weg. Hier gibt es schöne Bilder aus der Burell Collection, und hier Geschichte nebst Fotos von einem wahrhaft königlichen Stück im MET.


Arbeit an einem Kunstprojekt zum Insektensterben. Papierkäfer werden in alten Zigarettenblechschachteln eingearbeitet, deren Inneres von alten Klosterarbeiten inspiriert ist, vor allem von kleinen Reliquaren. (C) Petra van Cronenburg - Atelier Tetebrec

Eigentlich müsste ich jetzt von den Klosterarbeiten erzählen, die mich übrigens vor allem bei meinen Kunstschachteln und dem Käferprojekt inspirieren. Aber das wird zuviel und eine Textwüste und deshalb mach ich das ein andermal.

Detail: Einzelne Blumen des Wettbewerbsstücks von oben. Die Rocailles, mit denen man arbeitet, sind maximal 1 mm groß, der Draht 0,315 mm dick. Bevor geformt wird, werden zunächst meterweise Perlen aufgefädelt, bei Farbmischungen muss man ständig zählen oder abmessen. Vor allem beim Formen und Verdrehen muss man extrem mit Fingerspitzengefühl arbeiten, damit der Draht nicht bricht, sonst wäre die gesamte Blume verloren. Finger und Fingernägel sehen nach solchen Arbeiten übrigens alles andere als vorzeigbar aus. (C) Petra van Cronenburg - Atelier Tetebrec

Jetzt nur so noch viel: Ich habe mich in dieses alte Kunsthandwerk ziemlich verliebt, auch wenn ich weiß, dass ich für die ganz großen Werke gar nicht die Zeit aufbringen kann. Aber kleinere Blumen probiere ich im Moment auch für mich aus. Colliers fertige ich nur als Spezialanfertigung auf Nachfrage - hier ist allein das Material zu kostbar, um nur auf Verdacht für meinen Etsyshop ins Blaue zu produzieren. Das hat mich nämlich dann selbst fast umgeschmissen: Für eine einzige kleine Blüte für einen einzelnen Ohrring sind doch tatsächlich 230 Rocailles und 60 cm Silberdraht notwendig gewesen - bei einer vollen Stunde Arbeit. Ich kann nur annähernd schätzen, wieviel Material und Zeit in meinen Wettbewerbsstücken "verschwunden" sind. Das macht mich dann auch sehr demütig geegenüber Prachtschmuck, wie er z.B. in Fantasyfilmen verwendet wird oder bei den großen Couturiers. Solches Kunsthandwerk, zumal es nicht mehr von vielen ausgeübt wird und viele Techniken und Muster mühsam von alten Vorlagen rekonstruiert werden müssen, hat dann natürlich auch seinen Preis.

Man kann übrigens für mein Wettbewerbsstück voten, muss aber ein Account nehmen, damit keine Betrügereien möglich sind. Eine Jury entscheidet zum Schluss über die Gewinner, die Votings gehen nur als Teil in die Entscheidung ein: Hier auf den Button "ajoutez mon vote / meine Abstimmung hinzufügen" klicken (Sprache kann man fürs Account ganz oben in der Leiste wählen, aber der Wettbewerbstext ist nur französisch.)

Übrigens macht solches Bloggen richtig Arbeit. Ich freue mich immer über Spenden für die Kaffeekasse - rechts im Menu via Paypal ganz einfach zu machen!