Vor dem Denken erst mal losschreien?
Gestern erzählte ich in einer FB-Gruppe, dass ich freitags immer Fastfood esse. Da ist nämlich nachmittags Markttag und auch sonst viel zu erledigen - Einkäufe, Termine, Arbeit, Sammelmüll zur Dechetterie fahren. Wenn mich jemand bekocht, ist das schön - ansonsten zelebriere ich einen faulen Abend ohne Arbeit in der Küche. Im Nu bin ich in der Gruppe umringt von ... ja, von was eigentlich? Ich darf mir anhören, wie scheußlich ungesund das sei, wenn man regelmäßig (!) Fastfood esse! Ich darf mir anhören, was für ein Klimaschädling ich sei (noch sagt keiner "Schädling", noch). Ich werde belehrt, wie ich dieses mein Leben nachhaltiger und gesünder haben könne.
Keiner von den übererregten und selbsternannten Weltverbesserern hat mich überhaupt gefragt, was ich unter Fastfood verstehe und ob ich nicht vielleicht deshalb alles an einem Tag erledige, um nur einmal in die Stadt fahren zu müssen, um also Umweltbelastungen zu minimieren. Keiner. Urteil kommt vor Wissen. Kreischen vor Verstand. Und ich muss das ganz deutlich sagen: Ich halte absolut nichts von der Leugnung des Klimawandels und bemühe mich kräftig auf allen Ebenen. Ich bemühe mich, bin aber nicht perfekt.
Ich grinste mir eins bei der entgleisenden Debatte und denke, es hätte auch nichts genützt, vom Festessen zu erzählen, dass der Vietnamese auf dem Markt nicht nur für mich vorgekocht hat. Es war ja rudimentär Fleisch dabei, darf man auch nicht mehr. Stattdessen schwärme ich mit einer mir unbekannten Frau direkt auf dem Markt von den Köstlichkeiten, die er hat, wenn man nur frühzeitig kommt. Leute wie wir stehen da nämlich Schlange. Es ist ein Ritual am Markttag.
Ob ich die wunderbaren Teigtaschen vom Ziegenkäsebauern schon gekostet hätte? Blätterteig, der mit köstlichem Krachen auf der Zunge erst zerbröselt und dann zerschmilzt; Aromen frischer Kräuter, die sich beim Warmmachen entwickeln. Was in der Füllung war, darf man im Internet nicht mehr erzählen, denn Käse geht auch nicht mehr, ist auch ganz böse. Herdentiere sind überhaupt "ibäh". (Irgendwo las ich einen Rant, sie würden schließlich den Wald kaputtmachen.) Ach, wie armselig muss das Leben all dieser Besserwisser sein, die keine Ahnung haben von den Fastfoodgenüssen dieser Welt! Oder davon, dass unser Naturpark nicht so wunderbar unterschiedliche Biotope hätte, gäbe es jene Herdentiere nicht.
Diese Leute mit der Laus auf der Leber, die immer gleich loswiehern - früher hat man solche Zustände mit tierischen oder auch pflanzlichen Metaphern umschrieben, weil man das Verhalten als instinktgetrieben einordnete. Eine Sache, die man beim Homo sapiens eher nicht so gern sah, denn der hatte ja angeblich für alles seinen ach so großen Verstand. Ein Instinkt - übrigens heute ein unwissenschaftlicher Begriff - wurde ungefähr so definiert: Durch einen Schlüsselreiz von außen entlädt sich angeborenes Verhalten, ohne dass das Bewusstsein oder der Verstand beteiligt ist. Oder anders gesagt: Haut dir einer eine runter, schlägst du zurück, ohne zu denken. Die Idee, stattdessen auch noch die andere Wange hinzuhalten, war so revolutonär, weil sie eine ungeheure Hirnleistung und das Benutzen von Verstand vor der Handlung verlangte.
Heute wissen wir es natürlich besser: Wir sind immer noch dem Urmenschen näher, als es uns lieb ist. Während wir uns in eine Affektspirale regelrecht hineindrehen können, kommen Tiere relativ schnell wieder von der Palme runter und pflegen ihre sozialen Rituale - und sei es das, sich aus dem Weg zu gehen. Ich kann darum bei meinen Waldgängen ein Wildschwein in dem, was es vorhaben könnte, sehr viel verlässlicher beurteilen als einen Menschen. Diejenigen, die nicht gleich zuschlagen, werden seltener. Diejenigen, die das mit der anderen Wange praktizieren ... werden die von Zuckerbergs Algorithmen überhaupt noch zugelassen?
Manche wären gern wie eine Mauer. Aber auch die bröselt irgendwann irgendwo. |
Egal, es kommt ja immer noch schlimmer.
Neuerdings taucht eine Spezies auf, die sich vom Homo sapiens wegzuentwickeln scheint. Falls daraus eine neue Spezies werden sollte, möchte ich sie vorsichtig Homo odio sui fervescens nennen, umgangssprachlich "Menschenhasser mit Selbstekel". Die machen mir Sorgen.
"Sterbt doch endlich aus!"
Ja, wir leben in Krisenzeiten und wir haben nicht nur eine einzige große Krise zu bewältigen. Ja, manchmal ist es zum Verzweifeln, was wir anderen Wesen antun, was wir alles wider besseres Wissen nicht tun und was wir falsch machen. Ja, an manchen Tagen könnte man an Apokalypsen glauben und den Weltuntergang beschwören. Aber halt, ist das nicht auch schon menschliche Hybris?
Man kann zynisch werden, sarkastisch. Und natürlich kann einem dabei mal der allzu menschliche Gedanke herausrutschen, dass ein Aussterben der Menschheit dem Planeten vielleicht besser täte. Der hat nämlich auch die Zeiten ohne Sauerstoff überlebt, die massiven Kontinentalverschiebungen und die Dinosaurier sowieso. Wären die nicht ausgestorben, hätten sich moderne Säugetiere nicht entwickelt und auch nicht der Mensch. Der Planet hält das ohne Menschen also bestens aus. Könnte nach dem Aussterben des Menschen vielleicht sogar wieder etwas völlig Neues entstehen? Vielleicht soziale Staaten bildende, Kohlenstoff fressende Mehrzeller mit künstlicher Intelligenz? Womöglich mutieren aber auch nur Küchenschaben zur Weltherrschaft.
Zynisch kann ich also auch. Aber bei mir ist das ein Stilmittel unter vielen, zur Lebenshaltung möchte ich den Zynismus nicht werden lassen. Vor allem wünsche ich mir selbst, dass ich nie so werde wie der Homo odio sui fervescens: der Mensch, der sich im oft zynischen oder sarkastischen Selbsthass entzündet (Frauen sind hier ausdrücklich mitgemeint). Wo kommen die auf einmal alle her?
Zumindest interpretiere ich das so: Wenn mir jemand ständig damit kommt, die Menschheit sei ein Ungeziefer (welch gefährliche Ideologie das speist, wenn man es weiter denkt!) und es sei besser, sie würde schnell aussterben, dann wäre dieser Vorgang doch logischerweise dadurch zu beschleunigen, dass solche Menschenhasser bei sich selbst anfingen? Nun bin ich sarkastisch, gezielt. Aber es ist einfach so: Jedesmal, wenn mir Leute massiv vorheulen, das Kroppzeug auf zwei Beinen müsse schleunigst weg, möchte ich sie fragen, warum sie selbst noch da seien (und sich womöglich fortgepflanzt haben). Ginge man da nicht besser mit gutem Beispiel voran? Es ließe sich im Notfall an eine Karriere im Kabarett denken, wenn diese Apokalyptikerinnen und Weltuntergangler weniger ideologisch und selbstgerecht wären. Aber leider sind ja viele gänzlich humorbefreit! Es verkommt zur Attitude, denn was anderes ist lautstark vor sich selbst hergetragener Selbstekel nicht.
Ich mag das einfach nimmer. Ja, wir müssen vom Anthropozentrismus runterkommen, der macht übel viel kaputt. Aber weltweit denken viele Menschen längst um, entwickeln faszinierende neue Denkkonzepte. Die Wissenschaft öffnet uns völlig unbekannte neue Denkwelten, indem sie herausfindet, dass Tiere so blöd gar nicht sind, wie wir sie gern hätten - und dass Pflanzen mehr können, als wir früher vermuteten. Es bleibt ja zum Glück nichts starr stehen, selbst Menschen sind entwicklungsfähig. Ich sah heute ein interessantes Spruchbild, das sinngemäß sagte:
Wir brauchen nicht einige wenige, die perfekt sind. Wir brauchen Millionen, die es in aller Nichtperfektion einfach versuchen.
Das trifft genau das, was ich an Menschen als Spezies so liebe. Sie sind nicht perfekt, irren sich häufiger, als es ihnen lieb ist. Nur deshalb sind sie lernfähig. Menschen vergessen, manchmal vergessen sie das Falsche oder zuviel. Aber ohne Vergessen wäre Erinnerung nicht möglich und auch kein abstraktes Denken. Menschen können manchmal fast zerbrechen, aber auch durch solche Erfahrungen stark werden. Menschen sind verdammt unvollkommen und fehlerhaft - aber nur so können sie nach Perfektion streben, sich anstrengen, Ziele entwickeln, Grenzen überschreiten. Und dazu passt der Widerspruch darin: Wer sich der Perfektion zu nahe wähnt, lebt wie scheintot.
Wirklich faszinierend und reich machen uns unsere Brüche, nicht die glatte Oberfläche. Wir können hassen, aber wir können eben auch glühend lieben und den Unterschied zwischen beidem empfinden. Was würde passieren, wenn wir nur noch die allzu Glatten und Perfekten lieben könnten? Sind es nicht gerade die Menschen, bei denen es "menschelt", die unsere Liebe bräuchten?
Die Menschheitsverächter kommen gefährlich den Menschenverächtern nahe. Dieser verächtliche Zynismus, wenn er regelmäßig auftritt und nicht mehr vergeht, hat nicht mehr viel mit gesunder Skepsis und Kritik zu tun, er rutscht ab in einen destruktiven Dauerskeptizismus. Entweder äußert sich das später in kompletter Verdrossenheit und Resignation - oder man wertet sein Gegenüber einfach nur noch ab. Vielleicht sogar beides. Und wenn man das macht, ist die Selbstgerechtigkeit nicht mehr weit. Irgendwo habe ich mal gelesen, hinter jedem verächtlichen Dauerzyniker stecke ein verhinderter Missionar. Das bedeutet Ideologie und Sendungsbewusstsein.
Da haben wir sie wieder - die Leutchen, die mir mein köstliches Fastfood abspenstig machen wollten, weil es nicht zu ihrer Ersatzreligion des Essens passt. Also ihrer pseudoreligiösen Ideologie.
Ideologie ist weder lebens- noch liebesfreundlich - ob sie von links oder rechts kommt, von Erleuchteten oder Unterbelichteten, von denen, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben oder die glauben, nur sie seien auf dem Pfad der Tugend unterwegs.
Ziegen gucken. Und Maul halten. |
Wenn mir jemand ständig mit diesen Sprüchen kommt, wie eklig die Menschheit sei, möcht ich ihn oder sie am liebsten einfach fest in den Arm nehmen und schweigen und schauen, was passiert. Vielleicht dürfte man so jemanden auch gar nicht berühren, manche zucken ja sofort zurück. Die würde ich mitnehmen auf die Weide. Zum Ziegen gucken. Und Maul halten.
Auch wenn George Clooney schon versucht hat, auf Ziegen zu starren und man damit im Film angeblich Ziegen umbringen konnte - das war Satire. In Wirklichkeit läuft es andersherum. Also nicht so ganz, weil Ziegen ja nicht hassen können. Wer je inmitten ihrer Köttel saß und die Ehre hatte, ihnen in die Augen blicken zu dürfen, wird regelrecht hineingesogen in diese Pupillen, die falschherum zu stehen scheinen, wenn sie sich verengen. Auf einmal ist alles waagerecht. Wieder im Lot. So, wie vier Beine, die fest auf dem Erdboden stehen. Ziegen sehen aus, als wüssten sie, wie man die Balance hält. Wenn wir zu lange sitzen, kommen Hörnchen von hinten oder von der Seite, fordern uns zum Spielen und zum Blödsinn auf. Vielleicht könnte das den dauergriesgrämigen Menschheitsverächtern helfen: Blödsinn machen? Bocksprünge vollführen? Heimlich über Zäune hüpfen und die Freiheit erkunden? Furzen, Flöhe haben und auch sonst nicht perfekt sein?
Ich stelle fest, dass ich wahrscheinlich viel zu oft über Ziegen schreibe und mich wahrscheinlich wiederhole in dem, woran ich leide. Das mag ein Zeichen dafür sein, das mir so oft das leise Denken fehlt, das die Entstehung kluger Bücher ausmacht. Leises Denken darf kreisen, muss kreisen, muss ohne Ziel und Perfektion und Denkkorsett lange herumwabern dürfen, bevor es zu einem Text gerinnt. Manche Texte müssen erst am Leben reifen, weil sie nur dann berühren. Mit Hass auf die Menschheit kann man Menschen nicht berühren.
Ach ja, liebe Petra. Been there, done that. Dein Post bestätigt mir wieder einmal, dass es richtig war, aus den Sozialen Hetzwerken rauszugehen. Das brauch ich auch nicht mehr.
AntwortenLöschenLG
Elli
Liebe Elli,
Löschendas Schlimme ist ja leider, dass diese Leute auch im echten Leben so sind. Da kann ich sie mir nur besser von der Pelle weghalten. ;-)
Aber ich denke, FB ist über dem Zenit ...
Liebe Grüße aus dem Wald,
Petra
Mir ging es auch so, dass der Beitrag mich sehr darin bestätigt hat, dass es eine gute Entscheidung war, die sozialen Netzwerke zu verlassen. Natürlich gibt es unschöne Interaktionen auch anderswo, aber dort treten sie schon in sehr konzentrierter Form auf.
AntwortenLöschenEs ist aber auch schade, mir fehlen Leute wie du zur Kommunikation dort. Aber wer weiß, wie lange ich Fb noch ertrage. ;-)
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