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13. Mai 2019

Weitspucken und Schubbern

Der wunderbare und einzigartige Bilbo von Butterblum hat heute Geburtstag und bekam einen extra dicken Waldgang geschenkt, bei dem hauptsächlich er entscheiden durfte, wohin es ging. Leider hat ihm das nun endlich sonnige Wetter gar nicht gepasst: An geschützten Stellen war es ihm plötzlich zu heiß - gestern bibberten wir noch bei niedriger Zweistelligkeit der Temperatur. Dazu weht heute eine eisige (!) steife Brise um die 60 km/h, ein Wind, mit dem wir schon seit Wochen wiederholt zu kämpfen haben, weil er den Lehmboden im Nu ausdörrt. Von den überschwemmten Wegen und den Riesenlachen am Waldrand war innerhalb eines Tages nur noch eine winzige Pfütze übrig. Wie um das zu unterstreichen, fiel mir gerade im Moment eine volle Blumenvase vom Fensterbrett, vom Wind umgeblasen. Auch der Hund merkt, dass mit dem Wetter etwas nicht mehr stimmt. (Währenddessen wurden am russischen Polarkreis 31 Grad PLUS gemessen).

Die Primelpracht ist vom Vorjahr. In diesem Jahr war es zu kalt und lange zu trocken, nur der Löwenzahn blühte.

Wenn Bilbo keine Lust hat (sich lieber auf Kissen sonnen würde), wird er zum Flanierer, zum Trödler. Jeder einzelne Grashalm wird auf Rehkontakt überprüft. Ist die Spur frisch, zieht er sich die Geruchsteilchen zusätzlich mit der Zunge in den Rachen. Wie er es schafft, selbst in tiefen Pfützen Spuren zu riechen und danach zu tauchen, ist eine echte Beaglespezialität, genauso wie der herrliche "Glöckelton", wenn das Wild in Reichweite steht. Damit ich Menschendepperl das auch merke.

Während Monsieur also im Reich der Gerüche verschwand, inspizierte ich das Sperrgebiet. Dort grünt es nun auch langsam, die kleinen Baumschößlinge, die sich wild ausgesät haben, sind an Blättern bestimmbar. Ob mein Weitspucken sich bemerkbar machen würde?

Irgendwann einmal habe ich einen spannenden Artikel darüber gelesen, dass nicht nur der Mensch Kulturräume in der Natur schafft und verändert. Auch Tiere machen das und die Natur rechnet fest damit.

Wahrscheinlich wäre die Menschheit nie auf die Idee mit dem Ackerbau gekommen, wenn es nicht unendlich weite Savannen und Grassteppen gegeben hätte, deren Grasähren so herrlich süß schmeckten, wenn man sie sehr lange kaute. Bisons und andere Großtiere machten das vor. Es waren nicht nur klimatische Bedingungen, die solche Flächen waldfrei hielten, große Tiere und wilde Viehherden weideten das Land ab und verhinderten, dass Schößlinge zu Bäumen wurden. Und so sorgten die einen Tiere dafür, dass eher Gräser und Wiesenblumen wuchsen, während die anderen Tiere sich als unfreiwillige oder auch lustvolle Pflanzer betätigten.

Die Pflanzenwelt hat sich in Sachen Nachwuchs jede Menge effektiver Strategien zurechtgelegt. Tiere und Menschen sind da eingeplant, weil sie wandern. Ideal für einen ortsfesten Baum, seine Gene weiter zu streuen, als das mit Ausläufern oder einfach nur herabfallenden Samen möglich wäre. Also klammern sich manche Samen in Pelz wie Kletten, es streifen Rispen und Dolden ihre Samen über Tieren ab, Menschen sammeln sie in der Kleidung, in den Schuhen - und schütteln das irgendwo wieder aus. Man kann an solchem Pflanzenverhalten, sprich Pflanzenwanderungen, sogar große Kriege oder alte Eisenbahnlinien rekonstruieren!

Eine invasive Pflanze, die in unseren Breiten als hartnäckiges Unkraut gilt, erzählt einen solchen Mythos. Das sogenannte Franzosenkraut der Gattung Galinsoga, das eigentlich Knopfkraut heißt, soll angeblich durch französische Soldaten in ihren Stiefeln eingeschleppt worden sein. Die wahre Geschichte seiner Verbreitung liest sich allerdings etwas banaler. So haben Spanier und Franzosen die Pflanzen kurz nach der Französischen Revolution in Peru entdeckt und in ihre botanischen Gärten importiert. Deshalb heißt die Gattung im Lateinischen wie der damalige Chefgärtner des Madrider Botanischen Gartens, Galinsoga. Der sehr bekannte Karlsruher Botaniker Gmelin hat dann das Kleinblütige Knopfkraut im 19. Jhdt. in seinem Botanischen Garten gesät und war einigermaßen überrascht, wie schnell es sich auf einen benachbarten Acker und von dort aus weiterverbreitete. Ähnlich ging es einem Pfarrer und Hobbybotaniker in Pommern, der 1807 ebenfalls Galinsoga parviflora im Pfarrgarten aussäte. Im Nu eroberte sich die Pflanze Nachbargärten, Straßenränder und Äcker. Aber sie blieb einigermaßen standorttreu - bis die französischen Truppen unter Napoleon durchs Land zogen! Plötzlich fand man es überall auf deren Route und der Pfarrer hatte seinen Namen: Franzosen(un)kraut!

Die Sache mit den Stiefeln war sicherlich auch nur eine Mär, wahrscheinlicher verbreiteten sich die Samen mit dem gemähten Heu, das für die Pferde mitgeführt wurde. Was nicht von selbst als Samen auf die Erde fiel, wurde entlang der Wege in Pferdeäpfeln gleich mit Dünger "gepflanzt". Der Name setzte sich wohl eher aufgrund der Franzosenfeindlichkeit damals durch, denn in Wirklichkeit waren es ja die heimischen neugierigen Botaniker und Hobbybotaniker gewesen, denen ihre exotische Sammlung regelrecht in die Natur ausbüchste. Nicht selten lesen sich ältere Schriften über invasive oder eingewanderte Pflanzen manchmal fast rassistisch ...

Kurzum, Samen verbreiten sich gern über Lebewesen, aber auch durch Wind und Wasser. Und manche Samen brauchen es aufwändig: Sie müssen zum Wachsen erst einmal verdaut werden. Oder anders ausgedrückt: Die Pflanzen sorgen dafür, dass ihre Samen z.B. als Beeren besonders attraktiv sind. Das sind also die Pflanzen, die auf die "Lustgärtner" zählen! Perfekt, wenn ein Vogel die Kerne schluckt und sie viele Kilometer weiter an seinem Ruheplatz einfach aus ihm herausfallen ... oder wenn ein Mensch Kirschkerne nicht brav in eine Schüssel füllt, sondern Weitspucken übt.

Manchem würde das Sperrgebiet gar nicht auffallen, allenfalls daran, dass der Hügel nur spärlich bewachsen ist. Tatsächlich ist das mit einem hohen Zaun umgebene Gebiet eine uralte Sondermülldeponie, deren Boden außerdem absinkt und einbrechen kann. Der Hügel besteht aus Sand-Abraum vom Erdölabbau über unterirdische Galerien. In den 1960ern und 1970ern hat man dann aus dem Unwissen der Zeit heraus das Schlimmste gemacht: Einfach alle übrigen Chemikalien in die Galerien geworfen und drüberbetoniert. Leute haben da unerschrocken gewohnt. Eine aufwändige Sanierung konnte das nicht mehr beseitigen, zu dick sind die Betonpropfen, zu gefährlich die geologischen Verhältnisse. Denn noch sind ja auch Erdöl und Erdgas im Boden. Einmal im Jahr fackelt eine Spezialfirma das Gas ab, damit der Hügel nicht in die Luft fliegt.

Was soll ich sagen - ich war inspiriert. Nach dem ersten Frost im Winter knabbere ich unterwegs gern Weißdornbeeren, denke an die Samen, die herauswollen, und spiele Weitspucken. Am Zaun des Sperrgebiets, das ich regelmäßig für mein Nature Writing Projekt beobachte, ist das ideal, weil kein Mensch dort hinein kann und herumwerkelt. Weißdorn würde innerhalb des Zauns also nur wachsen, wenn Vögel die Kerne auskoteten, wenn Beeren unter den riesigen Sträuchern auf dem Gelände verrotteten ... oder wenn ich sie über den Zaun spuckte! Weitwerfen mit Eicheln macht ähnlichen Spaß - oder Herumpusten von Ahornflügelchen.

Wie ich heute dank Bilbo herumtrödelte und jeden kleinen Zweig besehen konnte, entdeckte ich die ersten Weißdornschößlinge an Rand des Geländes. Trotzdem ist der Mensch nicht der Obergärtner, auch mit Weitspucken nicht - die kleinen Ahornbäumchen sind weit in der Überzahl. Und wo die meisten Eicheln lagen, haben sich Wildsäue wohlig gewälzt und sicher geschmatzt. Es ist bei aller Beeinflussung doch immer ein Geflecht aus vielen Faktoren, das einen Ort prägt.

Die Wildschweine haben sich dann auch irgendwann bemerkbar gemacht, als der Hund und ich uns langsam in der Natur auflösten, weil wir beide kleinen und kleinsten Naturwundern nachspürten. Irgendwann hat es laut geatmet und wir haben leise geatmet, vor allem ich habe gar nicht mehr geatmet. Eine Sau schubberte sich an einem Baumstamm und ich war froh, dass Bilbo gerade von einer Ameisenstraße so fasziniert war, dass er nicht darauf achtete. Die Sau war friedlich und fühlte sich nicht gestört. Sie trottete nach wohliger Rückenkratzerei einfach weiter in den Wald hinein. Auch ohne Sau bekomme ich den Hund von den öligen Flecken am Baum kaum weg - daran haftet der Wildschweingeruch so stark, dass selbst ich ihn wahrnehme. Es riecht wie eine Mischung aus besonders fruchtiger Fleischbrühe und Schmodder.

Teerig sind die Bäume über dem Boden, an der Höhe der Flecken kann man die Größe der Tiere abschätzen. An der Häufigkeit solcher Bäume die Lage des Rohöls unter der Erdoberfläche. So kam der Mensch zum Erdölabbau, den hat er sich auch den Tieren abgeschaut. Was einem Wildschwein die Hautparasiten nimmt und diese obendrein durch den Geruch in die Flucht schlägt, musste doch auch beim Menschen helfen! Also rieb man sich schon im Mittelalter mit Naturasphalt und Rohöl die Haut ein und hielt vor allem die Krätze in Schach. Mag sein, dass diese Kosmetik auch die Haut einigermaßen jung hielt, immerhin hat man mit Naturasphalt bei den alten Ägyptern mumifiziert ... Erdölprodukte in Kosmetik haben eine unwahrscheinlich alte Geschichte.

Übrigens stinkt Rohöl kein bißchen. Es riecht etwas teerig, hat aber ganz starke Noten von Kiefernharz, erinnert ein wenig an Terpentin ohne das Scharfe. So ein Bilbo-Lieblingsbaum duftet also nach in teerigem Kiefernharz gebadetem, fruchtigen Fleischbrühmoderschlamm. Gibt es ein schöneres Geburtstagsgeschenk für einen Beaglebrackenmix?

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