Wimmelbilder - Wunderstücke

Das Internet beeinflusst unsere Wahrnehmung: eine Plattitüde. Dass es auch die Kunst beeinflusst, können sich die meisten ebenfalls vorstellen, denn schon frühzeitig beschäftigten sich KünstlerInnen mit den Möglichkeiten neuer Medien und Sehgewohnheiten. Ich möchte heute von einem Kunstphänomen erzählen, das im sogenannten "Kohlenstoffleben" stattfinden muss, weil es riesige Formate erreicht. Dennoch wird es inzwischen übers Internet organisiert und "lebt" dort in sehr eigener Weise. Die Künstlerinnen und Künstler sind nämlich oft ganz normale Menschen, die vielleicht nie zuvor "Kunst gemacht" haben. Und die arbeiten mit professionellen KünstlerInnen ganz selbstverständlich zusammen. Wie immer bei solch komplexen Beiträgen führen die Links auf erklärende und vertiefende Seiten oder zeigen die Bilder, die ich aus Urheberrechtsgründen nicht abbilden kann.

Names Project Aids Memorial Quilt auf der National Mall in Washington DC, 1987 gestartet, 1996 zum letzten Mal dort ausgelegt. (Foto: National Institutes of Health USA via National Park Service, public domain)

Wurzeln in der Volkskunst

Die Idee hinter solchen Kunstprojekten ist sehr einfach und war doch einmal bahnbrechend revolutionär, denn sie sprengt die Begrenzungen der Idee von Autorenschaft. Es ist nicht mehr ein einzelner Mensch, der komplett ein Kunstwerk alleine erschafft. Vielleicht kommt eine Projektidee von Einzelnen, Einzelne sammeln womöglich die Teile und montieren sie, vielleicht beruht das Projekt aber auch nur auf Zufall. Eines ist immer gegeben: Hier erschaffen viele Menschen gemeinsam ein Werk aus vielen kleinen Einzelwerken.

Und deshalb möchte ich einfach frech vermuten, dass die Ursprünge solcher Projekte vielleicht in der Textilkunst liegen, im Quilting mit Patchworks. Wenn mehrere Frauen an einem Patchwork-Quilt arbeiteten, verbanden sich die Einzelgeschichten, die jede von ihnen dabei zu erzählen hatte, zu einem großen Ganzen. Eines der Beispiele, das sich weltweit tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben hat, ist der

Memorial Quilt 

aus den USA (s. Foto). Die Website gibt es heute noch hier. Die Geschichte und Planung ist eine hochpolitische: Der Gay Right Aktivist Cleve Jones suchte nach einem Ausdrucksmittel, um Aidsopfer nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Für einen Protestmarsch 1985 schrieben die Aktivisten die Namen auf Plakate und kamen auf die Idee, dass dies wie ein Patchwork aussah. Warum also nicht tatsächlich so etwas wie ein riesiges Patchwork erschaffen? So gründeten einige um Jones 1987 die NAMES Project Foundation. Das Echo aus der Bevölkerung, die Teile einsandte, war überwältigend, 1920 Stücke kamen im Anfangsjahr zusammen, für eine Flache größer als ein Fußballfeld. Die Bilder gingen um die Erde - und spätestens seitdem sind solche Werke nicht einfach nur Volkskunst, sondern Kunstaktivismus.

Wurzeln in Kinderspielen

Was die Machart betrifft, so kommt mir aber auch ein Kinderspiel in den Sinn. Zu meiner Zeit hieß das "Opa badet lustig in der Badewanne." Es war zunächst ein Schreibspiel, das nach dem Muster dieses Satzes funktionierte. Eine Gruppe sitzt im Kreis und jeder notiert an den oberen Rand eines Blatt Papiers einen Namen oder ein Subjekt. Damit die anderen nichts sehen können, knickt man das Papier um, so dass die Schrift verdeckt ist. Jetzt wird reihum getauscht und jeder notiert ein Verb in der 3. Person Einzahl. Wieder wird geknickt und es geht reihum weiter: ein Eigenschaftswort, eine Ortbestimmung. Man kann das beliebig erweitern oder variieren und es ist immer wieder lustig, wenn zum Schluss alles aufgefaltet wird und die zufallsgenerierten Sätze vorgelesen werden. Und das lange vor digitalen Schreibgeneratoren wie z.B. dem Poetron! - Natürlich lässt sich das Spiel auch zeichnen: Kopf, Hals, Oberkörper, Unterkörper, Beine, Füße. Damit es schön ineinander passt, knickt man das Blatt nur so weit um, dass man den untersten Rand von der Vorgängerzeichnung sehen kann.

Wie so etwas aussehen kann, wenn sich KünstlerInnen zum fröhlichen Monsterzeichnen treffen, zeigen die "Infinite Scroll Monsters" der Brooklyn Art Library. Hier kann man schön sehen, wie wichtig es ist, die letzten Umrisse des Vorgängers aufzunehmen.

Wurzeln in der Activist Art

Der deutsche Begriff "Kunstaktivismus" oder "Kunst und Aktivismus" ist leider etwas weiter gefasst und missverständlicher als der englische. Laut Tate Gallery ist Activist Art eine Kunstform, bei der das Hauptaugenmerk auf dem Entstehungsprozess liegt und politische oder soziale Anliegen zur Sprache kommen. Und darum sei dies auch immer Kunst, die Communities bildet und Menschen für etwas Mut macht, sie stärkt (empowering). Dafür gibt es sogar richtige Schulungen und Forschungen.

Spätestens hier fällt Leuten meines Jahrgangs ein bahnbrechendes Kunstprojekt ein, das Generationen von Feministinnen gestärkt, geprägt und auch zusammengeführt hat: 

Judy Chicago's The Dinner Party 

aus den 1970ern - heute im Brooklyn Museum zu sehen. Neben der Künstlerinnengruppe um Judy Chicago sollen über 400 Menschen an der Installation mitgearbeitet haben, die die Kunst des späten 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusste. Auch hier ging es um Erinnerungsarbeit, Storytelling und ein politisches Anliegen. Die künstlerisch gestalteten Gedecke verewigten Göttinnen und besondere Frauen, die in der damaligen Geschichtsschreibung und Lehre oft noch unterschlagen wurden.

Es gab heftige Kontroversen, die Kritik warf den Frauen nicht selten vor, Kitsch oder schlechte Kunst produziert zu haben, weil Judy Chicago technisch alte weibliche Traditionen, Volkskunst und Kunsthandwerk eingebaut hatte. Textilkunst wie Sticken, Weben und Nähen, Töpfern und Porzellanmalerei galten lange als "minderwertig". KritikerInnen propagierten, mit solch "weiblichen Techniken" lasse sich keine "echte Kunst" schaffen. Auch wenn sich das heute grundlegend geändert hat, müssen viele Künstlerinnen immer noch gegen das Image kämpfen, bestimmte Materialien hätten nichts in der hehren Kunst zu suchen. Wenn sich Kunst Anleihen in der Volkskunst oder im Kunsthandwerk holt, kann es jedoch erst richtig interessant werden.

Moderne Activist Art bezieht sich vor allem deshalb gern auf solche Materialien und Techniken, weil man damit Massen begeistern und zum Mitmachen gewinnen kann. Und deshalb ist es jetzt Zeit, nach all der grauen Theorie Beispiele zu zeigen, die mir persönlich aufgefallen sind.

Warum ich das mache? Einmal, um ein Phänomen festzuhalten, das ich weltweit beobachte und das mich ganz einfach fasziniert. Aber vielleicht gibt es auch Inspirationen oder stachelt an, selbst etwas zu versuchen, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Der Weg zur Kunst muss nicht mit hohen Schwellen gepflastert sein. Vielleicht sieht ein erstes unbeholfenes Krikelkrakel von einem Baum lächerlich aus. Was aber passiert, wenn 20 Leute ihr Krikelkrakel miteinander verbinden? Sich womöglich Geschichten dazu erzählen? Was macht das mit diesen Leuten und mit denen, die das Werk betrachten?

Die praktischen Beispiele

Bleiben wir beim Baum - und dem

Stitch a Tree Project (Website / FB-Seite)

Das Projekt ist noch in Arbeit und wird im September in der Witworth Art Gallery Manchester ausgestellt werden.
Dahinter steckt die Malerin und Textilkünstlerin Alice Kettle, die auch als Professorin lehrt und oft Kooperationen zwischen KünstlerInnen initiiert. So loteten sie und andere KünstlerInnen 2012/13 im Projekt Material Responses alte Materialien aus der Baumwollverarbeitung und unterschiedliche Kunstformen gemeinsam aus - in Indien und Großbritannien. "The common language is a line of cotton and the lineage of making", schreibt sie dazu - dieser rote Faden der Kunstinstallationen wird sie so schnell nicht verlassen. Gesticktes, Muster, von Hand oder digital, erzählen Geschichten zwischen zwei Ländern und einer Industrie. Die Fäden, die sie um die Welt spinnt, bringt Alice Kettle auch in einem anderen Projekt: Thread Bearing Witness dreht sich um Migration. Jetzt wird die politische Komponente deutlicher: Das Werk soll nicht nur Solidarität mit Geflüchteten zeigen und diese in die Arbeit einbeziehen, diesmal wird damit auch Geld für sie gesammelt. Hier die eigene Website dafür.

"Stitch a Tree Project" ist ein Beispiel, wie man es im kleinen Bastelkreis als Inspiration nutzen kann, aber auch als Vorbild für größere Aktivismuskunst.
Möglichst viele Menschen sticken einen Baum - das Ganze wird dann zum "Forest", dem Wald, zusammengesetzt. Der Überschuss an Spenden und die Versteigerung des Kunstwerks kommen Flüchtenden zugute. Das funktioniert ganz einfach - jeder konnte ein Päckchen mit dem Material bestellen oder eigenes verwenden, es muss auf Baumwolle im Format 12 x 12 cm in Grün und Braun gestickt werden. Dazu durfte man ein paar Worte zum eigenen Baum schreiben. Auch Frauen in Flüchtlingscamps haben sich beteiligt. Die ersten Bilder gibt es hier.

Da ist er also wieder, der sprichwörtliche Faden, der uns Menschen weltweit verbindet, und diesmal der Baum, ohne den die Menschheit nicht überleben kann, der in jedem andere Bilder, Träume und Geschichten wachruft. Hinter jedem Baum steht ein Mensch und im Wald finden sie alle zusammen.

A Polaroid for a Refugee

ging durch die Medien der Welt und wurde leider fast allzu schnell wieder vergessen. Die Fotografin Giovanna del Sarto hatte genug davon, dass Flüchtende in Medien und Politik nur noch als Zahl oder gesichtslose Masse vorkamen. Also zog sie aus, um Polaroids von solchen Menschen zu schießen, wobei der gesamte Profit Einrichtungen zugute kommt, in denen sie selbst in der Flüchtlingshilfe mitgearbeitet hat. Es war ein Projekt des Gebens und Nehmens: Jeder Mensch, der sich von ihr fotografieren ließ, bekam ein Polaroid von sich mit der Aufschrift: "Wherever your destination may be – tell me when you feel you have reached a safe place." Die Fotografin sagt dazu selbst: "This is a message of hope, which, sadly, for some may never be fulfilled."
Ein großes Feature mit vielen Fotos gibt es hier. Kollaborativ war hier allerdings lediglich, dass die Flüchtenden als Fotografierte mitmachten. Das musste auch anders gehen, dachte sich der Hamburger Fotograf Kevin Mc Elvaney und verteilte Kameras für:

#RefugeeCameras

Dem Fotografen war aufgefallen, dass Flüchtende nur wenig Fotos auf ihren Handys hatten, diese eher für die oft überlebenswichtige Kommunikation und die obligaten Selfies für Zuhause nutzten. So beschloss er, Einwegkameras mit frankiertem Rückumschlag zu verschenken. Wie würden Bilder einer Flucht aussehen, die Betroffene und nicht Berufsfotografen schossen? Fotos gibt es hier und hier (vor allem am Artikelende) und hier.

Guerilla Girls

Die Guerilla Girls, die es seit 1985 gibt, sind allesamt Profikünstlerinnen, die in Sachen feministischer Activist Art unterwegs sind. Bei ihnen ist es die Anonymität, die das kollaborative Element hereinbringt, denn sie treten nur schwarz gekleidet und mit Gorillamaske auf. So sollen neben dem siebenköpfigen Gründungsteam inzwischen 55 Mitglieder weltweit mitgemacht haben. Es gibt künstlerische Attacken und Inszenierungen im Kulturbetrieb, viel Street Art, aber auch Poster, Sticker, Videos. Hier kann man die Projekte durchblättern.

Infinite Sketch

von der Brooklyn Art Library erinnert ein wenig an die Thematik globaler Verbindungen, ist jedoch eher ein unpolitisches Spaß-Kunst-Projekt und finanziert die Sketchbook-Bibliothek. Man plant ein fertiges Kunstwerk, das "zwei Fußballfelder lang" werden und im Spätherbst in New York ausgestellt werden soll.

Hier spielt der Zufall eine Rolle, der zum Thema "Cosmos and Connections" passen soll. Alle TeilnehmerInnen bekommen eine genormte Karte und fünf zufällige "Instrumente" wie z.B. Bleistift, Kugelschreiber, Farben. Damit dürfen sie dann nach Lust und Laune loslegen - ein ebenfalls zufällig zugewiesenes Wort muss jedoch Thema sein. Hier steckt das Feeling im Vordergrund: Man ist Teil einer Community von Menschen rund um den Globus, man lässt die Fantasie zum Zufall spielen und erlebt dann ein atemberaubend großes Etwas in einer der Metropolen der Welt. "Ich bin ein Teil von etwas Größerem" als Botschaft in einer zerrissenen Welt.

The Puzzle Art Installation

geht in eine ähnliche Richtung. Hier ist der Künstler Tim Kelly seit etwa 2013 Initiator. Man kann von ihm große Puzzleteile erwerben und künstlerisch völlig frei gestalten, auch von der Technik her. Einzige Vorgabe: Man müsse etwas zu sagen haben. Auch hier steht im Vordergrund, dass sich die Einzelnen als Teil eines Ganzen fühlen, miteinander an etwas arbeiten, auch in Gruppen im echten Leben. Es gibt außerdem kleinere Ableger und auf Reisen geht das Werk ebenfalls - dafür sorgt dann der Künstler, der eigentlich nur noch Sammler und Kurator ist. Ich könnte wetten, die Coaches dieser Welt haben bereits Ähnliches in ihrem Programm ...

Serielle Darstellungen mit Kindern / Laien

sind natürlich ein wichtiger Bestandteil kollaborativer Kunst. Solche kleineren Werke entstehen oft in Schulen oder im Zusammenhang mit Workshops. SchülerInnen gestalten unter Anleitung von KünstlerInnen vielleicht eine Wand, ein Mosaik oder ein Riesenbild für den Klassenraum. Wie das so ist, wenn viele Köche an einem Brei herumkochen, gibt es am wenigsten Probleme beim Genormten, Wiederholten, das sich zum Schluss leicht zusammensetzen lässt. Das können kleine Origamiteilchen sein oder man trägt Materialien für eine Assemblage zusammen, Bildchen in Normgröße werden gemalt oder kleine Kacheln später zu einem Mosaik gefliest. Und natürlich lassen sich solche Werke für einen guten Zweck oder den Schulausflug auch versteigern. Und es macht Spaß, weil Instagram in seinen Trends wie geschaffen ist für Serie und Wiederholung. So gerät das Kunstwerk auch ins Netz.

Manchmal entstehen aus solcher Zusammenarbeit sogar Vereine wie der New Yorker Verein More Art, der KünstlerInnen, Communities und öffentliche wie schulische Programme miteinander vernetzt, wenn es ums Thema soziale Gerechtigkeit geht. Kunst wird hier zur Partizipation und KünstlerInnen finanzieren sich nicht selten einen Teil ihres Lebensunterhalts mit solchen öffentlichen Projekten.

Fulton Market Street Art

war 2016 ein Street Art Projekt in New York, bei dem sich ebenfalls BürgerInnen austoben konnten, bevor die Abrissbirne kam. Doodles auf weißer Fläche waren auf den Abrisshäusern vorgemalt und jeder konnte sie nach Belieben ausmalen. Ein Kurzzeitspaß, der vielleicht manchem Lust aufs Malen machte, der niederschwellig an Street Art heranführte und obendrein wahrscheinlich als PR für den geplanten Abriss funktionierte. Die Grenzen von Vorhaben kollaborativer Kunst zu reiner Eventinszenierung sind nämlich fließend.

Anmerkung:
Ich hätte zu gern mehr deutschsprachige Projekte gezeigt. Da ich nicht mehrere Tage für Recherche aufbringen kann, musste ich mich auf Google verlassen und bekam vielleicht keine gute Auswahl. In deutscher Sprache landete ich fast immer in der Kunstpädagogik, bei Schul- und Bastelprojekten, schlauen Definitionen oder Berichten über amerikanische Projekte. Deshalb bin ich dann ganz stur bei meiner überaus subjektiven, punktuellen Auswahl geblieben.

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