Wieviel spielen darf der Mensch?

Eben habe ich bei Facebook erzählt, dass ich mir als Kind das Universum als etwas Neugieriges vorstellte. Es war eine Art Wesenheit für mich, die unendlich neugierig war, unendlich viel spielte ... und lachte. Humor musste es nämlich auch haben, wenn es das tat. Im Erwachsenenalter haben wir uns das Spielen oft abgewöhnt. Ich kenne einen, der hat noch nie mit seinen Kindern gespielt, weil er gar nicht weiß, wie das gehen könnte. In der Kunst geschieht das Spielen oft mit dem Rücken zur Wand und die inneren Zensoren quasseln einem die Ohren voll: Du verdienst nichts in der Zeit! Du musst dringend einen Zwischenjob suchen, um deine Rechnungen zu bezahlen! Und wenn nichts "Verwertbares" dabei herauskommt?

Und wenn das Universum einfach nur spielt?



Das ist das Wundervolle am Spielen. Es muss nichts dabei herauskommen. Der Vorgang ist nicht zielgerichtet, sondern wild und chaotisch. Wir dürfen uns beim Spielen selbst vergessen und manchmal die ganze Welt dazu. Freies Spielen ist eine zutiefst antikapitalistische Aktion: Wir hören auf zu berechnen und messen Wert nicht mehr am Nutzwert.

Natürlich gibt es Spiele mit Regeln. Die müssen Erwachsene erfunden haben, um sich rituell abzureagieren, wenn einer ihnen den Hut fing oder der Mensch sich ärgerte, wenn der Müller seine Mühle nicht zusammenbekam oder einem das Leben in Tausende Puzzleteile zersplitterte. Selbst bei solchen Spielen lässt sich die Welt für eine Weile vergessen - nicht umsonst üben Computerspiele mit immer verzwickteren Regeln einen solchen Sog aus. Aber da ist ein Unterschied zum freien Spielen: Diese Regeln sind mit einem Belohnungssystem gekoppelt, das wiederum nur nach Regeln funktioniert, die sich Fremde für uns ausgedacht haben. Mit denen Fremde unsere Emotionen lenken. Wer auf dem siebten Level den Honigtopf oder das Schwert noch nicht gefunden hat, der ist ein Versager und muss zurück zum Anfang. Wer seinen Avatar nicht nach relativ festen Schubladen aufpeppt, der spielt nicht mehr an vorderster Linie. Da ist er wieder: der Nutzwert, der Wert der Spielfiguren und Spieler, die manchmal nichts anderes spielen als sich zu bereichern oder anderes auszulöschen.

Wie viel Freiheit nehmen wir uns beim Spielen? Das Universum, das ich mir als Kind vorgestellt habe, war wild und frei. Es hätte beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht mittendrin alle Figuren vom Spielfeld gefegt und laut gekichert, um dann frech einen Mühlestein ins Ziel zu setzen. Wahrscheinlich hätte es sogar den Spielplan umgemalt oder ihn in einem Schwarzen Loch verschwinden lassen.

Im Atelier geschieht mir dieser Zustand zu Unzeiten. Nicht, wenn Rechnungen bezahlt sind oder der Zeitzensor schweigt, weil Sonntag ist. Dieser Zustand nimmt keine Rücksicht auf den inneren Buchhalter und auch nicht auf das schlechte Gewissen, das aufrechnet, wieviel man in einem "ordentlichen" Job in genau dieser Zeit verdienen könnte. Müsste, könnte, hätte, würde, dürfte ... als ob das Leben im Konjunktiv durchkonjugiert würde! Unzeit - wenn die Zeit keinen Zeitwert mehr hat. Der Spieltrieb fragt nicht, er überfällt mich, lässt mich mich selbst vergessen und die Welt außenherum dazu. Er packt mich, wenn ich durchlässig werde und innehalte. Wenn ich meinen Wahrnehmungen wieder traue, weil sie in der Stille vor der Welt wachsen können.

Oft fängt es damit an, dass ich einfach nur schaue und herumfühle. Farben regelrecht aufsauge, bis ich sie fast streicheln kann. Mein Atelier ist ein klitzekleines Universum: allein die unterschiedlichen Materialien und wie sie sich anfühlen! Glatt und kalt, samtig und warm, stichelig und seidenweich, metallhart und klebrig, nass und trocken ...

Da liegen Papiergarnreste, Müll, den ich noch nicht entsorgt habe, abgeschnittene Fitzelchen aus der Produktion. Schon spielen meine Finger damit, während ich vor mich hinträume, die Farben beobachte. Eigentlich sieht der Müll sehr hübsch aus, wenn man ihn durcheinanderbringt. Meine Finger wuscheln hindurch, richten Chaos an - und Schönheit. Sie erinnern sich beim Fühlen der recht stabilen Fäden an ein extrem anderes Gefühl - eine sehr luftige, leichte Sanftheit, die bei jeder Berührung zu zerreißen droht. Ich denke an ein handgeschöpftes Maulbeerbaumpapier, das sich fast wie leichtes Vlies anfühlt. Teilweise ist es fast durchsichtig. Von Hand eingelegt ins Papier sind da weiße und schwarze Faserspiralen ... wieder das Universum als Bild in mir und die Geschichten dahinter. Jemand hat die Maulbeerbaumtriebe von Hand bearbeitet, von Hand diese Fasern gespalten, gerissen, gefärbt. Den Hauch von Papier geschöpft, gerüttelt und wieder geschöpft, die Fasern drapiert, die Papiere an Luft und Sonne getrocknet. Sie haben den Himmel gesehen.

Und nun halte ich sie in der Hand, die luftigen Spiralen, und das Kind in mir möchte das Chaos aufstreuen - und ich habe Spaß an den winzigen, gebogenen Mikadostäbchen aus Papier. Ob sich so ein Kleinstuniversum "eintüten" lässt? Ich schmiere und klebe und kämpfe mit der Tücke des Objekts. Der Leim ist mein Schwarzes Loch, reißt mir das Papier kaputt, nässt es in Fetzen. Wenn das Universum ein Ballon ist, dann klebt das meine mir jetzt an den Fingern, weil ich zu wild gespielt habe. Aber es entstehen ja ständig neue Galaxien und so wiederhole ich den Versuch in Nuancen, immer wieder, bis eine Form entsteht. Die Chaostüte mit dem Bunt im Bauch.

Die Chaostüte mit dem Bunt im Bauch


Manche Fäden sind frech, wollen sich nicht eintüten lassen. Sie brauchen Luft, wollen in die Welt blicken und angefasst werden. Wer bin ich, es ihnen zu verbieten? Sollen sie vorwitzig Kontakt mit dem Außen halten und denen im wolligen Drinnen davon erzählen! Aber wollig ist das schon nicht mehr, es härtet aus. Ein Fadenkokon ist entstanden. Was er wohl eines Tages gebären wird?

Wasser mag er gar nicht, also muss ich lackieren. Ideal ist der Lack, den ich für Schmuck verwende, in diesem Fall nicht. Wieder sträubt sich das Maulbeerbaumpapier, wird an den Rändern brüchig. Aber es geschieht ein kleines Wunder: Die Umhüllung gibt jetzt den Blick frei, wird durchsichtig. Fasziniert spiele ich mit den getrockneten Objekten, vergesse mich und die Zeit und bin irgendwann zu müde zum Spielen. Am nächsten Tag muss ich den Tisch zum Arbeiten frei räumen. Die Kokons müssen derweil schlummern, der Alltag ruft.

Aber die Sache lässt mir keine Ruhe. Immer wieder träume ich von den Farben oder grüble, wie ich trotz all der Behandlung etwas von diesem Gefühl in den Fingern bewahren könnte. Papierperlen sind hübsch, wenn sie glänzen. Aber Maulbeerbaumpapier, diese Preziose, hat von Natur aus eine Oberfläche wie ein feines Stoffgespinst. Wie kann ich meinen Kokon wirklich Kokon bleiben lassen?

Das ist der Moment, in dem die Schöpferin mit dem Ding arbeitet, das auch spiralig gewunden aussieht und wie ein Netz, in dem Neuronen Sternenregen funkeln lassen: dem Hirn. Ich recherchiere alles über Lacke, was ich noch nicht weiß, suche Produkte, die es früher nicht gab, lese technische Blätter. Plötzlich habe ich es, es klingt jedenfalls danach. Ein gift- und lösungsmittelfreier Speziallack, der laut Werbung matter als matt sein soll. Eine Woche später steht er auf meinem Tisch und sehr aufgeregt tauche ich den Pinsel ein.

Zuerst sieht es aus wie ein Unfall. Milchig wird mein Papier, plötzlich wieder wabbelig ... ob es jetzt reißt? Ich lasse das Teilchen alleine, wage keinen Handgriff mehr. Und als es trocken ist, erlebe ich das Wunder: streichelweich. Natürlich kann es nie exakt so sein wie das unbehandelte Papier, aber das fühlt sich wirklich an, als fahre man mit der Hand über einen edlen, glatten Zeichenkarton! Das ist es!

Ich bekomme unbändige Lust zu murmeln ...


Aus meinem Spiel ist Ernst geworden. Zwei Teilchen werden zu Prototypen ernannt. Ich versuche, mich an die Arbeitsschritte zu erinnern und sie genau aufzuschreiben - zu schnell vergisst man wilde Spiele. Die inneren Zensoren bekommen Heftpflaster aufs Maul. Natürlich sieht das unmöglich und kindisch aus. Das darf es, das muss es, schließlich ist das alles nur ein Spiel! Ich bekomme Lust zu murmeln. Irgendwo waren diese murmelartigen Glasperlen in Schwarz und Durchsichtig, mit dem Gold- und dem Silberplättchen innen. Sie passen perfekt, spiegeln die Faserspiralen und geben dem Kokon die nötige Schwere. Die braucht er, sonst fliegt einem der Schmetterling am Hals davon ...

Noch sind die Prototypen nicht zu Entwurfszeichnungen geworden, die Formen, Größen und Kombinationen optimieren. Aber nach wildem Spielen bin ich ganz heiß darauf und sehe schon wieder neue Assoziationen zu Formen gerinnen: Ich muss es schaffen, das Maulbeerbaumpapier wirklich in eine Kokonform zu bringen. Flache Anhänger sind hübsch, aber so ein Kokon um den Hals, der das Chaos gebiert? Heureka!

Ein Spruch, der meine Arbeit schon so lange begleitet - er ist aus Nietzsches "Und also sprach Zarathustra":
Ich sage Euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: Ihr habt noch Chaos in euch.

Meine Farbchaos-Kokons werden in der nächsten Zeit entstehen und sie werden sich ihre ganz eigene Zeit nehmen, die sie brauchen. Nicht die, die ich ihnen "vernünftig" zugestehen würde. Kunst fragt nicht, ob Rechnungen bezahlt sind oder irgendein "Zeitwert" verplempert wird, sie muss nach draußen wie der Atem. Damit fing Schöpfung auch im Mythos an: mit dem Geist, der über den Wassern schwebte und der vom Wort her auch der Windhauch ist und der Atem. Was ist freies Spielen anderes, als sich in den Windhauch zu schmiegen und einfach nur zu atmen: ein und aus und ein und aus ... ? Neugier aus und Begeisterung ein, die Sinne nach außen und die Eindrücke nach innen. Kunst ist für mich Atmen - ich kann ohne das eine und das andere nicht sein.

Aber zum Spielen braucht es eigentlich keine Kunst. Das dürfen wir auch als Erwachsene jederzeit. Wir dürfen selbst die Figuren vom Halmabrett fegen und frech lachen - wir müssen es nur endlich einmal tun. Wir dürfen Sandburgen in kosmischen Regengüssen zermatschen und mit nackten Füßen in Schlammlöchern herumtrampeln. Warum gönnen wir uns dieses "Aus" nicht öfter? Wir wissen nicht mehr, wie es geht? Das ist das kleinste Problem - Kinder können uns lehren. Und vielleicht inspirieren uns einfach auch nur die Scherze, die sich das Universum so leistet?

Der Anfang mit dem Ein- und dem Ausatmen und der Faszination, der ist in diesen Sommernächten recht einfach. Man muss sich nur flach unter den Himmel legen in einer klaren Nacht. Mit den Augen spazierengehen zwischen den Sternen und fliegen ... immer weiter fliegen. Irgendwann sind wir dann außen ganz klein und innen ganz groß.

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