Meine schlimmsten Befürchtungen waren das Einhalten der Zeit (meine Auftritte waren immer gut geprobt, sogar mit Stoppuhr) und die Tatsache, dass ich mich fürchterlich krank fühlte (kann man nachschlafen). Dass ich mich verlaufen könnte (das Areal ist riesig), dass mir der Text wegbliebe. Aber letzteres sind die üblichen Lampenfiebersymptome, von denen ich weiß, die mache ich mir nur selbst vor. Als mir gleich zu Anfang der Name des Bauernhofgründers wegblieb (ich und Namen!), sagte ich einfach: "Das war also die Familie Stempfel, Stämpfel oder äh, jetzt ist der Name weg, oder Stempfelheimer oder Stempfelmeier ..." Lacher - und als ich später ansetzte, etwas zur Familie zu sagen, meinte jemand aus dem Publikum fröhlich: "Das waren die Dingens oder Heimer oder Meier, gell?!" Ich habe mir notiert: Namen nachschlagen*. Aber wäre die Führung dann genauso witzig?
Immerhin haben mich das meine Auftritte vor allem zu den Sachbüchern gelehrt:
Wenn du etwas nicht weißt, gib es zu. Tu nicht allwissend. Und vielleicht weiß jemand aus dem Publikum etwas Interessantes zum Thema, du kannst anknüpfen und die Lücke ist überbrückt.
Es ging also alles gut. Etwas im Schweinsgalopp (anderthalb Stunden), weil die Gruppe zu spät kam und bei Reisegruppen jede Minute getaktet ist. Das ist anders als bei Auftritten, wo Menschen entspannt und mit viel Zeit eigens nur zu deiner Veranstaltung kommen. Und anders als bei Auftritten muss ich dann auch öfter mal diese ernsthaften Museumsmenschen geben, die mich als Kind immer so genervt hatten. Meine am meisten benutzten Sätze waren: "Bitte nichts anfassen!" / "Vorsicht Stufe" / "Wenn Sie bitte aufschließen wollen". Es sind ja z.T. winzige Zimmer und unwillkürlich bleiben die ersten im Eingang stehen, weil sie sich nicht näher trauen. Sie merken nicht, dass sie den dadurch für die anderen verstopfen.
Weil ich keine Grummelführerin werden möchte, versuche ich es mit Humor. Hat jemand einen Teller hochgehoben und angepfatscht? "Sie dürfen sich nachher zum Geschirrspülen in der Küche melden!" Eine Kollegin liebt Fehlverhalten im Schulhaus - die- oder derjenige darf dann vor allen die Eselsmütze tragen. Das war die französische Version des Eckestehens. Endlich was zum Anfassen und alle haben etwas davon!
Wenn ich selbst Kleidung aus dem Schrank nehme, um sie vorzuführen, mache ich das ehrfürchtig, fasse den Bügel oben an. In mir geht ein ganzes Kopfkino ab, was der Schweiß meiner Finger auf den uralten, brüchig werdenden Stoffen anrichten könnte. Als ich das Trachtenoberteil einer Frau aus dem frühen 20. Jahrhundert hochhielt, war das ein ganz seltsames Gefühl. Ich fühlte am Gewicht, sah an der Größe, wie unwahrscheinlich zierlich und klein diese Frau gewesen sein musste. Wie zerbrechlich - und das bei der so harten Arbeit auf dem Hof. Heute könnte das Teil nur ein sehr junges Mädchen tragen. Aber so hatten wir die Erklärung, warum die Größten der Gruppe öfter mal den Kopf einziehen mussten.
So ging das also alles gut und ich bekam hinterher viel Lob, dass man gar nicht gemerkt habe, dass es meine Premiere gewesen sei. Und doch war es eine, nach all der Vorerfahrung mit öffentlichen Auftritten. Wenn ich Veranstaltungen zu meinem Elsassbuch hatte oder sogar Leute dazu herumführte, stand immer ich im Vordergrund. Die Leute waren gekommen, um die Buchautorin XY zu erleben, das Buch kannten viele schon oder sie würden es eh hinterher nachlesen. Da war immer auch eine Distanz, oder manchmal auch eine Art Verehrung, die ich als zuviel empfand. Vor allem aber war da nichts zum Anfassen, außer bei kulinarischen Lesungen. Trotz aller Oasen für die Sinne bleibt man beim reinen Erzählen und Vorlesen doch von einigen Sinneserfahrungen abgeschnitten.
Es ist jetzt im Museum völlig anders und das gefällt mir sehr. Es sind die Räume und Dinge, die wirken, es ist das Hiersein, das Menschen in Beziehung dazu setzt. Ich liefere nur Hintergründe und Denkanregungen, Anekdoten und Geschichten. Gleich zu Anfang, wenn die Gruppe im riesig erscheinenden Vorderhof steht, weiß ich, dass sie wie ich beim ersten Mal spontan das gleiche denken: "Ach wie idyllisch, ach wie wunderschön!" Das Gerede von den guten alten Zeiten wird ja heutzutage gern auch schon mal Programm. Aber dann bricht das damalige Alltagsleben ein, ohne fließend Wasser und Strom, ohne Toilette und Klospülung. Die Oma muss die Kinder erziehen und die Wäsche machen, der Opa in die eigentlich verhasste preussische Armee. Nur weil beide zu eben diesem Zeitpunkt auf der Welt waren ...
Der Eindruck, den ich vermitteln konnte, war auch für mich interessant: Die Reisegruppe schied mit einem Gedanken von Hochachtung vor den Generationen zuvor. Ihr war bewusst geworden, wie unendlich hart und einfachst dieses Leben damals war, mit wenig Fluchtmöglichkeiten aus Rollen oder dem Schicksal - außer der Emigration. Denn auch hierfür steht der Hof: Er wurde aus Ruinen aufgebaut von einer Familie, die aus Mähren gekommen war, weil man nach der Entvölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg überall Einwanderer anwarb. Und er war verlassen worden von einer Familie, die in die USA auswanderte, weil dort mehr Möglichkeiten winkten.
Da war ein Staunen, wie leicht und bequem wir heute alles haben, vor allem, was wir alles ohne eigene oder sehr langwierige Arbeit konsumieren und besitzen können. Und gleich dieses Gegengefühl: Wie leicht katapultiert uns das aber auch in unsere Wegwerfkultur! Ins Nicht-Nachdenken-Müssen, in Automatismen. Der Hof regt insofern zum Nachdenken an: Können wir vielleicht etwas von diesem Leben damals lernen? Brauchen wir all das, was wir zu brauchen scheinen, wirklich? Und wie können wir zu einer Kreislaufwirtschaft kommen? Auf so einem Hof verkam nichts, alles wurde genutzt. Aber es entsprach eben auch nicht unserem heutigen Wissen von Hygiene und Giften. Wo müsste man ansetzen, um für unsere modernen Bedingungen solche Kreisläufe zu schaffen? Und können wir unsere modernen, uns so selbstverständlich erscheinenden Errungenschaften nicht auch mal richtig feiern? In unseren Breiten muss niemand mehr Wein ins Trinkwasser mischen, um Bakterien abzutöten. Wir müssen kranke Kinder nicht mehr in den Alkoven des einzigen Tag und Nacht geheizten Zimmers schaffen und selbst mit Schröpfköpfen und Klistieren behandeln, weil der nächste Arzt so weit weg oder gerade nicht zu bezahlen ist.
Was ich aber wirklich mitgenommen habe bei meiner Premiere, war etwas Zwischenmenschliches, das mir in der auftrittsfreien Zeit und der doch sehr isolierten Arbeit im Atelier abhanden zu geraten schien. Im Nebenjob arbeite ich im Home Office an Datenbanken, auch nicht sehr gesellig. Facebook spielte da oft die Rolle des virtuellen Großraumbüros, in dem man mal mit anderen Kaffee trinken konnte. Nicht umsonst hatte ich mir vorgenommen, mich im Museum zu engagieren und endlich wieder mit der absolut bunten, wilden und spannenden Vielfalt von Menschen in Kontakt zu kommen.
Das war genau der richtige Schritt. Das ist etwas, was ich trotz der Zeiten, in denen ich für die Kunst allein sein muss, dringend brauche. Man kann es Input des Lebens nennen, ohne den bekanntlich kein Buch mit Tiefe entstehen kann. Es sind Eindrücke, Meinungen, Charaktere und viel mehr. Denn da ist ein großer Unterschied zur Internetkommunikation.
Allein wir Ehrenamtlichen sind ein unwahrscheinlich bunter Strauß von Menschen, hinter denen sehr unterschiedliche Leben und Lebenserfahrungen stehen - gemeinsam mit den BesucherInnen erweitert auf unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Wir sitzen auf der Bank und begeistern uns gemeinsam für etwas, jemandem fällt dazu eine Geschichte aus seinem Leben ein, eine Frau erzählt von ihren Erfahrungen damit als Kind. Wir hören zu. Wir fallen uns nicht ins Wort, allenfalls, wenn die Begeisterung zu schnell sprudelt. Wir hören einfach zu.
Unterschiedliche Alterstufen (die sehr Jungen fehlen im Ehrenamt), unterschiedliche Nationalitäten und Sprachen, unterschiedliche kulturelle Prägungen, Lebensläufe, Lebenserfahrungen, Vorlieben und Abneigungen, Charaktere.
Und wir hören einfach erst mal zu. Geben die ein oder andere Anekdote zum Besten, fassen Vertrauen zueinander, öffnen uns mal mehr oder weniger langsam. Jeder in der Geschwindigkeit, die er braucht, jede je nach Temperament. Da sind Respekt und Wertschätzung. Irgendwie kann hier jede und jeder von anderen etwas lernen, bereichert werden.
Es gäbe Dinge im Alltag zu beklagen, wir könnten uns ereifern. Aber da greift die Geschichte nach uns, wir spüren den Kontext, der auch uns im Werden beeinflusst hat. Und da ist dieses Gefühl bei mir, dass wir in vielem vielleicht genauso unbedeutend sind wie das Huhn, das vor einiger Zeit von einer Gans niedergemacht wurde und nun eben weg ist. Trotzdem leuchtet aus jedem Menschen, wenn man nur das Schauen gelernt hat, die gleiche Schönheit, die wir bei unserem großen bunten Hahn so bewundern. Hinhören. Hinschauen.
Eine Reisegruppe ist genauso wenig wie Publikum eine diffuse, verschwimmende Masse. Bei Auftritten auf der Bühne spüre ich keine Einzelmenschen im Dunkel, denn das wäre fatal fürs Fokussieren. Ich spüre den Moment, wenn "ich sie habe", als eine Energiewelle, die zur Bühne schwappt, als Verbindung, die nicht abreißt.
Im engen Kontakt mit einer Reisegruppe unterscheide ich dagegen einzelne Menschen und bekomme sofort ein Gefühl dafür, worauf sie reagieren. Da sind diejenigen, deren Augen glücklich leuchten, wenn man sie auf eine Stufe aufmerksam macht und auf sie wartet. Andere mögen es, für ihr Wissen gelobt zu werden. Die meisten sind zufrieden, wenn sie nicht wahrgenommen werden und verschwinden können in ihren Betrachtungen, im Empfinden der Umgebung. Diese stillen Wasser bergen oft Überraschungen, wie die stille Frau, die plötzlich eine Kindheitserinnerung vom harten Leben auf dem Bauernhof beisteuert.
Und natürlich haben wir all die üblichen Rollenspielchen vor uns: Da ist der Mann, der sich sehr laut über seine ewig zu lang tratschende Ehefrau ereifert, die zu spät kommt. Wir springen der Frau bei, zeigen, dass es keineswegs an ihr lag, zeigen es liebevoll ihr gegenüber. Der Mann wird sehr still. Die typischen Oberlehrertypen kann man manchmal schlecht übergehen, aber fordern. Wir stellen ihnen Fachfragen und plötzlich blubbert es nur noch ...
Das ist es, was ich am "prallen Leben" so mag: Man bekommt ein Gefühl für seine "Pappenheimer" und weiß sie zu behandeln, ohne dass eine Gruppe auseinanderfällt, ohne dass es zum Krach kommt. Diese Menschen sollen ja ein einzigartiges Erlebnis haben und sich wohlfühlen! Ganz normales menschliches Sozialverhalten, das aber immer wieder neu eingeübt werden muss. Die alten Hasen geben mir Ratschläge, wie man mit den Schlimmsten zurecht kommt, die sicher auch mir einmal begegnen werden. Wie man ihnen sofort den Wind aus den Segeln nimmt. Und dann haben wir ja noch einen Vorteil: Wir können uns sagen, dass solche anschließend in einen Bus oder ein Auto steigen und dann weg sind. Zeit für uns für ein Schwätzchen oder einen Kaffee. Ich hatte Glück, meine erste Gruppe war hochinteressiert, liebenswert und charmant. Das Schwätzchen mit der Kollegin und dem Kollegen gab es anschließend als Sahne.
Lesetipp:
Petra van Cronenburg: Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt.
* Die Stempfeldingens hießen übrigens Stambach. Ich habe brav nachgeschaut.
Das klingt nach einer richtig erfolgreichen ersten Führung, herzlichen Glückwunsch! Und auch nach spannenden Zugängen zum Menschenleben damals wie heute. Gerade dass man Schränke öffnen und Sachen zeigen darf, stelle ich mir aufregend und sehr schön vor.
AntwortenLöschenDas begeistert die Leute am meisten, die vielen Sächelchen. Die wurden aus Nachlässen gestiftet oder von Freiwilligen in der Region gesammelt, sind also auch authentisch. Wenn wir das Mädchenzimmer betreten und die Leute sehen die handgemachte Puppenstube und das alte Spielzeug, bekommen sie immer leuchtende Augen.
AntwortenLöschen